Folgt man den offiziellen Verlautbarungen der Partner der neu aufgelegten GroKo, dann streben die Christdemokraten bis zur nächsten Bundestagswahl an, während der letzten Legislaturperiode an AfD und FDP verloren gegangene Wähler wieder zurückzugewinnen. Die Sozialdemokraten wollen dasselbe mit Blick auf diejenigen Wähler tun, die sie über einen schon längeren Zeitraum zunächst an Grüne und Linke und seit kurzem ebenfalls an die AfD verloren haben. Die Christdemokraten hoffen nach Bekunden ihrer neuen Generalsekretärin wieder in den Bereich der 40 Prozent, die Sozialdemokraten nach Bekunden ihres kommisarischen Parteivorsitzenden in den Bereich der 30 Prozent zu gelangen. Sie glauben, durch die Fortsetzung ihrer Koaltion ihre früheren Vormachtstellungen im gesamten deutschen Parteienspektrum wieder zurückerobern zu können.
Dass ihnen ein solches Comeback alter Zeiten gelingen wird, ist allerdings angesichts der inzwischen eingetretenen Veränderungen in der gesellschaftlichen und politischen Landschaft in Deutschland (und Europa) höchst unwahrscheinlich. Die Rückkehr zu den gewohnten politischen Verhältnissen wird zwar nicht nur von den Christdemokraten und den Sozialdemokraten sowie den Grünen, sondern insbesondere auch von den öffentlich-rechtlichen Medien beschworen. Dies zeugt jedoch keineswegs von deren Sinn für die gesellschaftlichen und politischen Realitäten. Es entspringt vielmehr einem Wunschdenken, das bei allen Bewahrern bestehender Verhältnisse, deren Zeit abgelaufen ist, zutage tritt.
Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa (und selbst den USA) durchziehen heute neue gesellschaftliche Konfliktlinien die politischen Landschaften, die von den Bewahrern bestehender Verhältnisse naturgemäß nicht zur Kenntnis genommen oder bestritten werden. Sie heben die alten Recht-Links-Konfliktlinien zwischen Markt- und Planwirtschaft zwar nicht einfach auf, überformen sie aber durch eine zweite Konfliktlinie zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus.
Am Beispiel der Vorgänge um die Essener Tafel zeigen sich die neuen Konfliktlinien, bei denen es nicht mehr in erster Linie um die Frage geht, in welchem Ausmaß bedürftigen Personen staatliche und/oder zivilgesellschaftliche Sozialleistungen zur Verfügung zu stellen sind, sondern ob in beliebiger Größenordnung Personen bezugsberechtigt sein können, die als Asylbewerber ins Land kommen und hier Aufnahme finden. Der Chef der Essener Tafel, Jörg Sartor, hat mit seiner Begrenzung des Zugangs zu seiner Tafel für Asylbewerber aus der Not heraus im Grunde nichts anderes getan als Sebastian Kurz mit der Schließung der Balkanroute und der Festlegung einer Obergrenze für Österreich. Auch er wurde deswegen seitens der versammelten Kosmopoliten im In- und Ausland des Rassismus (vielleicht auch des Nazismus) geziehen.
Hinter beiden Vorgängen verbirgt sich der grundsätzliche Konflikt um die Frage, ob seitens des Staates (oder auch der Zivilgesellschaft) den Interessen der eigenen Bevölkerung Vorrang gegenüber den Interessen von Zuwanderern einzuräumen ist, oder ob die Interessen beider als gleichrangig oder die der Zuwanderer gar als höherrangig einzustufen sind. Die gleiche Frage stellt sich auch im Kontext der EURO-Krise, wobei es hier nicht um den Interessenkonflikt zwischen nationaler Bevölkerung und Zuwanderern, sondern zwischen verschiedenen nationalen Bevölkerungen geht. Warum und in welchem Ausmaß soll eine Nation für die Schulden anderer Nationen haften, für deren Entstehung sie keine Verantwortung trägt und auf deren Abbau sie keinen Einfluß hat ? Befördert werden solche Fragen vor allem durch die voranschreitende Transnationalisierung und Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen bei gleichzeitig höchst unterschiedlicher gesamtwirtschaftlicher Produktivität und Leistungsfähigkeit. Sie setzen Fragen nach dem zukünftigen Verhältnis nationaler und supranationaler Interessen mehr denn je auf die Tagesordnung.
Die Kritik am grenzenlosen Zuzug von Flüchtlingen, der Übernahme von Schulden anderer Länder oder am weiteren Zuwachs der EU befördert laut Fischer einen „radikalen Nationalismus“, vor dessen Ergebnissen er dann folgendermaßen warnt: „Was ich nicht verstehe, ist Folgendes: In Deutschland haben wir das alles doch schon einmal bis zur bitteren Neige ausgekostet. Wir haben das Dritte Reich doch erlebt! Es gibt keine Kraft in der neueren deutschen Geschichte, die Deutschland derart zerstört hat wie der radikale Nationalismus.“
Mit anderen Worten: wer nationale Interessen über supranationale Interessen stellt, ist ein von Ängsten zerfressener Kriegstreiber, der sein eigenes Land und andere Länder ins Verderben stürzen wird. Das friedensstiftende Heil dieser Welt liegt demgegenüber im weiteren Ausbau internationaler und globaler Beziehungen sowie dem Abbau möglichst aller Grenzen auf sämtlichen Finanz-, Produkt- und Arbeitsmärkten.
Das von Fischer hier lautstark vertretene Credo des „No Borders, No Nations“ liegt auch dem neuen christ-sozialdemokratischen Koalitionsvertrag zugrunde, selbst wenn beim Thema Zuwanderung inzwischen eine Obergrenze von 220.000 Asylbewerbern pro Jahr vereinbart worden ist. Der weitere Zuzug so vieler Menschen aus den Armuts- und Kriegsgebieten dieser Welt wird Konflikte wie an der Essener Tafel weiter forcieren und die Konfliktlinien zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen weiter verschärfen. Hinzu kommt die nach wie vor ungelöste EURO- und Schuldenkrise, die mit der Wahl in Italien wieder ans Licht der Öffentlichkeit getreten ist. Nicht nur Griechenland, sondern auch Italien wird, unterstützt von Frankreich, angesichts einer steigenden Verschuldungsrate von inzwischen mehr als 130 Prozent zusätzliche Schuldenerleichterungen seitens seiner europäischen Gläubiger, allen voran Deutschland, verlangen. Das wird die spätestens seit der Griechenlandkrise schon bestehenden Konfliktlinien zwischen den Befürwortern und Gegnern solcher Forderungen nicht zuletzt in Deutschland befördern.
Absehbar ist vor diesem Hintegrund, dass die neue Koalition verschärfte europa-, finanz- und zuwanderungspolitische (Dauer-)Konflikte wird austragen müssen, die die von der Kanzlerin ständig beschworene Stabilität ihrer Regierung von vornherein unterhöhlen wird. Der vereinbarte Koalitionsvertrag wird dabei gegenüber der Frage, wer mit welcher Position in der Wählergunst gewinnt oder verliert, eine untergeordnete Rolle spielen. Zu erwarten ist daher in den nächsten Jahren ein opportunistisches Hin- und Her, sowie Vor- und Zurück unterschiedlichster Positionen, von dem wir nicht nur bei der SPD in letzter Zeit einen deutlichen Vorgeschmack bekommen haben. Das gemeinsame Band wird allenfalls ein kosmopolitischer Grundton mit Verweisen auf offene Grenzen, humanitäre Pflichten, europäische Solidarität und freien Handel sein, das vor allem die CDU mit der SPD verbindet, von der CSU aber inzwischen zusehends beargwöhnt wird.
Der durch die bisherige und weiter absehbare Regierungsarbeit beförderte Profilverlust wird das Ansehen der drei Koalitionsparteien in der Wählerschaft weiter schmälern. Das werden anstehende programmatische Versuche parteipolitischer Profilbildung nicht verhindern. Geprägt wird das öffentliche Bild insbesondere von Regierungsparteien nicht durch ihre Parteiprogramme, sondern durch ihr Regierungshandeln. Da sind selbst neu ernannte Generalsekretäre ziemlich einflusslos – es sei denn, sie grenzen sich wie Heiner Geißler rigoros gegen die eigene Regierung ab. Da dies weder bei den Christdemokraten noch bei den Sozialdemokraten zu erwarten ist, werden beide in Summe weiter an Zustimmung verlieren. Die Frage ist nur, wer in der neuen Verlierer-Koalition die meistern Federn lassen wird. Das wird nicht zuletzt auch von den vier Oppositionsparteien abhängen, deren Chancen auf Zugewinn in der Geschichte der Bundesrepublik selten so gut waren wie heute.
In bewegten Zeiten sind selbst mittelfristige politische Prognosen bekanntlich besonders unsicher und fehlerbehaftet. Ziemlich sicher dürfte aber sein, dass Christdemokraten und Sozialdemokraten bei der nächsten Bundestagswahl wohl zusammen keine fünfzig Prozent mehr erreichen werden. Wahrscheinlich ist das zumindest einem Teil ihrer Führungskader oder wenigstens einem Teil ihrer politischen Berater im Umfeld ihrer Parteistiftungen auch bewußt. Dort dürften sich daher schon heute die Parteistrategen mit der Frage befassen, welche Dreier-Koalition bei der kommenden Bundestagswahl anzustreben ist. Zwei Optionen bieten sich dafür derzeit an: eine schwarz-rot-grüne oder eine schwarz-rot-gelbe Koalition. Eine Neuauflage von Jamaika ist demgegenüber aufgrund des Ausstiegs der FDP aus den Sondierungsgesprächen eher unwahrscheinlich, während eine schwarz-blau-gelbe Koalition mit Blick auf eine Zusammenarbeit mit der AfD von CDU/CSU und FDP derzeit kategorisch ausgeschlossen wird.
Aufgrund der sich abzeichnenden weiteren Verschärfungen der Konfliktlinien zwischen kosmopolitischen und kommunitaritischen Politikansätzen ist eine schwarz-rot-grüne Kenia-Koalition diejenige Option, die derzeit die besten Aussichten auf Realisierung haben dürfte. Schon während der Jamaika-Sondierungen haben CDU, CSU und Grüne selbst in Fragen der Zuwanderung eine hohe Übereinstimmung erzielt, von anderen Themen wie Europa und Finanzen ganz zu schweigen. Dasselbe gilt für SPD und Grüne, die ohnehin, unter Einschluss der Linken, gerne regiert hätten, was ihnen seitens der Wähler aber nicht erlaubt worden ist. Viel spricht daher dafür, dass sich die Kosmopoliten in Deutschland angesichts des Niedergangs der beiden Volksparteien in Zukunft hinter einer Kenia-Koalition versammeln werden, um weiter das zu bekämpfen, was Joschka Fischer als Rückfall in einen „radikalen Nationalismus“ denunziert hat. Auch er setzt, wie inzwischen die gesamte grüne Parteiführung auf eine Koalition unter Führung der Christdemokraten und nicht mehr der Sozialdemokraten.
Unter den Christdemokraten wird es, insbesondere bei der CSU, manche geben, die eine schwarz-rot-gelbe Koalition einer schwarz-rot-grünen Koalition vorziehen würden. Eine solche Koalition hängt aber maßgeblich davon ab, wie kosmopolitisch oder kommunitaritisch sich die FDP in den nächsten Jahren positioniert. In den eingangs geschilderten Konfliktthemen der Zuwanderung, des EURO und der Finanzpolitik hat sie sich im Wahlkampf eher kommunitaristisch als kosmopolitisch positioniert. Mit ihrem Ausstieg aus den Jamaika-Sondierungsgesprächen hat sie diese Positionierung bestätigt. Trotzdem gibt es auch in der FDP, insbesondere in Handels- und Wirtschaftsfragen, starke kosmopolitische Verwurzelungen, die auf offene Märkte, freien Handel und die zusätzliche Erweiterung der EU setzen.
Hinzu kommt, dass die AfD sich gegenüber CDU/CSU und FDP als koalitionsbereit und koalitionsfähig zeigen müsste, was in der Partei allerdings umstritten ist. Ähnlich wie bei den Grünen der 80er Jahre spielt sich auch bei dieser neuen Partei eine Auseinandersetzung zwischen „Realos“ und „Fundis“ ab, deren Ausgang derzeit noch offen ist. Während die „Realos“ wohl eine möglichst baldige Regierungsbeteiligung nicht nur auf Landes-, sondern auch auf Bundesebene anstreben, setzen die „Fundis“ auf eine grundsätzliche Systemkritik und lehnen jede Zusammenarbeit mit den „Altparteien“ ab. Der Parteispitze unter Gauland, Meuthen und Weidel ist es bisher gelungen, trotz der Abgänge von Lucke und Petry ihren „gärigen Haufen“ soweit zusammenzuhalten, dass er von immer mehr Bürgern als Alternative zu den etablierten Parteien wahrgenommen und gewählt wird. Gelingt ihnen dies weiterhin, wird die AfD über kurz oder lang vor der Frage stehen, ob und mit wem sie Regierungsverantwortung übernehmen möchte. Vorerst wird es jedoch dabei bleiben, dass die etablierten Parteien, allen voran die CDU und CSU, selbst dann jede Zusammenarbeit mit der AfD ablehnen werden, wenn diese sich koalitionsbereit erklären würde.
Kommunitaristische Strömungen werden auch in Deutschland so zwar an gesellschaftlichem und politischem Gewicht und Einfluß gewinnen, auf Bundesebene werden sie aller Voraussicht nach aber auch in der kommenden Legislaturperiode ab 2021 keine Aussicht auf eine Übernahme der Regierungsgeschäfte haben. Deutschland wird deswegen auf mittlere Sicht ein von Kosmopoliten regiertes Land bleiben, in dem sich die gesellschaftlichen und politischen Konfliktlinien zwischen „linken“ Kosmopoliten und „rechten“ Kommunitaristen weiter verschärfen.