Bürger, hört die Sirenen: Mit betörendem Gesang versuchen Neo-Sozialisten, die Mitte der Gesellschaft anzulocken. Wer außerhalb Berlins Geschichtsunterricht hatte, weiß: Das endet immer tödlich.
„In Zwickau hat die FDJ demonstriert,“ meldete Radio Zwickau am vergangenen Wochenende erkennbar irritiert. Eine etwa 50 Köpfe starke Berliner Gruppe der „Freien Deutschen Jugend“ in den berüchtigten Blauhemden hatte Fahnen geschwenkt und Banner mit der Aufschrift „30 Jahre sind genug – Revolution und Sozialismus“ durch die Innenstadt getragen. Dabei forderte das Häufchen Demonstranten in Sprechchören eine Rückkehr zur DDR.
Dieses Foto hier ist nicht aus dem „Neuen Deutschland“ von 1980, sondern aus einem Tweet des Mitteldeutschen Rundfunks von 2020:
Die Polizei in Zwickau schützte den Aufmarsch übrigens, obwohl die FDJ seit 1954 nach bundesdeutschem Recht (das – Überraschung! – mittlerweile auch in Zwickau gilt) verboten und als verfassungsfeindliche Organisation eingestuft ist. Mit vermeintlich „rechten“ Gruppierungen geht man normalerweise nicht so pfleglich um – selbst dann, wenn sie gar nicht verboten sind.
Sei’s drum, 50 Wirrköpfe in Schlumpftrikots werden die freiheitlich-demokratische Grundordnung schwerlich zum Einsturz bringen. Aber die Zwickauer Mini-Demo ist ein weiteres Beispiel dafür, dass immer mehr und zunehmend offen für den Sozialismus geworben wird – oder zumindest für charakterlich höchst fragwürdige Sozialisten.
Zum Beispiel von der Vorstandsvorsitzenden des Kosmetikkonzerns Douglas. Tina Müller dankte per Tweet der Kommunistin Clara Zetkin für den Weltfrauentag.
Zur Erinnerung: An Demokratie war Zetkin nicht interessiert – sie war eine unerbittliche Verfechterin der Diktatur des Proletariats. Claudia Wirz erinnert in der NZZ daran, dass Zetkin sich lebenslang aktiv an der Verfolgung Andersdenkender beteiligte:
„In einem Moskauer Schauprozess von 1922 trat sie als Anklägerin gegen Sozialrevolutionäre auf und kämpfte erbittert gegen die ‚Hasser und Verleumder der proletarischen Diktatur in Sowjet-Russland‘. Zehn Jahre später, als Alterspräsidentin des Deutschen Reichstags, träumte sie in einer Ansprache von dem Glück, die Eröffnung des Rätekongresses eines neuen ‚Sowjetdeutschland‘ noch erleben zu dürfen.“
Für die Vorstandsvorsitzende des Kosmetikkonzerns, von der obiger Tweet stammt, spielen allgemeine Menschenrechte erkennbar keine Rolle, solange es nur irgendwie um spezifische Frauenrechte geht. Ob ihre Aktionäre – und ihre Kunden – das genauso sehen, ist da eine naheliegende Frage. Womöglich stellt sich die irgendwann ja auch der Douglas-Aufsichtsrat (nach seinem Mittagsschlaf).
Charmant wie immer hat sich schon vor längerem auch die heutige SPD-Vorsitzende Saskia Esken am Trend zur Heiligsprechung des Sozialismus beteiligt.
Nun haben auch unideologische Menschen beim historischen Blick auf Maos China, Stalins Sowjetunion, Honeckers DDR, Hồ Chí Minhs Vietnam oder das Kambodscha der Roten Khmer nicht unbedingt Gutes im Sinn, sondern eher ein paar Dutzend Millionen Tote. Und auch wer mangels Belesenheit keine Beispiele aus der Geschichte parat hat, dürfte beim Blick auf das heutige Kuba oder Venezuela eigentlich nicht ans Paradies denken.
Das ficht Frau Esken freilich nicht an. Dass in der sowjetischen Besatzungszone – der späteren DDR – Sozialdemokraten dafür ins Gefängnis gegangen sind, um nicht mit der KPD zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ SED (später PDS, heute Linke) zwangsvereinigt zu werden, lag nach Lesart der aktuellen SPD-Frontfrau daran, dass diese Menschen halt einfach keine Ahnung hatten. So.
Unwissenheit mag tatsächlich ein Grund dafür sein, wie Leute zum Sozialismus stehen – allerdings anders, als Saskia Esken denkt: Unwissenheit ist nie der Grund, weshalb man sich bei klarem Verstand gegen den Sozialismus entscheidet. Unwissenheit ist höchstens der Grund, weshalb man sich dafür entscheidet.
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Eine andere Seuche, die sich gerade schneller ausbreitet als jedes Virus, ist: Realitätsverweigerung. Vor kurzem habe ich bei Facebook eine – wie ich dachte – eigentlich recht harmlose Meinungsäußerung gepostet:
„So etwas wie ‚Demokratischen Sozialismus‘ gibt es nicht. Das ist ein Oxymoron. Sozialismus ist in seinem unabänderlichen Wesenskern totalitär. Demokratische Sozialisten gibt es so wenig wie tolerante Nazis.“
Mit heftigem Gegenwind konnte man da rechnen, das ist mittlerweile ja so üblich in den Asozialen Medien. Es wurde tatsächlich ein Sturm, sozusagen der heilige Zorn von links. Auszug aus den, nun ja, „Argumenten“ (Originalzitate):
„Sozialismus und Sozialdemokratie sind dasselbe.“
„Die DDR war kein sozialistischer Staat.“
„Die DDR war gar nicht so schlimm, wie man heute behauptet.“
„Kuba und Venezuela wären Paradiese, wenn sie nicht von den Imperialisten arm gehalten würden.“
„Demokratie ist immer sozialistisch.“
Schieben wir einmal das Rätsel beiseite, was Leute, die so etwas öffentlich schreiben, vorher wohl geraucht haben. Wenden wir uns stattdessen einer wichtigeren Frage zu: Warum scheint es in Mode zu kommen, zugunsten des Sozialismus die historische und auch gegenwärtige Wirklichkeit teilweise oder auch komplett zu leugnen?
Grob lassen sich da drei Muster erkennen: drei unterschiedliche Menschengruppen mit jeweils unterschiedlichen Motiven.
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Erstens – die bösartigen Zyniker. Denen geht es schlicht um die eigene Herrschaft. Dazu gehören die Strippenzieher bei der SED/PDS/Linken und ihre erstaunlich zahlreichen Büchsenspanner im Hintergrund. Wie abgrundtief verfassungsfeindlich die in Wahrheit sind, wurde verblüffend offen auf dem sogenannten „Strategietag“ der Partei vorgeführt (der eigentlich ein Kongress zum öffentlichen Austausch von Umsturzplänen und Mordfantasien war).
„Sozialismus“ ist hier nur die Chiffre, hinter der das eigene Streben nach Herrschaft über Staat und Menschen versteckt wird. Um das Ziel zu erreichen, soll der bisherige anti-totalitäre Konsens in Deutschland umgewidmet werden zu einem antifaschistischen Konsens – wodurch ganz nebenbei der linke Totalitarismus für akzeptabel erklärt wird.
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Zweitens – die naiven Träumer. Sie denken an eine vermeintlich bessere Welt ohne Kapitalismus. Das kann man in Ansätzen sogar nachvollziehen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin ein überzeugter Anhänger des Kapitalismus. Aber ich bin nicht blind: Kapitalismus überfordert viele Menschen zumindest latent.
Der fortwährende Wettbewerb in der Marktwirtschaft hat der Menschheit materiell die höchste Lebenserwartung, die niedrigste Armut und den größten Wohlstand der Geschichte beschert (und zwar weltweit). Die dauernde Konkurrenz empfinden sehr viele Menschen aber emotional als Belastung (auch das weltweit).
Damit das System trotzdem im Gleichgewicht bleibt, muss das rationale Prinzip des Kapitalismus das emotionale Bedürfnis der Menschen nach Gerechtigkeit erfüllen. Das war Ludwig Erhards Idee hinter der Sozialen Marktwirtschaft.
Kapitalismus heute ist diesbezüglich in manchen Bereichen dysfunktional. Bei Banken sind Gewinn und Risiko zunehmend entkoppelt: Profite streicht das Institut ein (was völlig in Ordnung ist), die Haftung wird vergesellschaftet (was überhaupt nicht in Ordnung ist). In der Automobilindustrie sind Leistung und Entlohnung entkoppelt: Spitzenmanager bekommen Boni und Abfindungen nicht nur bei Performance am Markt (was in Ordnung ist), sondern auch bei Betrug am Kunden (was nicht in Ordnung ist).
Ich behaupte: Die allermeisten Leute haben kein Problem mit Ungleichheit. Wenn Menschen Probleme mit dem Kapitalismus haben, dann nicht wegen Ungleichheit, sondern wegen Ungerechtigkeit. (Wer das für dasselbe hält, sollte nicht weiterlesen.)
Der diabolische Trick der sozialistischen Sirenen ist es, die Begriffe so unscharf zu machen, dass man sie am Ende austauschen kann. Im Ergebnis bietet der Sozialismus dann als Reparaturmaßnahme gegen die Unwucht im kapitalistischen System eine wohlklingende „Gleichheit“ an.
Die Menschen sind aber nicht gleich, im Kern wollen sie es auch gar nicht sein. Folglich muss der Sozialismus sie für das Ziel der Gleichheit verändern. Weil das seine Existenzgrundlage ist, tut er es mit allen Mitteln – notfalls mit Zwang und Gewalt. Der Totalitarismus in allen bisherigen sozialistischen Menschenversuchen auf dieser Welt war kein Fehler, er war systematisch zwingend.
Der sozialistische Traum ist in Wahrheit ein Alptraum.
Nun sollte niemandem das Träumen verboten werden. Schwierig wird es nur, wenn man die eigenen Illusionen für die Wirklichkeit hält – dann wird aus dem Traum ein Wahn. Die naiven Träumer sehnen sich nach einer Welt, die es nicht nur nicht gibt, sondern die es nicht geben kann – weil die Menschen nicht so sind.
Ja, möchte man die Träumer wachrufen, der Kapitalismus hat Fehler. Aber nur, weil ein Prinzip Fehler hat (und trotzdem noch besser ist alles andere), stellt man doch nicht das ganze Prinzip in Frage.
Niemand hört mit Sex auf, nur weil ihm (oder ihr) ein paar Seiten im Kamasutra nicht gefallen.
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Drittens – die satte, vollversorgte Klasse. Sie hat vor allem Angst. Das Heilsversprechen des Sozialismus ist ja gerade, die irrwitzige Illusion zu erwecken, das Leben könne mühelos und angstfrei gelebt werden. Allmählich werden die verhätschelten, wohlstandsverwahrlosten Kinder der Baby-Boomer mit dem ganz normalen Leben konfrontiert, das so gar nicht zum sozialistischen Heilsversprechen passt.
Die unteren Ebenen der Bedürfnispyramide sind nicht mehr automatisch da: Strom kommt eben nicht einfach aus der Steckdose, das Abendessen kommt eben nicht einfach von Call-a-Pizza, und Geld kommt eben nicht einfach aus der Kreditkarte. Es zeigt sich, dass man sich um das Fundament der Bedürfnispyramide kümmern muss. Da bleibt nicht mehr so viel Zeit und Energie, um sich weiter oben in den Luxuszonen selbst zu verwirklichen.
Wenn der Lebensunterhalt zuhause plötzlich tatsächlich verdient werden muss, wird es viel schwieriger, sich um Flüchtlinge im Mittelmeer, schmelzende Gletscher in der Arktis und überhaupt um die Weltrettung zu kümmern.
All die Arzttöchter und Juristensöhne, die von ihren Eltern im SUV zur Fridays-for-Future-Demo gefahren und auch wieder abgeholt werden;
all die über öffentliche Aufträge letztlich von der Allgemeinheit ausgehaltenen Schwätzperten in Instituten und allenfalls pseudo-wissenschaftlichen Einrichtungen wie der Bertelsmann-Stiftung;
all die Soziologen und Politologen, denen man schon einen Abschluss hinterhergeworfen hat, wenn sie nur zum Seminar erschienen und dort einen Stuhlkreis bilden konnten;
all die Medienschaffenden in steuerfinanzierten Weltverbesserungsprojekten, die in ihren Lebenslauf statt „Bachelor“ ehrlicherweise auch „am Arbeitsmarkt nicht vermittelbar“ schreiben könnten…
… sie alle haben Angst.
Angst um ihre gesellschaftliche Stellung – was nur eine etwas elegantere Umschreibung ist für: Macht.
Die bisherige Grundlage dieser gesellschaftlichen Stellung war die kulturelle Hegemonie: die Definitionshoheit über den öffentlichen Diskurs – die Herrschaft darüber, was gesagt werden darf und was nicht. Das ist vorbei, der öffentliche Diskurs lässt sich nicht mehr beherrschen – was zur Folge hat, dass alle alles sagen können. Das oben beschriebene Milieu verdankte seine Macht aber dem Umstand, dass eben nicht alle alles sagen konnten (jedenfalls nicht ohne schwere soziale Sanktionen).
Angst um ihre Lebensentwürfe – was nur eine etwas elegantere Umschreibung ist für: Geld.
Denn die Lebensentwürfe bestehen darin, dass man sich ewig nur um sich selbst (nebst den eigenen Weltverbesserungsfantasien) kümmern kann und sich das von tatsächlich arbeitenden Menschen bezahlen lässt.
Das ist, pardon, ein sozialparasitärer Ansatz. Zu dessen Rechtfertigung hat man die Begriffe „Gemeinwohl“ und „Wertschöpfung“ zu einem Gegensatzpaar umdefiniert – spiegelverkehrt analog zur Synonymisierung von „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit“. Tatsächlich dient nichts so sehr dem Gemeinwohl wie die Wertschöpfung.
Mit dem sozialparasitären Ansatz ist es absehbar bald vorbei. Deutschlands Wirtschaft stehen schwere bis schwerste Zeiten bevor – das leugnen nur noch absolut Ahnungslose und die Bundesregierung (sofern nicht personalidentisch). Das Konzept, sich dauerhaft außerhalb der Wertschöpfung bewegen und selbstverwirklichen zu können, stößt an seine Grenzen.
Die vollversorgte Klasse hat also durchaus zurecht Angst. Eine klassische Reaktion auf Angst ist Aggression. Entsprechend wird Kritik am Sozialismus aggressiv bekämpft. Historische Fakten (zum Beispiel, dass die NSDAP sich nicht zufällig „sozialistisch“ nannte) werden geleugnet – wer sich auf sie beruft, wird bis in den privaten, persönlichen Lebensbereich hinein verfolgt.
Kurz bevor sie absterben, produzieren Tannenbäume noch einmal besonders viele Zapfen.
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Es gibt keine neue Lust am Sozialismus.
Es gibt die zunehmend ängstliche und deshalb zunehmend schrille Verteidigung eines irgendwo zwischen Traum und Wahn angesiedelten Weltbilds, in dem man sich häuslich eingerichtet hatte – und das jetzt an der Realität zerschellt.
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