Millionäre gelten als „reich“ und Angehörige eines exklusiven Clubs, zu dem Normalsterbliche keinen Zutritt haben. Für Einkommensmillionäre mag das zutreffen. Bei Euro-Millionären, die mit Familienangehörigen mehr als eine Million Personen zählen, ist die Exklusivität aber sehr gelockert, und im Falle von Immobilienmillionären kann die Grenze zwischen „arm“ und „reich“ verschwimmen.
I
„Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr“, heißt es in der Bibel, „als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“. In Deutschland gelangt der Reiche auch nicht an die Spitze der Christlich Demokratischen Union, wie die Nichtwahl des „Millionärs“ Friedrich Merz zum CDU-Vorsitzenden auf dem Parteitag am 7. Dezember in Hamburg zeigt. Dabei ist Merz gar nicht „unermesslich reich“; er verdient nach eigenen Angaben derzeit jährlich „rund eine Million Euro brutto“ und zählt damit ‒ wie ein guter Fußballprofi ‒ zu den Einkommensmillionären.
Millionäre gelten als „reich“ und Angehörige eines exklusiven Clubs, zu dem Normalsterbliche keinen Zutritt haben. Für Einkommensmillionäre ‒ in Deutschland (Steuerstatistik 2014) rund 19 000 ‒ mag das zutreffen. Bei Euro-Millionären, die mit Familienangehörigen mehr als eine Million Personen zählen, ist die Exklusivität aber sehr gelockert, und im Falle von Immobilienmillionären kann die Grenze zwischen „arm“ und „reich“ verschwimmen: In Ballungszentren wie München, Frankfurt oder Hamburg sind Einfamilienhäuser durchaus über 1 Million Euro wert, ihre Besitzer haben aber häufig nur ein Durchschnittseinkommen oder liegen sogar unter der statistischen „Armutsgrenze“ (2018 für Alleinstehende 781 € netto, für Ehepaare 1.171 €). Die Witwe, die mit einer Kleinrente im eigenen Haus am Starnberger See lebt, ist also gleichzeitig „reich“ (Immobilienmillionärin) und „arm“ (Nettoeinkommen). Was sprachlich klar erscheint ‒ arm ist der Gegensatz zu reich ‒ wird in der heutigen sozialen Wirklichkeit diffus.
II
Politische Botschaften sollen sprachlich „klare Ansagen“ sein, und das Wortpaar arm ‒ reich bietet sich dafür an: Es gehört zum Grundwortschatz und wird von jedem Kind verstanden. Aber was bedeutet es?
In den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm (1812) treten die Reichen und die Armen in vielen Geschichten auf. „Hänsel und Gretel“ beginnt mit dem Satz:
„Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker, der hatte nichts zu beißen und zu brechen und kaum das täglich Brot für seine zwei Kinder“.
Die Armen in Grimms Märchen hungern, frieren und sind verzweifelt. Man bezeichnet diese existentielle Not heute als „absolute Armut“, und diese hat in Deutschland der Sozialstaat beseitigt. Die Armen von einst müssen nicht mehr betteln, sondern bekommen vom Staat ein Transfereinkommen, das ihre materielle Existenz sichert, auch wenn es manche Konsumbedürfnisse nicht abdeckt. Bei der aktuellen Armutsdiskussion geht es um „relative Armut“, die einkommensstatistisch definiert wird: Wer einen bestimmten Prozentwert, meist 60 Prozent, des durchschnittlichen Nettoeinkommens unterschreitet, gilt als „arm“. In einem Land mit 1.000 Steuerpflichtigen, von denen 999 jährlich jeweils 1 Million verdienen und ein einziger 1 Milliarde, wären die Millionäre ‒ sozialstatistisch gesehen ‒ „arm“; denn ihr Einkommen beträgt weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens von 1,999 Millionen.
Mit der normalen Wortbedeutung von arm hat dieser statistische Armutsbegriff nichts zu tun: Arm und sein Gegenwort reich dienen hier als Fahnenwörter für eine sozialpolitische Verteilungsdebatte; sie polarisieren und haben mediale Schlagkraft ‒ ganz im Gegensatz zur bürokratischen Fachsprache, in der das Märchen von „Hänsel und Gretel“ so beginnen würde:
„Vor einem großen Walde lebte ein einkommensschwacher Holzhacker, der hatte weniger als sechzig Prozent des Medianeinkommens“.
Dass es in Deutschland, wie in jeder Gesellschaft, unter- und überdurchschnittliche Einkommen gibt, ist selbstverständlich. Ein Einkommensverteilungsbericht der Bundesregierung würde in der Öffentlichkeit aber keine Beachtung finden. Ein Armuts- und Reichtumsbericht (der fünfte erschien 2017, 706 Seiten)) hingegen wirkt wie eine Anklageschrift: Man kann damit eine Nationale Armutskonferenz einberufen, Gelder für Armutsforschung bereitstellen und das Armutsproblem auf die politische Agenda setzen mit dem Programm: „Wir wollen das Geld bei den Reichen holen“ (Linken-Parteichef Riexinger).
III
Wortgeschichtlich geht reich zurück, auf germanisch rīk, „Herrscher, König“, das noch heute im Vornamenelement rich vorkommt: Fried-rich kombiniert semantisch „Frieden + Herrscher“. Die ursprüngliche Bedeutung von reich war „königlich“ und entwickelte sich über „mächtig, vornehm“ zu „wohlhabend, begütert“. Reichtum und Macht liegen also sprachlich nahe beieinander.
Gehört deshalb in Deutschland politischer Mut dazu, das Geld bei den Reichen zu holen? Nein, zumindest nicht der Versuch. Die erste Regierung Merkel hat ja 2007 den Steuersatz für Jahreseinkommen ab 250.000 € von 42 auf 45 Prozent erhöht. Gebracht hat diese sogenannte „Reichensteuer“ unter dem Strich nichts; denn viele „Reiche“, vor allem ältere, verlegen ihren steuerlichen Wohnsitz ins Ausland, und dann bekommt der deutsche Fiskus statt 42 Prozent von Etwas 45 Prozent von Nichts.
Die moralische Wirkung der Reichensteuer war damals allerdings groß, und sie wirkt bis heute: Ein „Reicher“ kann nicht zum CDU-Parteivorsitzenden gewählt werden. Quod erat demonstrandum „was [auf dem CDU-Parteitag] zu beweisen war“.