Tichys Einblick
Mit gemeinsamen Werten und Regeln

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Die „offene Gesellschaft“ ist keine „Gesellschaft der offenen Türen“, sonst verliert sie ihren Zusammenhalt, die produktive Wechselbeziehung ihrer Mitglieder und fällt strukturell zurück auf das Niveau eines Dritte-Welt-Landes.

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Würden Sie in einem Land leben wollen, in dem die Ehemänner ihre Frauen und die Lehrer ihre Schüler schlagen dürfen? In dem Homosexualität und Abtreibung mit Gefängnisstrafe geahndet werden und nicht nur überhaupt kein Umweltbewusstsein vorhanden ist, sondern der Rauch von Schornsteinen als Zeichen für ein gesundes Wirtschaftsleben gilt?

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Es ist nicht schwer zu erraten, dass es sich um die Bundesrepublik Deutschland in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts handelt. Das ist vielen heute kaum noch vorstellbar, und es ist erstaunlich, dass sich eine Gesellschaft in nur einem halben Jahrhundert derart verändern kann. Eine allmähliche Veränderung ohne Zweifel, die wie das Steigen des Wasserpegels zunächst nicht spürbar ist, sich aber langfristig als eine revolutionäre Umwälzung erweist. Ein weiteres Beispiel für das, was heute kaum mehr vorstellbar ist: Noch Mitte der 50er Jahre hielten über 70 Prozent der Deutschen Hitler für die größte historische Persönlichkeit.

Die bundesdeutsche Gesellschaft ist, so gesehen, ein großer Glücksfall in der Geschichte. Eine Gesellschaft, die seit ihrer „Stunde Null“ bis heute in jeder Hinsicht nicht wiedererkennbar fortgeschritten ist und größte Herausforderungen wie den Mauerfall und die Probleme der Wiedervereinigung gemeistert hat. Deshalb fühlte sich die Bundesrepublik Deutschland am Ende der 90er Jahre zu Recht wie eines der glücklichsten Länder.

Was aber war treibende Kraft für den Fortschrittskurs der Deutschen? Was hat diese deutliche Veränderung bewirkt?

Ich sehe hierfür maßgeblich zwei Hauptelemente, die für die bemerkenswerte Entwicklung des Landes verantwortlich zu machen sind:

Dieser Prozess hat sich aber im 21. Jahrhundert erst verlangsamt, um später in die entgegengesetzte Richtung umzuschlagen. Als Signale der negativen Entwicklung werden zahlreiche Gründe angeführt. Vom schwindenden Vertrauen in die „Politikerkaste“ bis hin zur „Hasspropaganda“ in den Medien und vom Versagen des Schulsystems bis hin zur Verschärfung der Einkommensgegensätze werden die Experten nicht müde, immer neue Ursachen für die allgemeine „Krisenstimmung“ zu entdecken. Dabei ist es eine Binsenwahrheit, dass Vertrauen das Bindemittel des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist. Wenn jemandem das Fahrrad geklaut wird, wird er bei einem Neuen nicht am Fahrradschloss sparen. Das wird aber nicht der Fall sein, wenn ihm das Fahrrad nicht gestohlen wurde, obwohl er vergessen hat, es abzuschließen.

Es ist genauso eine Binsenwahrheit, dass Vertrauen zerbrechlich ist und, wie in der Ehe ebenso in der Politik, in Folge nur eines einzigen Fehltritts verloren gehen kann.

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Im Mittelalter ging man einfach davon aus, dass die von allen geteilte Religion die einzige Basis für zwischenmenschliches Vertrauen bildet. Auch deshalb wurden beispielsweise Juden als „Andersgläubige“ nicht als vertrauenswürdig angesehen. Doch ist auch unverkennbar, dass die Begegnung von im Wesentlichen gleich entwickelten Kulturen zur Entwicklung und zum Fortsachritt von Gesellschaften führen kann. Ein positives Beispiel ist die Ansiedlung der französischen Hugenotten im 16. Jahrhundert, die über Preußen erheblich zum Aufblühen Deutschlands beitrugen. Möglich wurde dieses, weil die Vertrauenspartner über vergleichbare Erfahrungen und identische gesellschaftliche Werte verfügten. Gemeinsame Wert- und Moralvorstellungen sind nicht nur die Basis für eine vertrauensvolle Beziehung, sie ebnen auch den Weg für gemeinsame Vorstellungen einer gemeinsamen Zukunft, zu deren Realisierung zwischenmenschliche Bündnisse eingegangen werden.

Kurz: Die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung eines Landes kann nur auf Basis der nationalen Identität und auf der Basis eines allgemein bestehenden, zwischenmenschlichen Vertrauens erfolgen. Wie Hannah Arendt es beschrieb, benötigt jede gesunde Gesellschaft zudem ein Bündnis zwischen ihren Bürgern, das auf ihren historischen Erfahrungen und ihrem kulturellen Bewusstsein beruht. So hat jedes Volk aufgrund seiner Geschichte und seiner Kultur eine Vorstellung von seiner Stellung in der Welt, der es gerecht zu werden sucht.

Diese Erkenntnis ist nichts Neues und schon in der Antike hatte jedes Land eine sehr spezifische Vorstellung von seiner Daseinsberechtigung. Schauen wir auf das, was Puschkin 1939 in seinem Vorwort zu Wassili Jans „Dschingis Khan“ über die Rolle Russlands in der Geschichte geschrieben hat:

„Die Geschichte hatte Russland eine hohe Aufgabe zugewiesen. Seine endlosen Steppen sollten die zerstörende Energie der Mongolen absorbieren und sie am Vorstoß nach Westeuropa hindern. So wurde die aufkeimende Zivilisation durch das zermürbte und verwundete Russland gerettet.“

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Die deutsche Geschichte hat in der Zeit des NS-Regimes eine verheerende Verwerfung erfahren. Die nationalen Sozialisten haben den Begriff der deutschen Nation für ihre verbrecherischen Zwecke propagandistisch missbraucht. Deshalb wurden in der Nachkriegszeit Begriffe, die einen Bezug zu Nation und Volk aufwiesen, entweder negativ konnotiert oder totgeschwiegen. Und doch sollte sich dieser deutsche Sonderweg keinen Illusionen hingeben: Die Nationen werden auf absehbare Zeit in der Welt bestehen bleiben, und die sich selbst überhöhenden „Weltbürger“ werden nur im nationalen Rahmen ihr Wohlbefinden und ihren Wohlstand mehren können.

Schon deshalb führt ein erfolgreicher Weg in die Zukunft nicht über Verleumdung und Aufgabe der nationalen Identität, sondern es kommt darauf an, wie diese Begriffe zeitgemäß und im Sinne der Völkerverständigung interpretiert werden.

Die Bundesrepublik der Nachkriegszeit ist ein gutes Beispiel dafür, zu welcher Leistung nationale Verbundenheit imstande ist. Die Aufbauenergie der Deutschen in der Nachkriegszeit kann nicht zuletzt darauf zurückgeführt werden, dass Deutschland als das „Land der Dichter und Denker“ seine durch das NS-Regime sich selbst zugefügte Schmach überwinden und einen würdigen Platz unter den Nationen zurückgewinnen wollte. Nicht nur aus dieser Sicht stellt vor allem das geistige Erbe Deutschlands in seiner  nationalen Identität und Kultur ebenso den Leistungen und Charakteristika seiner Bürger einen wichtigen Bestandteil des Erbe der Menschheit dar, welches es zu bewahren und im Interesse der Zukunft zu entwickeln gilt.

Tatsächlich gehört Deutschland zu den wenigen Ländern, denen im Zuge der Aufklärung und Moderne eine Vorreiterrolle in der Welt zugekommen ist und nach wie vor zukommt. Es steht in der historischen Pflicht,  den Rest der Welt an seinen Werten von Demokratie und Menschenrechten teilhaben zu lassen. Diese Rolle aufzugeben, käme einem Verrat an der Zukunft der Menschheit gleich.

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Das bedeutet nicht, dass die deutsche Gesellschaft sich zwecks Bewahrung ihrer kulturellen Identität abschotten müsse. Ganz im Gegenteil lebt das Land im Herzen Europas wie schon seit der Antike in einer nun globalisierten Welt von seinen Begegnungen, Kontakten und der Zusammenarbeit und dem Austausch mit anderen Nationen. Das betrifft nicht nur den Handel, denn selbst der wissenschaftlich-technische Fortschritt kann in einer scheinbaren wertfreien Umwelt nicht erreicht werden.  Auch Wissenschaftler pflegen, wie jeder Mensch, ihre persönliche, gesellschaftliche und nicht zuletzt ihre nationale Identität.

Doch statt sich dieser Erkenntnis zu stellen, verfolgt die schwarzrote Bundesregierung mit vehementer Unterstützung durch „Grüne“ und „Linke“ stur eine Politik, die blindlings den Hunger des deutschen Kapitals nach der billigen Arbeitskraft zu stillen sucht, die ohne die geringste Sorge über die Folgen dieser Politik der offenen Türen das kulturelle und nationale Erbe der Deutschen zu vernichten droht. Diese Politik gaukelt den Menschen vor, dass eine angeblich „offene Gesellschaft“ nur dann zu sichern sein, indem immer mehr „Flüchtlinge” und Wirtschaftsmigranten nach Deutschland kommen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass die Erfahrung mit den türkischen Gastarbeitern seit den Sechzigerjahren gezeigt hat, dass sie nicht mehr heimkehren und Teil der deutschen Gesellschaft bleiben werden, dabei jedoch ihre kulturell bedingte Selbst-Ghettoisierung, basierend auf türkischem Nationalismus und dem der westeuropäischen Identität wesensfremden Islam, jegliche tatsächliche Integration verhindert.

Die „offene Gesellschaft“ ist keine „Gesellschaft der offenen Türen“, sondern eine, die neuen Gedanken offen gegenübersteht und deren Mitglieder ständig an ihrer Entwicklung mitwirken. Die staatlich beförderte naive Öffnung für alle jedoch verwandelt die Gesellschaft in einen Flickenteppich, der aus nebeneinander und sogar gegeneinander existierenden Gemeinschaften besteht. Die Gesellschaft verliert ihren Zusammenhalt, die produktive Wechselbeziehung ihrer Mitglieder und fällt strukturell zurück auf das Niveau eines Dritte-Welt-Landes.

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Friedrich Nietzsche wir zugeschrieben, der erste gewesen zu sein, der feststellte, dass den gesellschaftlich-moralischen Normen zuwiderhandelnde Minderheit, die nur knapp mehr als zehn Prozent der Gesellschaft ausmacht, zum Absinken dessen führt, was als Grenzmoral die kulturellen Mindeststandards des Verhaltens definiert. In der Konsequenz bedeutet dieses, dass eine größere Minderheit mit einem deutlich vom bestehenden Kulturkreis abweichenden Wertesystem den gesellschaftlichen Fortschritt lahmlegen wird und sich eine negative kulturelle Eigendynamik im Sinne einer Abwärtsspirale durchsetzt.

Aus dieser Sicht ist die wachsende Sorge um die beharrlich zunehmende Migration aus islamischen Ländern nachvollziehbar. Es geht dabei weder um Ausländerfeindlichkeit noch um Arroganz oder gar Rassismus, sondern ausschließlich darum, dass eine aus einer nicht zu Integration fähigen Kultur stammende Minderheit dann, wenn sie an Masse den Schwellenwert übersteigt, zwangsläufig die Entwicklung der deutschen wie jeder anderen hochzivilisierten Gesellschaft beeinträchtigt, wenn nicht diese Gesellschaft selbst vernichtet.

So beruht beispielsweise das Problem des islamischen Kopftuchs darauf, dass damit bewusst die Zugehörigkeit eines Teils der Bürgers zu einem anderen, vom gesellschaftlichen Konsens abweichenden Wertesystem demonstriert wird – es ist das Bekenntnis zu einer Gemeinschaft, in der der die Rechte der Frauen in keiner Weise vergleichbar mit jenen in der deutschen Gesellschaft entwickelt sind.

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So wird durch die unreflektierte Migration nicht nur das Erreichte in Frage gestellt, sondern tatsächliche Reformen zugunsten der Gleichberechtigung können nicht mehr greifen oder werden auf Nebenschauplätze und ablenkende Debatten umgeleitet. Genderforderungen mit der Vernichtung der Kultursprache sind ebenso Beispiele wie die Forderung nach Alibifrauen in Chefetagen, erzwungene Parität in Parlamenten und politischen Gremien und selbst die zwischenzeitlich an sich selbst gescheiterte #MeToo- Bewegung.

Schauen wir auf das,  was der deutschen Gesellschaft an notwendigen Aufgaben bevorsteht – von der Neustrukturierung des Bildungssystems über die unverzichtbare Trennung von Staat und Kirche bis zur gleichberechtigten, aber nicht gleichgemachten Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft –  bekommen wir eine Vorstellung davon, was an Aufgaben in den vergangenen zwei Jahrzehnten schlicht nicht angegangen wurde. Dieser Gesellschaft steht einmal mehr eine Mammutaufgabe der Selbstbehauptung bevor – und sie setzt das aktive Engagement aller Bundesbürger voraus.

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Durch das ständige Anwachsen jener Teile der Gesellschaft, die an diesen Anstrengungen nicht mitwirken können oder wollen und die den bestehenden Regeln der offenen Gesellschaft bewusst zuwiderhandeln, scheint eine Spirale der Gewalt unausweichlich. Sie wird die Gesellschaft untergraben und die dieser Gesellschaft feindlich gegenüberstehenden islamischen und damit als Reaktion neonationalen, neosozialistischen und auch neonationalsozialistischen Strömungen anheizen.

Die längst nicht mehr zu leugnende, stetige Zunahme der Gewaltspirale in Europa wird dabei zunehmend mehr als „normal“ empfunden. Dabei ist die Barbarei jener durch den „islamischen Staat“ inspirierten Versager nur das eine. Die eigentliche Bedrohung der freien Gesellschaft kommt aus ihr selbst heraus, indem sie vergisst, sich ihrer Kultur und ihrer Werte bewusst zu sein und diese aktiv gegen jene längst zu konstatierende, schleichende Unterwanderung zu verteidigen.


Fazel Gheybi wurde 1954 in Teheran in eine Bahai-Familie geboren, beschäftigte sich früh mit dem Studium von Religion und Philosophie. In Aachen studierte er Elektroingenieur und schloss 1983 in Frankfurt/Main  mit dem Schwerpunkt Computeringenieur ab. Er arbeitet an der Technischen Universität Darmstadt am Institut für experimentelle Nuklearphysik und verfasste mehrere Bücher zur kulturphilosophischen Rolle von Religion.

“Modern Philosophy and Iran” (persisch, 2011)

“Philosophie Holocaust / Philosophy of Holocaust” (deutsch + englisch, 2014)

“Die Islamische Eroberung der Welt” (deutsch, 2018)

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