Demokratie scheint nur noch reaktionär, Diktatur progressiv zu sein. Gerade eben empört sich die Langzeitfunktionärin der Grünen, Karin Göring-Eckardt, die innig wie ihre Kanzlerin im ostalgischen zweiten Frühling schwelgt, im Bundestag: „Das #Infektionsschutzgesetz ist nicht genug.“ Heute also die Auflösung des Föderalismus, morgen die Beseitigung der demokratischen Rechte? Und übermorgen die DDR zurück?
Gestern schwärmte Thomas Kutschaty (SPD) im Landtag von Nordrhein-Westfahlen davon, Menschen „auf der Straße zu erwischen“. Nun hat Thomas Kutschaty in einem Interview mit der Welt nachgelegt. Er behauptet, dass er ein „extrem freiheitsliebender Mensch“ sei. Das war, könnte man spotten, Otto Grotewohl, der 1946 die Ost-SPD in die Einheitspartei mit den Kommunisten führte, auch. Auch damals stand die Frage des Föderalismus und der Länder im Mittelpunkt der Politik. 1952 hat die SED im Zuge der rigiden Zentralisierung die Länder abgeschafft und sie in die reinen Verwaltungseinheiten der Bezirke aufgelöst.
Zumindest kann der SPD-Politiker schon nachvollziehen, dass wenn „Diskussionsorgien“ stattfinden, wenn der eine etwas sagt, es „der andere sofort“ ablehnt, es Angela Merkel dann aber „reicht und sie jetzt ein Bundesgesetz will.“ So darf man der Alternativloskanzlerin nicht kommen! Schon gar nicht mit Widerspruch, der immer Indiz einer Verschwörungstheorie ist, häufig der Verschwörung der Wirklichkeit gegen Wille und Vorstellung im Raumschiff Berlin.
Angel Merkels großer Fan vom Rhein kommt mit Blick auf die Freiheit und die Einschränkung der Grundrechte zu dem Schluss: „Der schwerste Grundrechtseingriff ist jedoch leider der Tod.“ Bereits vor über einhundert Jahren behauptete einer der seltsamsten Menschen des 19. Jahrhunderts, der Amerikaner Prentice Mulford: „Bessere Amerikaner sterben nicht mehr, sie sagen, es sei eine mindere Gewohnheit, freudlos und zeitraubend, etwas für zurückgeblieben Europäer allenfalls.“ Doch Thomas Kutschaty irrt, auch wenn die Freiheit abgeschafft sein wird und eine Pandemiediktatur durchgesetzt worden ist, werden Menschen dennoch weiterhin sterben. Es liegt sozusagen in ihrer Natur. Selbst der Amerikaner Prentice Mulford ereilte 1891 im Alter von 57 Jahren der Tod, und zwar auf seinem Segelboot vor Long Island, auf dem sein Leichnam noch ein paar Tage hin und her schipperte, bevor er entdeckt wurde.
Wer jedoch den Tod als Grundrechtseingriff definiert, wer Risiko mit Gefahr verwechselt, hat das Leben aufgegeben, denn die Existenzform des Lebens ist die Freiheit. So lässt Johann Wolfgang von Goethe seinen Faust sagen: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,/Der täglich sie erobern muss.“ Der Dichter fand dafür das schöne Bild vom Deichbau, vom Land, das dem Meere abgerungen wurde: „Und so verbringt, umrungen von Gefahr,/Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr./Solch ein Gewimmel möcht‘ ich sehn,/Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.“
Wie aktuell plötzlich die Forderung wird, die der Dichter vor zweihundert Jahren erhob: mit freiem Volk auf freiem Grund stehn, ein Gewimmel sein.
Wer aber aus Angst vor dem Tod, den Selbstmord anordnet, wer aus Furcht vor der Freiheit, die Freiheit kassiert, aus Unfähigkeit, wirksame Maßnahmen zur Einhegung der Pandemie zu konzipieren, halluziniert, den Virus „besiegen“ zu können, der verfügt weder über elementare Kenntnisse über das Leben, auch nicht über die Demokratie und erst recht nicht über die Biologie. Aber dafür ist er Merkels treuester Gefolgsmann am Rhein. Jede Nacht damit beschäftigt, Menschen zu erwischen.
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