Ende November tat sich in der linken Wiener Wochenzeitung „Falter“ (vergleichbar der deutschen „taz“) etwas Bemerkenswertes: „Hat die Linke ein Problem mit der Meinungsfreiheit?“, fragte Falter-Feuilletonchef Mathias Dusini auf Twitter und verlinkte eine zweiseitige Philippika aus dem gedruckten Blatt. Titel: „Die Intoleranz der Toleranten“. Eine volle Breitseite gegen eine Linke, die nur noch vorgibt, tolerant zu sein. Dusini listete Beispiele auf: Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der FPÖ kann ein Biographie über sich in einer Wiener Buchhandlung nur unter massivem Polizeischutz vorstellen, draußen toben linke Demonstranten. Tauchen rechte Verlage auf der Frankfurter Buchmesse auf, „müssen sie mit Prügeln rechnen“, so Dusini. Er erwähnte auch, wie an amerikanischen Universitäten Lesungen des umstrittene libertären, sicherlich provozierenden Autors Milo Yannopoulous abgesagt werden mussten, weil Gegendemonstranten große Feuer vor den Gebäuden entzündeten und randalierten.
Auch an vielen Universitäten in Deutschland herrscht leider ein Klima der Intoleranz, das alle Meinungen, die von den Vorgaben der Political Correctness abweichen, am liebsten unterdrücken will. Jüngstes Beispiel für dieses muffig-stickige intellektuelle Klima ist ein Vorfall an der Universität Siegen. Dort wollte der Philosophieprofessor Dieter Schoenecker ein Seminar abhalten über das Thema „Denken und Denken lassen. Zur Philosophie und Praxis der Meinungsfreiheit“.
Zu dieser sechsteiligen Vortragsreihe lud Schoenecker, der sich selbst als Kantianer und Liberalen bezeichnet, auch zwei „umstrittene“ Redner: den früheren SPD-Finanzpolitiker und heutigen Buchautor Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“, „Feindliche Übernahme“) sowie den AfD-Bundestagsabgeordneten und promovierten Philosophen Marc Jongen, einen früheren Assistenten von Peter Sloterdijk.
Wie weit geht die Meinungsfreiheit? – das sollten im Seminar die Philosophiestudenten diskutieren. Und prompt lieferte die Uni-Leitung den Beleg dafür, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland nicht sehr weit reicht. Zwar steht im Grundgesetz, jeder habe „das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“, und dann steht da noch klipp und klar: „Eine Zensur findet nicht statt“ (Art 5. GG). Auch die Wissenschafts- und Lehrfreiheit ist laut Grundgesetz gesichert.
Aber die Universitätsleitung in Siegen fand dann schnell subtilere Formen, all diese Freiheiten einzuschränken. Sie kürzte Prof. Schoenecker die ihm eigentlich zustehenden finanziellen Mittel für die Seminarreihe – weil ihr die Vorträge von Sarrazin und Jongen nicht passten. Das Seminar nehme „bewusst einen ideologischen Standpunkt ein, sende also eine politische Botschaft“, das widerspreche „den Grundwerten der Universität Siegen“.
Die Begründung ist natürlich ein Witz. Wie Schoenecker in einem längeren Gastbeitrag in der „FAZ“ erklärte, gibt es natürlich laufend Seminarveranstaltungen an der Uni mit Rednern, die eine klare politisch-wissenschaftliche Botschaft haben. Und die ist fast immer links. Schoenecker schrieb in der „FAZ“, es sei „inkonsistent, universitäre Vorträge von Rechten zu verhindern, die von Linken aber nicht. Viele Kolleginnen und Kollegen vertreten radikale Positionen zu den Themen offene Grenzen, Rassismus und Kolonialismus, Geschlechterforschung, und sie laden dazu entsprechend ein. An meiner Universität hat es jahrelang ein von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziertes Graduiertenkolleg gegeben. Vor kurzem war Sahra Wagenknecht, deren Positionen für einen Liberalen nicht weniger extrem sind als die Jongens für eine Universalistin, zu einem Vortrag bei uns eingeladen. Sicher darf man sie einladen, aber dann auch Jongen. Die Redefreiheit wird von denen selbst in Anspruch genommen, die sie anderen streitig machen. Darin steckt ein Widerspruch.“
Es ist kein versehentlicher Widerspruch, sondern volle Absicht. Die Linke hat sich in den Jahrzehnten nach 1968 die Diskurshoheit an den Universitäten und im Kulturbetrieb erkämpft und nutzt diese seitdem gnadenlos zur Ausgrenzung von Andersdenkenden (Konservative, Rechts-/Neoliberale, die allesamt als „rechts“ diffamiert werden). Dozenten, die den linken Diskursvorgaben scharf widersprechen, müssen mit Denunziationen rechnen. An der Berliner Humboldt-Universität erlebte der Historiker und Osteuropaspezialist Jörg Baberowski ein jahreslanges Mobbing durch eine linksradikale Studentengruppe; die Hochschulleitung verweigerte ihm Schutz und Solidarität.
Treten dezidiert nicht-linke Redner als Gastvortragende auf, dann gibt es oft eine Kampagne des AStA oder ein Schreikonzert, das den Vortrag unmöglich macht. Sogar Wolfgang Schäuble ist das mal an der Uni Göttingen passiert. Viele konservative Dozenten und Professoren verstummen nach und nach, weil sie sich hitzige Wortgefechte mit linksideologischen Studenten und Kollegen ersparen wollen. So schrumpft die Zahl der konservativen, rechtsliberalen Denker an den Unis zu einer kaum wahrnehmbaren Minderheit. Auch an amerikanischen Unis ist das inzwischen so. Dort wurden Vorträge von Islamkritikern wie der selbst ehemals muslimischen Ex-Politikerin Ayan Hirsi Ali (aus Somalia stammend) niedergeschrien, weil sie den Islam beleidigt habe. Die islamophile Linke und radikal-islamische Gruppen machten gemeinsame Sache.
Der „Economist“ befand in einer Titelgeschichte, die freie Rede sei ernsthaft in Gefahr. Und zwar durch eine neue Form der hysterischen „Hyperkorrektheit“, die schon kleinste verbale Überschreitungen der vorgegebenen Normen der Nicht-Diskriminierung etc. ahndet.
Der „herrschaftsfreie Diskurs“, den Jürgen Habermas, der Staatsphilosoph der BRD, einst theoretisch anpries, ist in der Realität eine Farce, denn die Links-„Liberalen“ wachen mit Argusaugen darüber, dass niemand ihnen die Diskursherrschaft streitig macht. Sie wollen bestimmen, wer überhaupt am Diskurs teilnehmen darf. Das gelingt ihnen aber nur, weil die Nicht-Linken oft zu feige sind. Immanuel Kant, auf den sich Philosophieprofessor Schoenecker beruft, sagte in seiner weltberühmten Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“, Aufklärung sei der Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. In einer solchen Situation der selbstverschuldeten intellektuellen Unmündigkeit und des betreuten Denkens befindet man sich, wenn man sich Denk- und Sprechverbote aufoktroyieren lässt.
Thilo Sarrazin wird an der Uni Siegen am 10. Januar (sofern nicht noch etwas dazwischenkommt) seinen Vortrag halten mit dem Titel „Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“. Außerdem wird Sarrazin in der Bismarck-Halle einen öffentlichen Vortrag in Siegen halten, wie der FinanzBuch Verlag soeben bekanntgab.
Vor einigen Jahren hatte er Sarrazin seinem Buch „Tugendterror“ beschrieben, bei welchen Themen es besonders schwierig ist, offen zu diskutieren. Vor allem alle Aussagen über Ungleichheit und Gleichheit der Menschen und Kulturen sind tabuisiert, auch Familien- und Rollenbilder sind heftig umkämpft. Besonders scharf jedoch sind die Reaktionen in der Debatte über Einwanderung und Islam.
Mit seinem neuen Islam-Buch „Feindliche Übernahme“ hat Sarrazin in der ihn typischen Weise mitten ins Wespennest gestochen und aufgeregte Reaktionen ausgelöst, weil er die heiklen Zusammenhänge zwischen der islamischen Gewalt- und Überlegenheitsideologie und der scheiternden Integration muslimischer Zuwanderer aufdeckt. In den ersten Oktobertagen veröffentlichten die meisten Feuilletons vernichtende Kritiken und versuchten den Autor als vollkommen ahnungslos abzukanzeln; als das eher noch die Neugierde der Bürger anfachte, verfielen sie aufs Todschweigen. Hunderttausende Bürger haben das Buch schon gekauft, doch von den tonangebenden Medien wird der Autor nun konsequent ausgegrenzt.
Damit nicht genug. Einen ganz plumpen Weg der Ausgrenzung wählte die Wissenschaftliche Buchgemeinschaft (WBG), die immerhin 85.000 Mitglieder hat und sich als eine der größten Buchgesellschaften für Sachbücher und wissenschaftliche Literatur in Europa nennt. Die WBG hat Sarrazins Islam-Buch in ihrem Shop schlicht für „nicht lieferbar“ erklärt. „Bei uns ist dieses Buch nicht erhältlich“, heißt es. Zwar wolle man keine Bücher verbieten oder zensieren, erklärt die WBG in ihrem Mitgliedermagazin. „Wir verbreiten jedoch nur Bücher, die auf wissenschaftlich fundierter Information basieren, um eine qualitative Diskussion überhaupt erst zu ermöglichen.“ Und wer definiert, was ausreichend „wissenschaftlich“ ist?
Wie wäre es, wenn man die Bürger selbst denken und entscheiden ließe? Wäre das nicht der liberale Weg? Von echter Aufklärung ist dieses muffige intellektuelle Klima im 21. Jahrhundert leider weit entfernt.