Tichys Einblick
Staat und Kirche im Versagen vereint

Die neuen Pharisäer und die Leiden der Kirche

Das laute Schweigen der Kirchenleitung indes besitzt einen einfachen Grund, denn wie sollte derjenige vom Glauben sprechen, der ihn durch Ideologie ersetzt hat, wie sollte derjenige christlich reden und handeln, der das Christentum mit einem zeitgeistigen Wohlfühlprotestantismus vertauschte?

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Mene, mene tekel u-parsin: Zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums sind die Kirchen in Zeiten der Not und Verunsicherung leer. Das geschah nicht einmal in den Perioden der großen Pestepidemien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Sie sind leer wie die Worte der Kirchenleitung.

In großer Drangsal zieht es eigentlich Menschen in die Kirchen, in die Gemeinschaft, in die Gemeinschaft mit Christus: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt. 18-20). Unter wem soll der Herr nun sein, wenn sich niemand mehr in seinem Namen versammelt?

Um billiger Polemik zuvorzukommen: auch ich sehe, dass man Infektionen verhindern muss und die Quarantäne momentan die einzig sinnvolle Maßnahme zu sein scheint. Auch ich würde jetzt nicht in vollen Kirchen den Kelch kreisen lassen. Zwischen der leeren Kirche und der Masseninfektionsgefahr durch übervolle Gotteshäuser besteht ein weiter Raum, den gedanklich auszuloten, die Pflicht der Funktionäre der EKD wäre. Darüber nachzudenken, wie Gottesdienste in Zeiten hoher Ansteckungsgefahr stattfinden können, wie der Dienst der Kirche an den Verzweifelten, an den Kranken, an den Sterbenden geleistet werden kann, ist die Aufgabe, die der Kirche erteilt ist.

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Doch was macht die EKD? Sie macht sich einen schlanken und auch einen unchristlichen Fuß in der Krise. Was man in den letzten Jahren bereits beobachten konnte, offenbart sich nun: die Kirche wird von Pharisäern geleitet. Auf ein Wort des Glaubens wartet man vergebens, stattdessen erschöpft sich das Reden der Kirche im Plappern des rotgrünen Zeitgeistes. Das laute Schweigen der Kirchenleitung indes besitzt einen einfachen Grund, denn wie sollte derjenige vom Glauben sprechen, der ihn durch Ideologie ersetzt hat, wie sollte derjenige christlich reden und handeln, der das Christentum mit einem zeitgeistigen Wohlfühlprotestantismus vertauschte?

Zum höchsten christlichen Fest sind die Kirchen leer, äußerlich und innerlich. Dem Ratsvorsitzenden fällt zu Ostern nicht mehr ein, als dass er wie ein Kreissekretär der Linkspartei darüber sinniert, dass es nach der Krise „eine riesige Solidaritätsanstrengung brauchen“ wird, vor allem hat er sich nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung „für einen größeren finanziellen Beitrag der Besserverdienenden zur Bewältigung der Corona-Krise“ ausgesprochen. Der Ratsvorsitzende der EKD, den die Angst vor dem Rückgang der Kirchensteuereinahmen auf die schweißnasse Stirn geschrieben steht, sorgt sich nicht um die Coronakrise, zu der er wenig zu sagen hat, sondern plädiert für Steuererhöhungen, von denen dann auch die EKD profitiert. Sicher, wie die Lastenverteilung dann konkret exekutiert wird, darüber will er sich nicht äußern, schließlich sei er kein Wirtschaftsfachmann: „Da sollen die Experten bewerten, was nützlich ist und was vielleicht auch kontraproduktiv.“ Wie heißt es doch bei Matthäus:

„Sie binden schwere und unerträgliche Bürden und legen sie den Menschen auf die Schultern; aber sie selbst wollen keinen Finger dafür rühren. 5 Alle ihre Werke aber tun sie, damit sie von den Leuten gesehen werden. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Kleidern groß. 6 Sie sitzen gern obenan beim Gastmahl und in den Synagogen 7 und haben’s gern, dass sie auf dem Markt gegrüßt und von den Leuten Rabbi genannt werden.“ (Mt 23,4-7)

Wie kann ein Pastor oder Bischof sich über die Lastenverteilung nach der Coronakrise äußern, wo die Krise noch nicht einmal durchstanden ist, heute, wo wir noch nicht wissen, was auf uns alles noch zukommt, wo es ums Leben und Sterben geht? Wer aber an das Morgen denkt, an den Tag nach der Krise, der Spekulation bleibt, flieht aus dem heute, türmt vor der heutigen Aufgabe.

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In dem Buch „Geht der Kirche der Glauben aus“, das ich heute „Vom verlorenen Glauben“ nennen würde, habe ich davon gesprochen, dass meine Vorstellung von der Kirche die ist, dass sie in Zeiten der Not die Menschen um ihren Tisch versammelt, sie Gewissheiten spendet, wo alle Gewissheiten enden. Aber ach, die Kirche hat keinen Tisch mehr und hätte sie einen, so wäre er leer, leer wie die Kirchen selbst. Weil die Kirche Glauben durch Gesinnung ersetzt hat, vermag sie auch nicht mehr, aus dem Glauben heraus zu handeln. Weil sie sich politisiert hat und „dies in der Regel“, wie Reinhard Mawick in zeitzeichen geschrieben hat, „eindeutig im links-liberalen Spektrum“, fällt ihr in der Krise nur das Seenotrettungsschiff und die Kritik an der Bundesregierung ein, die „anders als versprochen noch nicht 1.500 Kinder und Jugendliche aus griechischen Flüchtlingslagern aufgenommen habe.“

Was, Bischof Bedford-Strohm, ist mit der Frage des Lebens und des Todes, über die wir Christen gerade zu Ostern nachdenken, innehalten und innewerden, zumal in diesen Zeiten? Was ist es mit den Alten, den Kranken, den Sterbenden, die in diesen Tagen ihre Angehörigen nicht sehen können, die allein in ihren Zimmern in den Pflegeheimen leben, die allein ohne geistlichen Beistand sterben? Was ist mit den Einsamen, den Alten, den Kranken, den Sterbenden?

Aber diese Frage hat der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, der evangelische Theologe Peter Dabrock, in einem ZEIT-Gespräch bereits beantwortet: „Menschen sterben oft auch allein im Operationssaal.“ Auch wenn ihm natürlich das Herz blute, verweist er kühl auf eine Güterabwägung zwischen der Gefährdung von Menschenleben und dem Selbstbestimmungsrecht von Schwerkranken. Er plädiert für eine zeitlich befristete Einschränkung der Grundrechte von Patienten und Sterbenden. Was ist für einen Sterbenden denn eine zeitliche Beschränkung? Menschen sterben allein und ohne Beistand. Wo der Staat nicht anders handeln kann, muss die Kirche Wege finden, und darf sich nicht hinter dem Staat verstecken, eine Kirche, die bei jeder Gelegenheit vom zivilen Ungehorsam trötet, hat angesichts dieser großen Not nur ein kaltes Achselzucken und ein wohlfeiles Wegsehen – mit blutenden Herzen natürlich – parat?

Wieder kommen einem Jesu Worte in den Sinn:
„So auch ihr: Von außen scheint ihr vor den Menschen gerecht, aber innen seid ihr voller Heuchelei und missachtet das Gesetz.“ (Mt. 23,28)

Als die Pest in Wittenberg tobte und die Menschen aus der Stadt auf das Land flohen, in die, wie sie hofften, rettende Quarantäne, zumindest die, die es konnten, weil sie Land besaßen oder Verwandte dort, die sie in der Zeit der Not aufnahmen, blieb Martin Luther in Wittenberg, weil er es als Pflicht und als Auftrag empfand, in den Zeiten der Pandemie bei seiner Gemeinde zu sein, Gottes Wort zu predigen, den Gemeindegliedern in Not und Angst, im Leben wie im Sterben und am Krankenbett zumal beizustehen.

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Ich fordere nicht, dass sich unsere Pastoren einer beträchtlichen Gefahr aussetzen, aber ich frage, warum hat die EKD m.W. bis auf den heutigen Tage nicht mindestens ebenso große Anstrengungen unternommen, um Schutzmasken und Anzüge für die Seelsorger zu beschaffen, wie sie Handlungsfähigkeit eindrucksvoll bei der Finanzierung des Seenotrettungsschiffs unter Beweis gestellt hat? Schätzt sie ihre eigentliche Daseinsberechtigung, den Menschen Gottes Wort zu bringen, so gering ein? Wo doch Gottes Wort Leben ist, ein lebendiges Wort? Oder glaubt sich nicht mehr an Johannes 1,14 „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“?

Wenn der Ratsvorsitzende in einem matten Text, in dem er sich fälschlich auf Bonhoeffer bezieht, sagt, dass niemand wisse, „ob wir das Virus unter Kontrolle bekommen, ob ein Impfstoff dagegen gefunden wird, ob die Welt zusammensteht, um den Menschen beizustehen, die jetzt vieles verloren haben“, dann hat er sich auf Allgemeinplätze zurückgezogen und sich dort bestens mit wohlfeilen Floskeln verbarrikadiert. Denn um so mehr, wenn niemand weiß, „ob wir das Virus unter Kontrolle bekommen, ob ein Impfstoff dagegen gefunden wird“ ist es nicht die Aufgabe der Kirche, darüber zu philosophieren, ob die Welt zusammenstehen wird, es ist ihre hohe Pflicht und Schuldigkeit, in die Bedrängnis Gottes Wort und Gottes Barmherzigkeit zu tragen, unabhängig von der Welt mit den Menschen zusammen und helfend bei den Menschen zu stehen.

So sehr in kirchlichen Einrichtungen von Ärzten, Schwestern, Pflegern, auch von Geistlichen Hervorragendes geleistet wird, sich Gemeindepfarrer aufopfern, werden sie von der EKD in ihrem täglichen Dienst alleingelassen. Man hört, dass die EKD Seelsorger aus kirchlichen Einrichtungen, ob Krankenhäuser oder Pflegeheimen zurückzieht, weil sie die Pastoren und ihre Familien nicht dem Risiko der Infektion aussetzen wollen. Und das ist richtig. Aber ist es auch richtig, Schwerkranke, für die menschliche Zuwendung Heilungsfaktor ist, Sterbende am Ende ihres irdischen Lebens allein zu lassen?

Ein Staat muss in großer Not das Recht des einen gegen das Recht des anderen abwägen, die Kirche darf dies nicht. In dem Moment, wo sie es täte, wäre sie keine Kirche Jesu Christi mehr. Natürlich ist es nicht leicht, Lösungen zu finden, doch für die Schönwettertage ist der Ratsvorsitzender, der sogar noch Zeit hat, über den Tag nach der Krise nachzudenken, nicht gewählt worden.

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Weil nicht vorgesorgt worden ist, weil nicht zu rechten Zeit – und spätestens seit Dezember 2019 hätte jedem, der Verantwortung trägt, zumindest eine Ahnung anfechten müssen, was da auf uns zukommt – vorsorglich über Konsequenzen und Lösungen nachgedacht wurde, die auch in dem Anlegen von Vorräten an Masken und Schutzausrüstungen bestanden hätte, kann man sich doch nicht zurückziehen. Aber ich vergaß, im Januar und noch im Februar verkündeten die Medien – und nicht nur die, dass Corona nicht gefährlicher als eine leichte Grippe wäre und der Virus ein „rechter Virus“ war, den angeblich die „neue Rechte“, die Populisten dramatisierten, um die Schließung der Grenzen zu erzwingen. Fahrlässig schlitterte aus meiner Sicht Deutschland in diese Krise, weil man die Gefahr durch COVID-19 aus ideologischen Gründen viel zu lange verharmlost hat, um das Dogma der offenen Grenzen aufrechtzuerhalten.

Nicht nur eigene Pandemiesimulationen wurden nicht zu Rate gezogen, auch die Erfahrungen und Berichte aus China und Taiwan hochmütig übersehen. Nicht anders von der Kirche. Hätte man nicht auch selbst Erkundigungen einziehen können, arbeiten in China und in Taiwan keine Christen, keine Pastoren oder evangelische Einrichtungen?

Wenn die Kirche in dieser Situation, wo es um ihre Kompetenz und um die eigentlichen Fragen des Lebens und des Sterbens, um die letzten Fragen geht, versagt, in ihrer Kernkompetenz sich versucht aus „der Affäre zu ziehen“, dann hat sie sich überflüssig gemacht. Wenn sie den Glauben an das leere Grab verloren hat, dann werden die Kirchen leer bleiben nach der Krise, denn in diesen Tagen und Wochen wird Kirche gezählt und gewogen und möglicherweise als zu leicht befunden werden.

Jetzt, Herr Bedford-Strohm, ist nicht die Zeit über Steuererhöhungen für die Zeit nach der Krise nachzudenken, jetzt ist die Zeit, Christi Flagge zu zeigen, jetzt ist die Zeit bei den Beladenen und Bedrängten zu stehen.

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