Tichys Einblick
EU-Wahlkampf

Die ideologische Klaviatur der rot-grünen Spitzenkandidaten

Der EU-Wahlkampf der Grünen und Roten startet müde.

Carsten Koall/Getty Images

Berlin war bei der Auftaktveranstaltung der Grünen neulich mit ihren Spitzenkandidaten Franziska „Ska“ Keller und ihrem Kollegen aus dem Parlament der EU, Sven Giegold (einst Attac-Gründer und Koordinator), in tristem Grau gehalten. Es nieselte und war ziemlich nasskalt. Was ein paar hartgesottene Mitstreiter und Sympathisanten keineswegs davon abhielt, sich vor dem Podium am Brandenburger Tor einzufinden.

So richtig zieht der EU-Wahlkampf der Grünen nicht (auch wenn in der Partei und in verliebten Jubelmedien das Gegenteil behauptete wird – volle Säle nur unter ihresgleichen). Auch die Parteifarbe sowie das Emblem der Sonnenblume wollen nicht so richtig leuchten.

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Da müssen schon Ska Keller, die Spitzenkandidatin der Grünen im Parlament der EU, und Sven Giegold, gehörig in die Pedale steigen, um für gute Stimmung zu sorgen. Denn nur im Windschatten der omnipräsenten Parteivorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock werden sie vergleichsweise sehr wenig wahrgenommen – aber exakt davon profitieren Keller und Giegold. Die Grünen sind seit Monaten im Stimmungshoch, weil sie als Gegengewicht mit ihren (privilegierten) Anhängern zur anderen Alternativen (die AfD ist gemeint), gesehen und wahrgenommen werden.

Zwei eher extreme politische Positionen, die die gesunde Mitte in Deutschland gerade wie einen Parmesan zerreiben. Jedenfalls zählt die SPD, mit ihrer weggelobten Spitzenkandidatin und Noch-Justizministerin, Katarina Barley („Europäischer als ich geht nicht – von der Haarspitze bis zum großen Zeh“, so ihr Hauptargument) auch nicht mehr zur gesunden demokratischen Mitte. Im Gegenteil, aber dazu kommen wir noch.

Ska Keller dagegen wirkt so, als habe sie kurz vor dem Auftritt 10 Espressi getrunken, denn so übertrieben euphorisch, ja aufgekratzt, wirkte ihr Auftritt insgesamt schon eine Spur zu grotesk; gerade dann, wenn man beobachten konnte, wie ihr Mitstreiter Giegold das krasse Gegenteil verkörperte und fast zu einer Einheit mit dem grauen Wetter verschmolz. Klimawandel, auch auf dem Podium.

Ska Keller, eine bekennende Kommunistin und Antifa-Unterstützerin, hüpft von einem Bein aufs andere, geht auf die Zehenspitzen, und erreicht auch stets das grüne Mikro vor sich. Wie eine Radiomoderatorin für Kids und Teenager wiederholt sie Worte mehrmals. Natürlich, „sind wir schon alle seit Tagen und Monaten unterwegs“, aber jetzt, ne?, gehe es „so richtig, richtig los …“, gemeint ist der Wahlkampf.

An etlichen Haustüren haben sie geklopft, aber jetzt, die letzten vier Wochen Wahlkampf, „minus ein Tag, weil gestern war ja Sonntag“, gluckst Keller zwinkernd, „Jetzt gilt’s“, ja, jetzt gehe es so „richtig los“.

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Jaha, wir haben’s begriffen. Jedenfalls lächelt Sven Giegold fast schon ein wenig gequält bei so viel Show, das ist nicht so sein Metier. Ska Keller weiter, in allen Bundesländern, „aber klar auch in Europa“, seien die beiden „jetzt“ unterwegs. Mit den Armen fächert Keller umher, man habe „jetzt einfach eine sehr, sehr gute Stimmung“, ja, nicht nur in der Partei, sondern überall würde das draußen von den Leuten bestätigt.

Nun, in Berlin fröstelten die wenigen Anwesenden aus der Partei, aber die Spitzenkandidatin redete sich warm: „Viele kommen jetzt auf uns zu, jawohl, ich möchte mich einsetzen, mitmachen, ich lasse nicht zu, dass meine Zukunft von anderen entschieden wird, dass mein Europa, von den Rechtnationalisten kaputt gemacht wird …“, es gehe um viel – man wolle etwas zusammen tun, für den sozialen Zusammenhalt, und „gegen die Klimakrise“.

Ein bisschen zu viele Wiederholungen und Doppler und übertriebene Betonungen, aber das machen sie ja im Privatradio oder als Einpeitscher bei Spielshows sowie bei den gängigen Musiksendern auch immer. Ska Keller und die Grünen tun genau das, was sie den anderen konservativen Parteien vorwerfen. Wichtige und schwierige Themen ganz vereinfacht darbieten. Fast schon infantil. Aber sie kennen ja ihre Wählerschicht. Die Ska, der Sven, und der Robert mit der Annalena. Fehlt nur noch Katha Schulze aus Bayern. Nur sie könnte Ska Keller im Redeschwall der Allgemeinplätze und Tiraden noch überbieten.

Dass es aber eigentlich um die Zusammensetzung und Regularien der EU geht bei der kommenden Wahl, nämlich exakt um das Parlament und die Kommission, das Ska Keller via Steuerzahler üppig bezahlt, genauso Sven Giegold, damit sie tagein, tagaus, agitieren können, darüber reden sie natürlich nicht.

Nicht Ska Keller und auch nicht Sven Giegold, der dann auch mal ans Mikro darf, nachdem ihn Ska Keller glucksend und tänzelnd „anmoderiert“. Da ist Ska jedenfalls ganz gespannt, „wie’s weitergeht“, und „ja, Sven, was sagst Du dazu?“ Sven Giegold, 69er Jahrgang, erst seit 2008 bei den Grünen, aber seine Karriere verlief steil als Kapitalismuskritiker und Globalisierungsgegner, besetzte schnell eine Nische in der Partei. Die Parteiarbeit kam gerade recht, da Attac auch nicht so richtig auf die Beine kam.

Nun spricht Giegold und meint überrascht, ja, „was sag ich dazu …“, neben dem Dauersmiley Ska Keller, „Liebe Freundinnen und Freunde, wir stehen stark da, in den Umfragen“, und das würden sie jetzt in „Stimmen verwandeln“. Es wirkt hölzern auswendig gelernt, für ein EU-Europa, das „Klimaschutz ernst nimmt“, und genauso ernst wie ein (bitte nicht vergessen – massiver Kontrast zu der Wibbelig- und Hibbeligkeit der Ska Keller) dröger Schulmeister spricht er ins Bündnis 90-grüne Mikro. Natürlich, die Stimmen für „ein Europa“, das demokratisch handlungsfähig wird, und „für ein Europa“, das Bürgerrechte „ernst nimmt.“ Die Mehrheit der Deutschen wolle ein Europa, und eben „keine Abkehr“ von Europa.

Man müsste fast schon hineinrufen, wer bitteschön, wolle denn eine Abkehr von Europa? Die pure tiefrotgrüne Ideologie, Ängste zu schüren und berechtigte EU-Kritik unter den Bürgern zu diffamieren.

Das Beste aber, die meisten Bürger seien bereit, „in ein gemeinsames Europa“ zu investieren. Was genau? Zeit, Arbeit, Freizeit, noch mehr Steuern? Giegold hat in gewisser Weise Recht, Europa ist fast allen Menschen wichtig, aber nicht unter dieser bestehenden EU.

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Es ist die Kunst von Ideologen und Demagogen, ihren Gegnern Dinge oder Argumente unterzujubeln, mangels Zugkraft eigener Trends und Ideen. Ihre Überzeugungen werden dann schnell zum Programm. Giegold redet weiter, ein Mann, der spartanisch mit einer einzigen Mimik und Gestik auszukommen scheint, dabei über seine Brille lugt und den Kopf nur minimal zu seiner recht lauten Rede, die wie im ewigen Stimmbruch klingt, hin und her bewegt – fern schweift sein Blick Richtung Horizont ohne erkennbaren Bezugspunkt. Wohin nur? Ach, ja, zum 26. Mai, da „muss jeder grün wählen“, und das wolle man durch die Republik tragen. Mit Robert und Annalena. Am Ende dreht auch Giegold auf, „und dieses Europa ist zweifach gefährdet“, so Giegold, von denen, die „Europa kaputt machen wollen.“ Da seien sich alle „Pro-Europäer“ einig, „wir wollen“ keine AfD und Salvinis, und so weiter. Aber Europa ist auch von denen gefährdet, die so „weiterwursteln“, in Groko-Manier und für Stillstand stehen.

Hören wir uns doch mal beim Groko-Koalitionär, der SPD, um. Zur Auftaktkundgebung in Mainz. Katarina Barley, Justizministerin, man kann auch sagen, seit #Chemnitz eine Art Chefideologin neben ihrem Pendant Heiko Maas, steht auf dem Gutenbergplatz in Mainz nicht allein. Ganz in rot, fast schon typisch, flankiert die rheinlandpfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer ihre Genossin Barley, die ihre bekannte Schallplatte abspielt, sie sei komplett europäisch, „britischer Vater, deutsche Mutter“, und sie habe zwei Kinder mit einem Mann, der wiederum bilingual, spanisch-holländisch, geprägt sei von Zuhause.

Malu Dreyer redet wie die Grünen in Berlin, gegen das schlechte Wetter und allealle schlechten Menschen an. Malu Dreyer soll nämlich Katarina Barley in Mainz anmoderieren und die Werbetrommel rühren. Die SPD-Umfragewerte sind offenkundig wie das Wetter, mies. Aber keine Sorge, gesetzt als Spitzenkandidatin, wird es Barley sicher nach Brüssel schaffen. Doch – was dann in Brüssel und Straßburg?

Katarina Barley wird von der SPD nochmals beschenkt, denn schon nach der nächsten Wahl der Bundesregierung, Neuwahlen schwirren stete im Orbit, wäre Barley wohl ihr Justizministerium los, in dem sie noch nicht wirklich viel bewirkte, außer laut nach „Quoten“ zu schreien, zu fordern, das Wahlrecht auf 16 Jahre herabzusetzen und gemeinsam mit der CDU für Urheberrecht und Uploadfilter zu stimmen und für soviel eigene Standhaftigkeit dann wiederum den Koalitionspartner in Punkto mangelnder Glaubwürdigkeit anzuranzen.

Während Malu Dreyer auf dem Marktplatz den Takt vorgibt, grüßt Barley von der Bühne, dreht sich, lacht und weist ihre Mitarbeiter an.

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Was hat Malu Dreyer gesagt? „Wir wollen einfach freizügig, offen und tolerant miteinander leben“, und damit das so bleibt, engagiere sich die SPD, die übrigens „als einzige Partei“ immer immun gewesen sei gegen „Rechtspopulismus“ und Rechtsextremismus. Das habe die Geschichte gezeigt, und sie betonte nochmals, „wir sind immun gegen Rechtspopulismus“. Die SPD stehe schlichtweg für ein soziales Europa. (Dem Autor stellt sich die Frage, ist nun ein Sigmar Gabriel auch ein Rechtspopulist, nach seinen vergangenen Kritiken an der FES-Studie?). Und, steht diese SPD tatsächlich innerhalb der EU mit ihren Genossen der PES, der europäischen Sozialisten, dafür, dass Europa sozialer und gerechter wurde, oder eher für das Gegenteil, dass sie über Jahre nicht lieferten und Handlanger von Lobbyisten wurden? Egal, Malu Dreyer, fährt auch ihr altkommunistisches Rhetorikprogramm, der Himmel zieht sich derweil immer weiter zu.

Katarina Barley, nun sichtlich bemüht, den Schwung aufzunehmen, warum sie das denn nun mache, mit der Wahl? Barley, der erste Grund: Sie selbst! Es kommt der Spruch, „von der Haarspitze, bis …“.

Ein weiterer Grund, weil es „Kräfte gibt, intern und außerhalb“, die dieses Europa nicht wollen, „wie wir es wollen“, das sei ihr Europa. Es gäbe viele, die „ihr Land first“ wollen. Das seien die Nationalisten. Schön zu beobachten, dass genau an dem Punkt plötzlich einige Passanten schnell abdrehen.

Barley aber redet sich um Kopf und Kragen, denn nationalistische Kräfte zerrten auch von außen an der „Europäischen Union“. Ja, Amerika, Russland und China, haben gar kein „Interesse an einer starken Europäischen Union…“, kurz, Europa sei von schlimmen Egoisten und Nationalisten umgeben. Man solle sich keine Illusionen machen, aber diese Länder wollen die EU eher zerstören. Deshalb wolle Barley unbedingt nach Brüssel. „Ich will nach Brüssel gehen“, als überzeugte Europäerin, sagt Katarina mindestens drei Mal.

Aber wie bei den Grünen, kein einziges Wort über die unkontrollierte Zuwanderung seit Jahren, mit zahlreichen nicht registrierten Personen, oder sogar mit Männern, die sich gleich mehrerer Identitäten bedienen, und das Sozialsystem dreist ausnutzen. Oder wie man den Gewalttätern und Kriminellen unter den Zuwanderern Herr werden wolle. Was geschieht mit einem Islam in Europa? Wie soll die Integration von Millionen Menschen ohne Qualifikationen geschehen, und das bei einem europaweiten Mindestlohn? Alles (unbeantwortete aber drängende) Fragen, die einfach ausgeblendet werden, sowohl in der kunterbunten heilen Welt von Ska und Sven bei den Grünen in Berlin, aber auch bei Malu Dreyer und Katarina Barley in Mainz. Keine Ideen und keinerlei Statements dazu. Die Fasnacht ist schon lang um, aber Katarina Barley haut noch einen hinaus: „Und ich möchte auch nach Brüssel gehen, weil Europa eine Sozialdemokratie braucht“, und weil „meine geliebte SPD“ derzeit in den Umfragen und in der Gunst schlechter dasteht, als sie „es wirklich verdient“. Kritiker und böse Spötter meinen (sogar im Willy-Brandt-Haus), nach unten sei noch Luft. Ein überaus zaghafter Höflichkeitsapplaus. Ungläubiges Staunen unter den feuchten Kapuzen ob so viel Kaltschnäuzigkeit.

Ob Rot oder Grün, die Angstkarte wird ausgereizt, und in beiden Parteien gibt man sich seinen Illusionen hin, von dem (Wieder-)Aufbau einer besseren Welt, die man selbst eingerissen hat. Die Bürger kommen darin nur dann vor, wenn sie das richtige wählen.

Die EU-Bürger machen sich schon lange ihren Reim darauf.


Giovanni Deriu, Dipl. Sozialpädagoge, Freier Journalist, ist seit 20 Jahren in der (interkulturellen) Erwachsenenbildung tätig.

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