Ich hätte nicht mal ansatzweise erahnen können, wie sehr sich ein Land in so kurzer Zeit verändern kann. Wie schnell es gehen kann, dass Angst und Hass, Misstrauen und Zweifel gesät werden, dessen Früchte unter anderem Sprachlosigkeit und Apathie sind.
Ich spüre kaum noch die Trauer, die mich eigentlich erfüllt hat nach der Tat von Hanau. Irgendwas in mir sagte dauernd: „Warte ab, bevor du etwas sagst, da kommt noch was.“
So steh‘ ich hier und warte auf Antworten. Aber es kommt Nichts.
Ein schrecklicher Vorfall, degradiert zu einem medialen Ereignis. Wie immer eigentlich. Man könnte meinen, wir alle sind mittlerweile abgehärtet von den schlimmen Dingen, die mittlerweile tagtäglich passieren. Und, ja, auch das ist eine Seite der Medaille.
Durch die Nachrichten erfahren wir, dass ein Mann – Tobias R. – Menschen aus niederen Beweggründen hingerichtet hat, dann seine Mutter und letztlich sich selbst.
Solche Selbstmord-Attentäter im weitesten Sinne waren in meinen Augen schon immer die größten Feiglinge.
Denn aus der Verantwortung geschlichen ab ins Jenseits überlassen sie den Opfern und uns allen, diese unglaubliche Last ihrer Taten zu tragen.
Mal sind es Journalisten oder Politiker, die beschuldigt werden. Mal irgendwelche anderen Leute oder Umstände, die herhalten sollen, um das Böse, das Unerklärliche zu verstehen.
Wir brauchen das, um weiter machen zu können.
Die Vernunft ist überfordert, es ist unmöglich, nur mit ihr an solche Taten und Themen heranzugehen. Wohin mit all den Gefühlen und dem Schmerz? Die Vernunft hat keinen Platz dafür, und gäbe es einen, so wäre dieser ohnehin zu klein. Deswegen wenden sich so viele von ihr ab und machen sich auf die Suche nach dem, von dem eigentlich jeder weiß, dass es falsch ist.
Wir machen uns auf die Suche nach dem Sündenbock, weil der Täter und Mörder sich aus dem Staub gemacht hat und nun die Gesellschaft mit dem klarkommen muss, was seine Taten an Chaos, Schmerz und Hass hinterlassen haben.
Die Opfer sind namenlose Migranten und die Mutter des Täters.
Sein „Manifest“ ist ein Zeugnis vom menschlichen Abgrund mit Irrungen und Wirrungen. Dies hinterließ er uns, damit die Gesellschaft mit dem fortfährt, womit er durch das Morden von Menschen begonnen hat. Und es funktioniert. Es ist die Propaganda seiner Tat. Sein Unsinn, dem vorher keiner zugehört hat, vervielfältigt sich.
Es ist sehr seltsam und befremdlich, als Mensch, als Frau mit Migrationshintergrund zu lesen, dass man „rein äußerlich instinktiv abzulehnen sei aufgrund seines Aussehens.“ So wie alles andere, was man lesen konnte. Dann kommt der Fakt hinzu, dass in der letzten Konsequenz aufgrund solch kranker Gedanken auf Menschen geschossen wurde.
Jeder noch so vernünftige Mensch, der dieses Psycho-Wirrwarr nicht an sich heran lässt, fragt sich trotzdem, wenn auch nur für eine Millisekunde: „Denkt nur er so ?“ Der Gedanke schleicht sich in die Köpfe, obwohl und eben weil viele ihn noch nie gedacht haben. Gedanken eines Psychopathen, die sich nun selbstständig gemacht haben in den Köpfen vieler. So sät er Misstrauen. Schlimm genug aus Sicht derjenigen, die er pauschal zu Opfern gemacht hat. Schrecklich ist jedoch auch, dass jeder, der kein Migrant ist, nun unter Verdacht steht oder es ihm unterstellt wird, aufgrund seines „Deutschseins“ vielleicht selbst so zu denken wie dieser Mörder. Wie beweist man das Gegenteil?
Das Misstrauen wächst. Die Spaltung der Gesellschaft vertieft sich.
Den meisten Migranten ist völlig egal, ob ein Deutscher rechts, links oder grün steht, so wie es den meisten Rassisten egal ist, ob man aus Ghana, der Türkei oder Afghanistan kommt und welche politischen und gesellschaftliche Ansichten man vertritt. Der Mörder von Hanau hat eine neue Formel in die Köpfe gesetzt:
„Alle Deutschen sind Nazis – alle Ausländer gehören weg.“
Da brauchen sich die politischen Lager keine Hoffnungen machen, auf der besseren Seite zu stehen. Keiner kommt davon. Mit dieser Tat wurden alle Deutschen zu unrecht beschmutzt und Ausländer zu unrecht angegriffen. So einfach ist das und so einfach funktioniert es.
Die Idee der differenzierten Gesellschaft zeigt sich besonders deutlich in solchen Tagen – oder war es ohnehin nur eine Fantasie? Die Tugend der Differenzierung ist wie der Täter nicht mehr existent, sie wurde erschossen.
Es ist letztlich egal, welche Beweggründe es sind. Denn wir haben sie alle schon miterleben müssen. Sei es in einer Kirche, einer Synagoge, auf einem Konzert, auf einem Weihnachtsmarkt, an öffentlichen wie privaten Orte. Die Orte sind beliebig.
Wir kennen auch die Mechanismen der Medien, die Aufklärungsarbeit, die es nie gibt, und anstelle dessen das Produzieren von Schuldigen, weil die wahren Schuldigen einfach nicht da sind. Und wenn sie da sind, einfach nicht schuldig erklärt werden.
Ich erinnere mich, dass es mal möglich war, mehr oder weniger harmonisch miteinander und nebeneinander zu leben oder jedenfalls so, dass man es nahezu friedlich nennen könnte.
Die Hoffnung, dass es solch ein friedliches Miteinander geben kann, diese Hoffnung hat der Mörder neben all den Opfern mit auf seinem Gewissen. Jeder dieser Mörder, der die Hoffnung der Menschen, einer ganzen Gesellschaft, auf seinem Gewissen hat, egal welcher Herkunft, egal welcher Religion und Ideologie anhängend, begeht ein Verbrechen an der Menschheit.
Vielleicht wissen diese Mörder das in ihrem tiefsten Inneren und richten sich deshalb selbst.
Denn wer kann weiterleben, wenn er so vielen Menschen den einzigen Grund zum Leben stiehlt oder sie kaltblütig ermordet? Wenn die Hoffnung zerstört wurde, dass das Leben gut ist oder jedenfalls gut wird, die Welt ein guter Ort sein kann.
Meine Gedanken sind bei den Angehörigen der Opfer. Bei den Müttern und Vätern, allen Familienangehörigen und Freunden, die ihre jungen Söhne, ihre Brüder und Freunde verloren haben. Keiner hat es verdient, so aus dem Leben gerissen zu werden. Ich glaube, es gibt nichts schlimmeres, als seine eigenen Kinder zu überleben.
Ich bin kein Richter, sondern auch nur eines der Opfer der Zerrissenheit. Eine Frau mit Migrationshintergrund, Mutter eines Kindes, das nur entstehen konnte weil es Brücken gab zwischen der Welt, aus der ich komme, zu der Welt, in der ich lebe, in der mein Mann lebt.
Ein halb türkisches und halb deutsches Kind, dessen Leben auf dieser Brücke entstanden ist. Dessen Leben diese Brücken sind, die durch solche Taten zerstört werden.
Ich bin eine derjenigen, die immer mehr die Hoffnung und den Glauben daran verliert, dass wir zurückkehren zum Menschsein. Aber ich will nicht aufgeben und werde nicht aufgeben, denn es geht nicht mehr um uns. Es geht um unsere Kinder, um unsere Zukunft und um die Hoffnung, die zuletzt stirbt.