„Streitbar“ ist im Wörterbuch der deutschen Journalisten-Blase die kleine Schwester von „umstritten“. Umstritten sind immer die ganz Bösen: Jan-Josef Liefers ist ein umstrittener Schauspieler, seit er öffentlich die Corona-Maßnahmen kritisiert. Joachim Steinhöfel ist ein umstrittener Jurist, seit er Prozesse gegen die grundgesetzwidrige Einschränkung der Meinungsfreiheit durch die Bundesregierung führt (und gewinnt). Und J. K. Rowling, die Erfinderin von „Harry Potter“, ist eine umstrittene Autorin, seit sie öffentlich Position gegen die Trans-Lobby bezieht.
Streitbar sind demgegenüber diejenigen, die aus der Perspektive unserer Medien-Meute eigentlich zu den Guten gehören – die es sich aber nicht nehmen lassen, auch Dinge zu sagen oder sogar zu tun, welche das Wohlbefinden im grün-linken Kosmos empfindlich stören.
Klaus Lederer ist jetzt so ein „Streitbarer“.
Mit 18 Jahren trat der promovierte Jurist in die SED ein, die sich vorher in PDS umbenannt hatte (und später ja dann nochmal den Namen wechseln sollte). Dort machte er politische Karriere. Er wurde Landesvorsitzender und kam in den Bundesvorstand, brachte es zum Senator (so heißen in Berlin die Landesminister) und Bürgermeister. Lederer ist lebenslang ein bekennender Sozialist, nicht nur ein Mitglied der „Linken“, sondern ein Linker durch und durch. Damit hat er sich nicht nur in der eigenen Partei enormes Ansehen erworben, sondern – bei allen inhaltlichen Gegensätzen – auch beim politischen Gegner.
Nach 32 Jahren ist Klaus Lederer nun aus der „Linken“ ausgetreten. Das ist mehr als nur eine lokale Anekdote. Viel mehr.
Der Abgang des gebürtigen Schweriners markiert den bisherigen Höhepunkt eines innerparteilichen Selbstzerfleischungsprozesses. Die Partei schafft es nun schon bundesweit über mehrere Jahre hinweg, erfahrene und zum Ausgleich fähige Spitzenleute wie Gregor Gysi oder Dietmar Bartsch durch enorm ehrgeizige, selbstverliebte Konflikt-Kader wie Janine Wissler oder Susanne Hennig-Wellsow zu ersetzen. Die haben die mit weitem Abstand populärste Linke, Sahra Wagenknecht, letztlich weggemobbt, dafür erwartbar desaströse Wahlergebnisse eingefahren und den ganzen Laden in eine existenzbedrohende Krise gesteuert.
Ist der Erfolg erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert: Das dachte sich wohl der egozentrische Flügel der „Linken“ beim Berliner Landesparteitag vor knapp zwei Wochen. Da lag ein Antrag gegen Judenhass vor. Darin wurde auch der „eliminatorische Antisemitismus“ von links auf Berlins Straßen beklagt. Es ging also um Kritik am eigenen Milieu.
Doch mittels Änderungsanträgen wurde der Text – nun ja, Olli Kahn würde wohl sagen: komplett enteiert. Die Kritik am linken Antisemitismus wurde gestrichen. Entfernt wurde auch die Feststellung, dass Hamas und Hisbollah keine Befreiungsbewegungen seien, sondern ihr Terror die Auslöschung von Israel zum Ziel habe.
Wegen dieser Änderungen verließen etliche Delegierte empört den Parteitag. Auch Lederer war dabei. Mit Spannung wurde deshalb eine Sondersitzung des Landesvorstands der Berliner „Linken“ am Dienstag erwartet. Man hoffte auf ein Zeichen des Ausgleichs.
Falsch gehofft.
Der Vorstand beschloss zwar ein Maßnahmenpaket gegen Antisemitismus und ließ wissen, man stehe „entschlossen gegen jeden Antisemitismus“. Weiter heißt es jedoch: „Unsere Solidarität endet aber dort, wo das Massaker des 7. Oktober als Akt des Widerstandes gefeiert wird oder die Kriegsverbrechen der israelischen Armee bejubelt werden.“
Tatsächlich hatten Parteimitglieder, besonders aus dem berüchtigten Bezirk Neukölln, das Massaker der Hamas-Terroristen an israelischen Zivilisten mehrfach als „Befreiungskampf“ bezeichnet. Es ist aber kein einziger Fall bekannt, wo auch nur ein „Linke“-Mitglied etwaige Kriegsverbrechen israelischer Truppen in Gaza bejubelt hätte. Der Vorstand entschied sich also zu einer Doppel-Distanzierung gegen ein sehr reales Anti-Israel-Problem einerseits – und gegen ein frei erfundenes Pro-Israel-Problem andererseits.
Das war für Lederer der eine Tropfen zu viel, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Mit ihm sind gleich mehrere Partei-Promis ausgetreten: die früheren Fraktionsvorsitzenden im Berliner Abgeordnetenhaus, Carsten Schatz und Udo Wolf, Ex-Sozialsenatorin Elke Breitenbach, Ex-Bausenator Sebastian Scheel, der Abgeordnete und Rechtsexperte Sebastian Schlüsselburg und der Ex-Bezirksbürgermeister von Pankow, Sören Benn. „Die Partei ist strategieunfähig. Sie ist kein Gestaltungsprojekt, sondern ein Identitätsprojekt“, schrieb Benn zur Begründung seines Austritts.
Die Partei sei „mutiert zu den Zeugen Jehovas der Politik“.
Es sei „immer weniger möglich, uns in unserem Landesverband für unsere inhaltlichen Positionen und unsere strategischen Orientierungen einzusetzen“, schreiben die anderen. Das gelte nicht nur in Bezug zum Antisemitismus, sondern zum Beispiel auch bei der Solidarität mit der Ukraine. Dort wie in anderen „für unser Selbstverständnis zentralen“ Fragen stünden sich in der „Linken“ inzwischen miteinander unvereinbare Positionen gegenüber. Eine notwendige sachlich-inhaltliche Klärung dazu finde nicht mehr statt.
Der aktuelle Streit wird zwar in Berlin ausgetragen. Er bildet aber das Problem ab, das die Gesamtpartei überall mit sich hat. Hinter vorgehaltener Hand hört man auch aus anderen Landesverbänden und aus der Bundespartei immer dasselbe: Offene Differenzen werden verbal umschifft, ohne sie auszutragen; Appelle zur Geschlossenheit ersetzen die inhaltliche Debatte; organisatorischer Aktivismus ersetzt eine strategische Planung.
Und da ist dann noch der Antisemitismus.
Nicht nur Klaus Lederer beklagt die kognitive Dissonanz des linken politischen Spektrums in dieser Frage. Wenn man den Nationalsozialismus inhaltlich auf einen einzigen Kern reduzieren sollte, dann könnte das nur der Holocaust sein. Wenn etwas „Nazi“ ist, dann ist es der Judenhass. Im ganzen Land gehen Linke andauernd gegen „Nazis“ auf die Straße und beschimpfen praktisch jeden, der eine auch nur leicht abweichende Meinung vertritt, ebenfalls als „Nazi“.
Aber weitgehend dieselben Leute binden sich ohne Not Palästinenser-Tücher um den Hals, bejubeln auf Demonstrationen die Forderung nach der Auslöschung Israels (nichts anderes bedeutet „From the river to the sea“ ja) und fraternisieren mit Zuwanderern aus dem arabischen Raum, die wenig Scheu haben, ihren kulturell eingebrannten Antisemitismus offen zur Schau zu stellen.
Linke protestieren gegen „Nazis“, sind aber wegen ihres Judenhasses in Wahrheit selbst welche.
Man darf schon die Frage stellen, ob es wohl in der AfD mehr Antisemiten gibt – oder bei der „Linken“ und den Grünen? So würde Klaus Lederer das sicher nicht formulieren. Aber dass seine Ex-Partei da ein veritables Problem hat, an dessen Lösung er nicht mehr glaubt: Das hat er durch seinen Austritt signalisiert – zumindest für diejenigen, die in der Lage sind, solche Signale zu lesen.
Und so gilt Lederer nun also als streitbar. Für einen, der die Dinge hierbei einmal beim Namen nennt und sagt, was er denkt, ist da die Beförderung zu „umstritten“ nur eine Frage der Zeit.