Der Besuch einer dieser hoffnungslos überfüllten Asylbewerberaufnahmestellen gehört für Politiker heute zum Tagesgeschäft. Bestenfalls dokumentieren Gespräche vor laufenden Kameras mit Flüchtlingen, aber auch mit einheimischen Anwohnern, den guten Willen der Macht. Ein Tag im Leben des Politikers also. Oder die eine schnelle Stunde zwischendurch.
Beim Leserforum ist die Welt noch in Ordnung
Die örtliche Tageszeitung veranstaltet ein „Leserforum“ ausgerechnet in einer missionierenden freikirchlichen Gemeinde nahe der Landesaufnahmebehörde und siehe da: Alles ist gut. Und was nicht gut ist, ist eben tragischer Einzelfall, ein gesamtgesellschaftliches und kein spezifisches Problem. Diese eine Stunde Ortstermin im Leben des Politikers bleibt davon jedenfalls verschont.
So könnte man diese Stunde im Leben der 17-Jährigen S., Asylbewerberin aus Afrika, ignorieren. Aus Sorge, damit möglicherweise Stimmung zu machen. Negative Gefühle auszulösen. Dennoch verdient gerade das Einzelschicksal eine genauere Betrachtung. So liest sich ein Krankentransport-Bericht* zum Notfallgeschehen so:
- „Pat. wurde im Waldgebiet in der Nähe der LAB (Autor: Landesaufnahmebehörde) von zwei männl. Personen sexuell genötigt; bei Eintreffen war Pat. sichtbar aufgelöst. (…) Erstdiagnose des Notarztes: „psychischer Ausnahmezustand nach sex. Übergriff.“ (* Unterlagen liegen dem Autor vor.)
- Der Zustand des 20-jährigen Freundes der S. wurde so beschrieben: „Pat. hat seine Freundin begleitet, als diese im Wald von 2 Unbekannten Männern sexuell genötigt wurde. Bei Eintreffen Pat. leicht aufgeregt, soll lt. Aussagen von Zeugen vorher kurz synkopiert (Autor: ohnmächtig) sein (…) Erstdiagnose hier: „Kreislaufdisregulation + psych. Erregungszust.“
Besagte örtliche Zeitung weiß später, dass einer von den beiden Tätern (Schwarzafrikaner), inhaftiert wurde. Als der erste Polizist im Wald am Tatort eintraf, befand er sich in einem Funkloch und musste seine Kollegen mit einem Signalschuss aus seiner Dienstwaffe über seinen Standort informieren. Anwohner dachten zunächst, es sei ein Jäger unterwegs gewesen – denn es gibt Rotwild im Forst.
Ein Fall, der nicht berichtenswert ist
In einer etwa 40 Kilometer entfernten LAB wird in der gleichen Woche ein 17-jähriger männlicher Nordafrikaner bewusstlos und vergewaltigt in der Dusche aufgefunden. Die Zeitung berichtet nicht. Niemand berichtet. Nur ein Polizist gegenüber Bekannten. Berichtet er wahrheitsgemäß? Jedenfalls sind die Opfer in beiden Fällen Minderjährige. Alleinreisende? Gilt der 20-jährige Freund der 17-jährigen nach deutschem Gesetz als ausreichende Begleitung? Oder liegt hier im Zweifel eine Aufsichtspflichtverletzung der Behörden vor?
Engagierte Anwohner organisieren ein großes internationales Fest vor der LAB. Menschen der Siedlung kommen zu Kaffee und Kuchen, zu Spielen und Gegrilltem mit den Fremden zusammen. Ein großer Erfolg, bestätigen beide Seiten. Aktuell wird gerade eine Sprayergruppe gegründet, man will zunächst gemeinsam mit jungen Asylbewerbern ein überdimensionales „Welcome“-Schild gestalten. Die Einheimischen sind also zum Dialog mehr als bereit. Sie wollen, dass sich die Dinge zum Positiven hin wenden oder das, was bereits positiv ist, allen zugute kommt. Wer dagegen etwas zu sagen hat, der braucht gute Argumente oder eine ziemlich düstere Auffassung von menschlichem Zusammenleben. Nein, das Engagement dieser Leute ist aller Ehren wert.
Ohne Willkommenskultur geht es nicht
Der Vorort hat 4.000 Bewohner. Hinter dem nahen Waldstück leben jetzt fast noch einmal so viele, wo eigentlich nur maximal 650 vernünftig untergebracht werden können. Eine Sachverhalt, den man nicht schön reden kann. Nicht für die Menschen, die dort ankommen und etwas völlig anderes erträumt hatten. Ebenso wenig wie den Menschen, die schon da und bisher zufrieden sind, wie es ist. Der Leiter der Landesaufnahmebehörde hat für die örtliche Zeitung dann allerdings einen merkwürdige Erklärungsansatz zu den Schlägereien seiner Bewohner in und außerhalb seiner LAB: „Das ist dem natürlichen Sinn eines Menschen und einer entsprechenden Solidarisierung zu Gruppen mit den selben Einstellungen und Ansichten geschuldet.“
Zu einer Massenschlägerei unter Asylbewerbern mitten im Wohnviertel heißt es in einer gesonderten Stellungnahme der Rettungstransporter:
- „Vor Ort herrscht zunächst ein ausgedehnter Tumult. Mehrere Personen (ca. 20) waren in eine Auseinandersetzung verwickelt. (…) Aufgrund der Situation vor Ort, versuchten wir uns auf dem dortigen ALDI-Parkplatz im hinteren Bereich in Sicherheit zu bringen, da wir auf unseren Eigenschutz primär Wert legten. Bei diesem Vorhaben beobachteten wir, wie mehrere Beteiligte Glasflaschen auf dem Boden zerschlugen. Um damit aufeinander loszugehen. Ein Beteiligter entwendete eine Steinplatte aus dem Gehweg und rannte damit hinter einer Person her. Diesen dabei in Wurfbereitschaft über dem Kopf. Während dieser Zeit flog eine Glasflasche (anscheinend gezielt) auf unseren RTW und beschädigte diesen an der Schiebetür rechts. Bis zum Eintreffen der Polizei verblieben wir dementsprechend im Fahrzeug.“
- Behandelt wurde auch ein Zwanzigjähriger Asylbewerber aus Afrika: „Pat. wach + ansprechbar. Z.n. (Autor: Zustand nach) Massenschlägerei, stehend angetroffen. Schnitt und Platzwunden Schulter RE sowie Augenbraue LI. Spricht kein deutsch. Nur dürftig englisch. Keine genauen Infos möglich! (Schmerzen, CC, Tetanus etc.) Angriff wohl mit einer Bierflasche.“
Lustig wie auf dem Oktoberfest
Die Presse berichtet am Folgetag, die Polizei spreche von einem Wunder, dass bei dieser Massenschlägerei niemand getötet wurde. Auf Facebook werden die Vorfälle mit solchen auf dem Münchner Oktoberfest verglichen – und der absonderliche Vergleich wird binnen Stunden zweistellig geliked. Die Örtliche erhält anonyme Briefe angeblich direkt aus dem Polizeirevier und titelt daraufhin: „Hilferuf aus der Polizei: Wir sind am Ende!“
Ein auf die Schlägereien angesprochener Asylbewerber aus Afrika ist sich sicher, diese „Fights“ lägen daran, dass die Moslems in ihren Herkunftsländern keinen Alkohol trinken durften. Das würden sie jetzt hier alles nachholen. Aber die könnten nichts vertragen. Moslems wären nach einem Bier bereits völlig neben der Spur.
Eine Bürgerinitiative plant jetzt ein Begegnungszentrum auf der Strecke zwischen der LAB und den Einkaufsmärkten zu eröffnen. Ein weiteres Zeichen großen Engagements und bestes Zeichen der Bereitschaft, Dingen nicht ihren Lauf zu lassen, nicht nur zu debattieren und zu lamentieren, nicht zu verzweifeln oder sich in Wut zu verlieren, sondern für alle alles zu tun, was die Kräfte und Möglichkeiten zulassen. Also auch das aller Ehren wert und Spiegel einer Empathie, die wohl zum positivsten gehört, das deutsche Leitkultur heute anzubieten hat.
Der Straßenabschnitt, auf dem die Begegnungsstätte liegt, wird von Anwohnern auch „Die Karawane“ genannt. Das neue Zentrum in einem ehemaligen Kiosk soll Anlaufstelle sein, für die vielen offenen Fragen auf beiden Seiten.
Karawanserei im Büdchen
Nun kann ja die Idee einer Begegnungsstätte nie verkehrt sein. Komplizierter wird es leider, wenn sie direkt an Eigenheime grenzt. Die Zäune der besseren Baumarktqualität sind hier zwar mittlerweile übermannshoch, dennoch erfährt man von einem älteren Herrn mit Langhaardackel, dass von den ungefähr dreißig Häusern an der Karawanenroute angeblich nur zwei noch nicht ausgeraubt wurden. Man braucht jetzt nicht lange mutmaßen, wie die Anlieger auf die neue Einrichtung reagieren werden. Das dachten sich wohl auch die engagierten Initiatoren. Oder sie dachten dabei noch mehr an zureisende Nazis, jedenfalls verriet man bis vor kurzen nicht einmal den Standort, befürchtete man doch einen Brandanschlag schon vor der Eröffnung.
Eines der Eigenheime an der Karawane sticht mit seinem giftgrünem Anstrich heraus. Schaut man durch die Schlitze der Stahltore sieht man dahinter diverse Gartenbaumaschinen. Groß und breit steht vorne an der Straße ein Schild mit dem Hinweis „Polnische Firma“. Man baut hier also darauf, dass Vorbeifahrende den Mehrwert solch eines Angebotes erkennen: Der fleißige und preiswerte Pole, der beste Arbeit abliefert. Also ein Beispiel perfekter Integration? Die übrigen Anwohner haben auch Schilder aufgehängt. Als Absender wird allerdings die örtliche Polizei genannt. Gelbe Schilder in 10 x 20 cm warnen: „Vorsicht! Aufmerksamer Nachbar.“
Der Adressat dürfte klar sein, aber auf den Erfolg dieser Warnschild-Kampagne muss man wohl noch warten, bis Deutschkurse diesen nie abreißenden Strom der vorbeiziehenden 3-4 Tausend erreicht haben. Denn vorerst verstehen nur die Anwohner selbst die eigene Warnung. Will man sich gegenseitig Mut machen? Der Dackelfreund erzählt, dass nachts bis zu fünf Blaulichteinsätze die Straße hinunter Richtung LAB-Wald rasen. Jedes Mal schrecke er aus dem nach vier Einbrüchen sowieso schon unruhigen Schlaf hoch. Tagsüber wird an die Zäune uriniert, Müll über den Gartenzaun hinweg entsorgt – das wäre zwar noch sein Haus, aber nicht mehr sein Viertel.
Übergabe geglückt!
Mittags um 12 Uhr wirft allerdings gerade niemand Müll und es pinkelt auch keiner. Es gibt also doch Verschnaufpausen. Eine jüngere Anwohnerin steht mit voller Plastiktüte schon eine Weile zögerlich an der Straße in der mittäglichen Herbstsonne, als sie endlich unter den vielen jungen Männern eine Asylbewerberfamilie mit Kindern entdeckt, sich runterbeugt und zwei kleinen Mädchen jeweils ein Stofftier aus der Tüte in die Hände zaubert. Die Begeisterung ist allerdings zunächst verhalten, die Augen schauen dunkel, die Gesichter bleiben ernst, aber dann drücken die Kinder die Tiere doch eng an ihre Jacken und die Väter bedanken sich knapp und verlegen, während die Schenkende noch eine Weile mit sich und der geglückten Übergabe zu ringen scheint.
Aber es ist noch mehr los auf der Karawanenstraße: Inserate im Internet verweisen auf eine Begegnungsstätte ganz anderer Art, die sich ebenfalls auf der Straße befinden soll: Zunächst ein Haus wie alle anderen. Auch hier ein stahltürenverbauter Vorgarten. Eine goldene Klingel. Dahinter arbeiten allerdings eine Dame aus Thailand, eine aus Russland und noch eine weitere aus dem Ostblock. Die Russin wirbt damit, sie würde ihre Gäste „in ein Reich aus Sinnlichkeit und Lust entführen“. Die Asiatin verspricht eine „Oberweite:75 A, stehend“ und den Service „EL“, aber nur, „wenn rasiert“.
Ein Einkaufsmarkt liegt 200 Meter entfernt. Die martialisch anmutenden schusssicheren Westen der Security sind selbsterklärend: Abschreckung für die Asylbewerber und Sicherheitsgefühl für die Anwohner. Sicherheit ist das Stichwort: Mehrmals die Woche schickt die Polizei ein Infomobil zu den Märkten. Hier bekommen Anwohner hilfreiche Tipps zur Haussicherung. Das Mobil ähnelt einem dieser Marktverkaufswagen für Fisch oder Wurstwaren, nur, dass dieser Blaulicht hat. Das uniformierte Personal punktet mit der Freundlichkeit erfahrener Kontaktbeamter.
Geduldig hört man sich hier die mal hingeflüsterten oder schon empörter geäußerten Beschwerden an. Und die Kulisse bietet mitunter das passende Anschauungsmaterial: Auf den Grünstreifen zwischen den Parklücken, an den Bushaltestellen und vor und zwischen den Hecken sitzen Gruppen Biertrinkender Asylbewerber. Der Grund könnte ganz einfach sein: wo soll man dann auch hingehen, wenn man ein Bier trinken will? Kneipenbier ist teuer. Und im Markt kostet das 0,33l Penny-Adelskronen nur 0,39 Cent.
Alarmiert vom Bierkonsum, bittet die Örtliche Zeitung ihre Leser um ihr Votum in Sachen „Alkoholverbot für die LAB“. Das Ergebnis ist wenig überraschend: 95 Prozent sind dafür. Und das Bündnis gegen Rechts meint sofort, dass man mit solchen Fragen die vorhandenen Ressentiments gegen die Flüchtlinge noch weiter schürt: „Bei jedem Volks-, Dorf- oder Schützenfest kommt es nach zu viel Alkohol oft zu Massenschlägereien … doch deshalb kommt niemand auf die Idee, dort ein Alkoholverbot zu verhängen.“
Friedvolles Multikulti in der Kaserne
Die LAB ist rundherum zwei Meter hoch eingezäunt. Über dem Zaun hängt Stück an Stück die trocknende Wäsche der Bewohner. Dahinter wäre auf einem breiten Grünstreifen zwar Platz für etliche Wäschespinnen, aber auf die Idee solche zu beschaffen, scheint hier noch keiner gekommen zu sein. Vielleicht sogar besser, denn die bunten Bekleidungsstücke wirken fast anrührend friedlich, Moslemjacke an Christenhose, das Shirt von der Elfenbeinküste neben dem Rock aus der Schneiderei in Damaskus. Ganz anders, als diese Einrichtung noch eine militärisch durchdisziplinierte Kaserne war. Was damals undenkbar gewesen wäre, erinnert jetzt an tibetanische Gebetsfahnen im Wind. Mindestens Pazifisten sollten diese Zäsur als Fest empfinden.
Neulich am Abend dann wieder Polizei- und Feuerwehreinsatz. Laut Auskunft einer Nachbarin brennt es wohl im Keller der LAB. Verletzt wurde allerdings niemand. Wohl nur eine weggeworfene Zigarette. Zumindest steht darüber am nächsten Tag nichts in der Zeitung. Auch nichts darüber, wie es den beiden Minderjährigen geht. Sind sie noch in den Landesaufnahmebehörden? Wird die 17-Jährige beim Essen holen in der Mensa wieder auf ihre Peiniger treffen? Einer war zwischenzeitlich immerhin inhaftiert. Wurde der andere verlegt? Oder das Mädchen? Und was macht der Gesundheitszustand des 17-Jährigen in der Gemeinschaftsdusche vergewaltigten Jungen? Stimmt, was der Polizist anonym berichtete? Und wenn ja, wird der Junge psychologisch betreut? Sind seine Vergewaltiger dingfest gemacht worden? Ermittelt eine Sonderkommission?
Fragen über Fragen. Aufgaben über Aufgaben. Betroffene Bürger, die in ihrem Umfeld alles geben, die sich noch über den Rahmen ihrer Möglichkeiten hinaus ehrenamtlich engagieren, aber auch solche, deren Wut über die Arbeitsverweigerung der eigenen Regierung sich gegen Menschen richtet, die für sich und ihre Leben eine Entscheidung getroffen haben, die ihnen keiner verdenken kann. Deren Verzweiflung aber nicht automatisch dadurch beendet wird, indem man sie in überfüllte Kasernen einweist und einem monatelangen Kräfte raubendem Asylverfahren unterzieht, das auch in wenigen Wochen erledigt sein könnte, wenn die Bundesregierung ihre Arbeit auch nur ansatzweise erledigt hätte, anstatt sich hinter einer für die Belange aller Seiten ungenügenden emotional correctness zu verstecken.
Und um noch einen fatalistischen Gedanken als Mahnung an die schärfsten Kritiker der Zuwanderung hinterherzuschicken: Ich halte es da tatsächlich einmal mit Hendryk M. Broder, der jüngst feststellte, das Kind sei in den Brunnen gefallen, die Tatsachen also unumkehrbar. Den engagierten Bürgern in den Ortsteilen sollte also ab sofort mindestens unser Respekt gehören, denn auch das Ergebnis ihrer Arbeit wird in Zukunft ein Stützpfeiler sein können, das mühsame Zusammenleben zwischen alten und neuen Bürgern versöhnlicher zu gestalten. Und Zusammenleben werden wir müssen. Ohne wenn und aber.