Eigentlich kommt er ja so richtig sympathisch „rüber“, und wählbar ist er bis weit ins bürgerliche Lager hinein: Baden-Württembergs seit 2011 amtierender grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann (73). Ja, was er nicht alles ist: Landesvater, Realo, bekennender Katholik, liebevoller Großvater, Dieselfahrer, Merkel- und Söder-Freund, eigentlich – wäre er eine Frau – die Idealbesetzung für das Amt des Bundespräsidenten.
Stimmt das alles? Hat sich der vormalige Maoist und von 1973 bis 1975 Aktivist in der Hochschulgruppe des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) wirklich und typisch deutsch zum biederen Spießbürger gewandelt? Nein, hat er nicht. Jetzt hat er einen Blick in sein viele Jahre als überwunden geglaubtes, aber doch erstaunlich lebendiges links-repressives Weltbild gewährt.
Wem gewährt Kretschmann diese Einblicke? Natürlich dem realen Amts- und Verlautbarungsblatt für links-grünes Denken: der tageszeitung (taz). Als „liberaler grüner Politiker“ wird er dort brav vorgestellt, und zwar zum Ausklang des Jahres 2021 anlässlich eines langen, langen taz-Interviews: über 16.000 Zeichen lang, in einem Buch wären das fast zehn Druckseiten. Über Kant und über den „Schwaben Hegel“ darf er dort räsonieren. Verstört darf er sich dort geben über den Rechtspopulismus mit Donald Trump an der Spitze, über die AfD und deren „Kohorten“. Dass seine Frau nach anfänglichen Bedenken wegen der Reichweite jetzt ebenfalls E-Auto fährt; dass er mit seinem alten Diesel Sand für den Sandkasten seiner Enkel holte: Nichts wird für die Imagepflege ausgelassen.
Aber der Kern des Interviews ist ein anderer: Kretschmann will, das zu betonen ist der „taz“ bereits einleitend wichtig, „Freiheit, Vernunft und Pflicht neu justieren“. Warum will er das? Wegen der Pandemie und des Klimawandels. Wäre ja auch noch schöner, wenn man Corona und Klimawandel nicht als Trittbrett für die Umsetzung alter Träume nutzen könnte.
So, nun ist die Katze aus dem Sack. Ein allmächtiger Staat weiß, was richtig und notwendig ist. Und im Grunde ist der Staat gar eine Art Psycho- und Familientherapeut. Das sagt Kretschmann so nicht, aber konkret meint er, eine Impfpflicht würde einen Konflikt aus der Gesellschaft herausziehen und damit „mittelfristig“ die Gesellschaft „befrieden“.
Spätestens da legt jeder halbwegs aufrechte Demokrat die Ohren an. Denn was hier sophistisch propagiert wird, ist ein totalitäres Weltbild. Es geht wie bei den 68ern und ihrem Übervater Herbert Marcuse um „repressive Toleranz“. Diesmal aber nicht als Aggressionsobjekt eines hinwegzufegenden bürgerlichen Staates, der Menschen angeblich manipuliere und sie vorgegebene Meinungen nachplappern lasse. Sondern „repressive Toleranz“ wird hier bei Kretschmann zur Strategie eines Ewig-Linken, der aufbegehrenden Bürgern, Demonstranten und sogar Spaziergängern die Toleranz entziehe, weil er, der Staat, besser wisse, was für die Menschen gut und richtig sei.
Mit anderen Worten: Der Bürger ist der Untertan. Er soll in Zeiten von Corona und Klimawandel schleunigst vergessen, dass er der Souverän und eigentlich der Auftraggeber des Staates ist. Aber offensichtlich will der deutsche Michel es so. Heinrich Heine hat es 1824 schon gewusst und wohl auch für 2022 vorausgesehen: „Untertanentreue ist ein so schönes Gefühl! Und es ist ein so wahrhaft deutsches Gefühl!“