Vor kurzem entschloss sich der türkische Staatspräsident Erdogan die Hagia Sophia, einst der bedeutendste Sakralbau der Ostkirche, dann ab 1453 eine Moschee und schließlich seit 1935 ein Museum wieder als Moschee nutzen zu lassen. In Europa wurde das zunächst einmal nur als Gefahr für ein Kulturdenkmal gesehen, denn die christlichen Mosaiken des Gebäudes müssen jetzt natürlich abgedeckt werden und sind für Besucher daher nicht mehr sichtbar, ihre Zerstörung oder zumindest Beschädigung durch die türkischen Behörden oder fanatische Feinde des Christentums unter den Gläubigen ist zumindest vorstellbar.
Aber hinter der Entscheidung, mit großem Getöse in der früheren Kirche, einst eine der wichtigsten der gesamten Christenheit, muslimische Gottesdienste abzuhalten, stehen politische Ambitionen, die weit über eine Selbstinszenierung des Präsidenten als frommer Gläubiger hinausgehen, dahinter steht ein politisches Programm, das des Neo-Osmanismus. Unter Kemal Atatürk definierte sich die Türkei nach europäischem Vorbild als homogener Nationalstaat, ein Nationalstaat freilich, der sich wie viele andere durch seine Intoleranz gegenüber Minderheiten auszeichnete, unabhängig davon, ob es nun christliche Griechen und Armenier oder muslimische Kurden waren, aber doch ein Nationalstaat mit klar definierten Grenzen. Das ist nicht die Vision, die Erdogan inspiriert; er sieht sich ganz offensichtlich in der Nachfolge der osmanischen Sultane, die ein wahres Weltreich mit vage definierten Grenzzonen regierten, ein Reich, das vom Jemen bis nach Ungarn und von Algier bis zur Krim reichte, wenn man die Vasallenstaaten einrechnet.
Erdogan will offenbar aus dem Nationalstaat Türkei den Kern eines neuen Imperiums machen. Er übersieht dabei natürlich, dass das einstige Großreich des Hauses Osman lange Zeit von administrativen und militärischen Eliten regiert wurde, die gar so türkisch nicht, sondern eher albanischer, bosnischer oder sonstiger Herkunft waren, was übrigens auch für die Sultane der Zeit nach 1500 galt, da ihre Mütter in der Regel nicht-türkischen, sondern z. B. ukrainischen, tscherkessischen, italienischen oder polnischen Ursprungs waren. Aber das kümmert ihn nicht, die Geschichte des Osmanischen Reiches wird willkürlich im nationalen Sinn uminterpretiert.
Damit ist ein klarer imperialer Anspruch verbunden, der vor allem die Nachbarländer der Türkei bedroht, denn die nach 1918 festgelegten Grenzen werden nun ganz offen in Frage gestellt. Nicht nur Nordsyrien soll dauerhaft zur türkischen Einflusszone werden, auch etliche griechische Inseln und das sie umgebende Seegebiet beansprucht Erdogan und mittelfristig auch Teile des nördlichen Irak, wie offiziöse Landkarten erkennen lassen.
Aber die Einzelheiten müssen uns hier nicht interessieren. Entscheidend ist, das Erdogan das Modell Nationalstaat ersetzen will durch ein anderes Modell politischer Ordnung, durch das Modell Imperium, und zwar eines Imperiums, das eine ganz spezifische religiöse und kulturelle Mission hat, das auftritt als Vorkämpfer einer religiösen Kultur, des Islam, mit universalem Geltungsanspruch. Dass dieser Anspruch mutmaßlich auch von vielen Muslimen, soweit sie Araber sind, für die sich mit dem Osmanische Reich eher ungute Erinnerungen verbinden, abgelehnt wird, steht auf einem anderen Blatt, ebenso wie die Tatsache, dass viele säkular gesinnte Türken sich in dieser Vision nicht wiedererkennen. Aber auch, wenn Erdogan seine imperialen Ansprüche, die freilich durch die Rückratlosigkeit der meisten europäischen Politiker ermutigt werden, nur sehr partiell wird durchsetzen können, so hat seine Politik doch symptomatischen Charakter. Wir scheinen generell in einer Epoche zu leben, die durch die Renaissance imperialer Ordnungsentwürfe geprägt ist.
China als Modell des Imperiums mit kultureller Mission
Ein englischer Journalist und Politikwissenschaftler, Aris Roussinos, hat dieses Thema vor kurzem auf dem Blog Unherd thematisiert, unter dem Titel„The irresistible rise of the civilisation-state“, und dabei auch Argumente von Christopher Coker, eines Experten für internationale Beziehungen, der in London lehrt, und seines 2019 erschienenen Buches, „The Rise of the Civilizational State“ aufgenommen. Mit „civilisation/civilizationel State“ meinen Coker und Roussinos eigentlich Imperien, die den Anspruch erheben, für eine Kultur mit universalem Geltungsanspruch zu sprechen.
Das klassische Beispiel dafür in der heutigen Welt ist China. China war immer sehr viel mehr als eine Nation, es war Heimat einer umfassenden Kultur mit sehr spezifischen Werten und eigenen normativen Lebensentwürfen mit Wurzeln in einer Geschichte, die bis vor die Zeitenwende zurückreicht. In dieser Tradition sehen sich auch die heutigen Herrscher Chinas. Sie leiten aus ihr ein Selbstbewusstsein ab, das es ihnen erlaubt, die westliche Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten radikal zurückzuweisen. Die chinesische Führung verfolgt kaum das Ziel, die ganze Welt chinesisch werden zu lassen, dazu sind auch aus chinesischer Sicht die anderen Völker dieser Welt zu barbarisch, und daher nur schwer zivilisierbar, aber überlegen fühlt man sich dem Rest der Welt schon, und daraus resultiert ein klarer Anspruch auf eine hegemoniale, eben imperiale Stellung in einer globalen Ordnung.
Auf andere Weise verfolgt auch Russland unter Putin eine imperiale Politik, die weit über die Verteidigung nationalstaatlicher Interessen hinausgeht. Putin inszeniert Russland als eine Macht, die einen Gegenentwurf zum „dekadenten“ Westen bietet; antiliberal und mit einem deutlichem Bezug auf die christliche Tradition der orthodoxen Kirche, der sich aber auf bizarre Weise mit dem Anti-Individualismus und Kollektivismus der kommunistischen Ära verbinden soll. Mehr als das anti-westliche chinesische Ordnungsmodell ist Putins imperiale Vision extrem widersprüchlich und leidet auch darunter, dass Russland wirtschaftlich eher schwach, mehr Zwerg als Riese ist, aber ernst zu nehmen ist Putins imperiale Politik wohl dennoch, schon deshalb, weil Russland weiterhin Atommacht ist.
Soll auch die EU ein Imperium werden, und was impliziert das?
Wenn wir wirklich eine Renaissance imperialer Ordnungsentwürfe erleben, hinter denen die Vorstellung von Großraumordnungen steht, die weit über die Grenzen eines klassischen Nationalstaates hinausgehen, dann stellt sich natürlich die Frage, wie sich Europa zu solchen Ordnungsentwürfen verhält, eine Frage, die auch Roussinos anspricht. Zunehmend gibt es in Europa Stimmen, die fordern, dass auch die EU zu einem Imperium, zu einem eigenen „civilisational state“ werden müsse, um sich in der Konkurrenz mit China und anderen imperialen Mächten, zu denen auch die USA gehören, zu behaupten. Namentlich französische Politiker werden nicht müde, dieses Argument zu wiederholen. Zu ihnen gehören der französische Finanzminister Bruno Le Maire ebenso wie der Staatspräsident Macron (siehe seine Rede an die französischen Diplomaten vom 27. August 2019).
Während Le Maire sich dazu bekannt hat, dass Europa, um in der globalen Konkurrenz zu bestehen, selber ein „friedliches“ Imperium werden müsse, will Macron dem universalen Geltungsanspruch Chinas und anderer Mächte eine eigene europäische kulturelle Ordnungsvision entgegensetzen, eine Vision, die ihre Wurzeln in der Renaissance, im Humanismus – im Sinne eines Bekenntnisses zum überragenden Wert des autonomen Individuums – und in der Aufklärung findet.
Macrons Vision von der EU als Imperium mit kultureller Mission ist allerdings in vieler Hinsicht problematisch. Zum einen sollen in diesem neuen Imperium die Steuerzahler jenseits des Rheins offenbar dieselbe Rolle übernehmen, die deutsche Soldaten in Napoleons Grande Armée im Russlandfeldzug von 1812 spielten. Sie sind eine Art fiskalisches Kanonenfutter, deren Aufopferung im Dienst einer höheren Idee die Umsetzung der großartigen Pläne für die Zukunft erst ermöglichen soll. Zwar gibt es gegen diese Ideen Macrons in Deutschland kaum mehr irgendeinen nennenswerten Widerstand, aber so wie 1812 Zehntausende deutscher Soldaten nicht ausreichten, um den Sieg Napoleons über Russland zu sichern, so mag auch Macron heute die Wirtschaftskraft Deutschlands deutlich überschätzen.
In einer radikal entzauberten, durchrationalisierten Welt, für die es grundsätzlich keine historisch begründeten Normen oder Autoritäten gibt, ist für konkrete, unverwechselbare, weil kulturspezifische Werte, die durch die gemeinsame Geschichte Europas legitimiert werden, kaum noch ein Platz. Als gemeinsamer Nenner bleibt nur das Bekenntnis zu Diversität und prinzipieller „Offenheit“ – auch gegenüber fremden Kulturen – sowie zu demokratischen Verfahren als Instrument der Beilegung von Konflikten. Gerade diese Verfahren werden freilich durch den Versuch, ein Imperium an die Stelle konventioneller Nationalstaaten zu setzen, deutlich in ihrer Legitimationskraft geschwächt, denn imperiale Ordnungen können erfahrungsgemäß nicht wirklich demokratisch sein. Hier stehen sich am Ende immer imperiale Eliten und die bevormundeten Untertanen in den Provinzen gegenüber. Wahlen erhalten dabei allzu schnell den Charakter eines bloßen Rituals, was für die Wahlen zum Europaparlament sicher gilt.
Dass die neuen „Kultur-Imperien“, die einerseits an den Rändern Europas im Entstehen begriffen sind und sich andererseits in Gestalt Chinas und vielleicht auch Indiens in Asien schon etabliert haben, für Europa eine Herausforderung darstellen, ist kaum zu bezweifeln, obwohl Putin und Erdogan eigentlich schwache charismatische Führer sind, die davon leben, ihr Blatt ständig zu überreizen.
Aber ist die richtige Antwort darauf wirklich, diesen Ordnungsvisionen ein eigenes europäisches Imperium entgegenzusetzen, wie die politischen Eliten Frankreichs, die Macron unterstützen, und ihre Verbündeten und Klienten in Deutschland dies offenbar glauben? Wäre nicht die vernünftige Antwort auf solche konkurrierende Imperien ein funktionsfähiger Bund von Nationalstaaten gewesen? Allerdings hat man diesen Weg durch die Schaffung des Euro als gemeinsamer Währung verlassen, und durch das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU ist er jetzt endgültig versperrt.
Für die nächsten beiden Jahrzehnte wird sich die imperiale Vision Frankreichs als Hegemonialmacht der EU durchsetzen. Frankreich besitzt den Vorteil, dass es seine Geschichte als Nationalstaat immer schon, oder zumindest seit 1789, als Grundlage einer zivilisatorischen Mission gesehen hat. Die Aufgabe Frankreichs ist es, davon waren die Eliten des Landes immer schon überzeugt, dem eher rückständigen Rest der Welt, oder zumindest dem Rest Europas die Menschenrechte und eine republikanische Kultur nahezubringen, die dann freilich sehr spezifisch französisch gefärbt ist.
Ist es wirklich das Bekenntnis zu voraussetzungslosen Menschenrechten in einer kosmopolitischen Welt statt zu den Rechten und Pflichten des Bürgers einer konkreten politischen Gemeinschaft, oder ist es eher die Verteidigung bestimmter europäischer Überlieferungen wie des antiken Erbes oder des christlichen Wertekosmos, wie man vor allem in Ostmitteleuropa, aber auch in relevanten Teilen der Öffentlichkeit in Ländern wie Italien, Spanien oder vielleicht sogar den Niederlanden glaubt?
Ein solcher Kulturkampf um die eigene Identität kann leicht zu einer Auseinandersetzung werden, in der sich nicht mehr Gegner, sondern unversöhnliche Feinde gegenüberstehen, namentlich dann, wenn im Namen einer radikalen Kritik an der europäischen Tradition und einer Besessenheit von der eigenen historischen Schuld alle Spuren der Vergangenheit, die den Wertvorstellungen der Gegenwart nicht mehr zu entsprechen scheinen, in einem großen Bildersturm aus dem öffentlichen Raum, aber auch aus der Sprache beseitigt werden sollen, wie das mittlerweile durchaus verlangt wird.
Solche Kämpfe hätte man sich vielleicht ersparen können, wenn man am gezähmten Nationalstaat der Nachkriegsjahrzehnte festgehalten hätte, der harte ideologische Auseinandersetzungen zwischen Links und Rechts auch deshalb zu ertragen vermochte, weil sie innerhalb des Rahmens einer gemeinsamen, aber vielschichtigen nationalen Kultur ausgetragen wurden, die gelernt hatte, mit ihren Spannungen und Widersprüchen zu leben. Aber diesen Weg hat man verlassen, und jetzt müssen wir uns auf dem Kontinent wohl auf das Experiment einlassen, ein europäisches Imperium als „civilizational state“ zu schaffen, auch wenn das Scheitern dieses Experiments eigentlich schon jetzt absehbar ist.