Tichys Einblick
Der grüne Machtinstinkt

Bei einem „Atomkompromiss“ teilen die Grünen die Schuld der FDP zu

Wie machen die Grünen, die wohl einem „Atomkompromiss“ zustimmen werden, aus einer Niederlage einen Sieg? Indem sie den bitteren Pokal der Niederlage einfach weiterreichen: an die FDP.

IMAGO/Future Image

Umso schwieriger sich die wirtschaftliche Situation gestaltet, desto dringlicher sehen sich die Grünen gezwungen, ihre Taktik zu ändern, wollen sie nicht ihre beiden grundlegenden Ziele gefährden. Als ideologisch leninistisch oder maoistisch aufgestellte Partei unterscheiden die Grünen stärker als alle anderen politischen Kräfte zwischen Strategie und Taktik. Weil ihr Ziel so hehr, so hypermoralisch ist, sehen sich die Grünen im Alltagskampf ermächtigt, auch jedes Mittel anzuwenden.

Alles, was sie tun, ist gut, sei es auch das Böseste, weil sie doch nur das wollen, was sie für das Beste halten. Und niemand außer den Grünen weiß, was für alle anderen Menschen das Beste ist. Im Grunde sind die Grünen eine Nanny-Partei. Sie haben die jesuitische Maxime übernommen, wonach der Zweck die Mittel heiligt, oder leninistisch ausgedrückt, der Zweck ist der Gipfelpunkt der Strategie, das Endziel, die innerweltliche Erlösung, die Taktik stellt die Gesamtheit der Mittel dar, die erforderlich sind, um das strategische Ziel zu erreichen.

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Ziel der Grünen ist erstens der vollständige Gesellschaftsumbau, die Errichtung des irdischen Paradieses, das sie momentan klimaneutrale Gesellschaft nennen, und zweitens – was oft vergessen wird – der persönliche Machterhalt und der Machtzuwachs der führenden Funktionäre, der Kretschmanns, Baerbocks, Langs und Habecks. Orwells „Farm der Tiere“ kann man auch als bitterböse Satire auf die Grünen lesen und den Satz: „Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher als die anderen“, als Charakterisierung ihres Denkens. Ego first.

Galt noch bis vor kurzem das Habecksche Dilemma: Entscheiden sich die führenden Parteifreunde der Grünen für die Kernkraft, ist die Partei weg, entscheiden sie sich dagegen, ist die Regierung, ist die Macht weg. Nicht nur, dass die EU die Atomenergie inzwischen als grüne Energie ansieht, wird angesichts der Wärme- und Stromkrise, allgemein der umfassenden Energiekrise, die der Treiber der Inflation und des wirtschaftlichen Niedergangs ist, nun in Fragen der Kernkraft eine taktische Volte notwendig. Und da den führenden Grünen nichts wichtiger ist als ihre persönliche Macht, wissen sie, weiß Robert Habeck, weiß Ricarda Lang, dass sie die Atomkraftwerke weiterlaufen lassen müssen. Die Krise kommt so oder so, sie kommt, außer die Ataman-Regierung überdenkt ihre Sanktionspolitik.

Doch mitten in der Vertiefung der Krise auch noch die drei Kernkraftwerke abzuschalten, würde das Fass zum Überlaufen bringen, womöglich wäre sogar der symbolische Schaden größer als der wirtschaftliche, der an sich schon immens ist. Die gesellschaftliche Wirkung ergibt sich aus wirtschaftlichen Fakten und symbolischen Erscheinungen. Und für Symbolik haben die Grüne seit jeher einen starken Instinkt, nicht einmal das primitivste oder geistlosestes Symbol würden sie verschmähen, wenn es dem Machtgewinn nutzt.

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Apropos geistlos: Die Grünen scheuten nicht davor zurück, mithilfe ihrer outgesourcten Presseabteilungen, den aktivistischen Journalisten in den öffentlich-rechtlichen Sendern und der Mehrzahl der anderen Medien, die banalsten, die geframtesten und die unwahrsten Behauptungen unters Volk zu bringen, weshalb die Kernkraftwerke unbedingt abzuschalten wären. Kognitive Dissonanz ist für Grüne ohnehin ein Fremdwort, wie folgende hübsche Parallelität zeigt: Als Robert Habeck behauptete, dass wir ein Wärme-, aber kein Stromproblem hätten, empfahl sein Staatsekretär und Vordenker Graichen zur gleichen Zeit den Firmen die Anschaffung von Notstromaggregaten. Vermutlich hat sich Graichen nur versprochen und Notwärmeaggregate gemeint.

Der faktische und wissenschaftliche Unfug, den Grüne von den „Kobolden“ und dem „Netz als Speicher“ bis hin zur Pendlerpauschale, die nur für Autofahrer gelten würde, fast täglich äußern, stellt inzwischen ein eigenes Genre dar.

Es mehren sich nun die Anzeichen, dass die Grünen die Laufzeitverlängerung der drei Kernkraftwerke zwar nicht aus innerer Überzeugung, aber dennoch akzeptieren könnten. Sie haben alle Einwände ausgereizt, es wird ernst, es geht um die Macht. An diesem Punkt werden Grüne immer sehr nervös, sehr aktiv und immer sehr agil – eine taktische Wende muss so vorbereitet werden, dass aus dem Verliererthema im Sinne der Machtakkumulation ein Siegerthema wird.

Im Februar hatte sich Habeck bereits die Tür zumindest einen Spaltbreit offengelassen, als er mahnte, „Denktabus“ aufzugeben. Auf die Frage nach Laufzeitverlängerung wich Habeck am Wochenende aus, indem er schwammig formulierte: „Für mich ist die Risiko-Nutzen-Abwägung die entscheidende …“, heißt: neue Lage, neue Entscheidung. Wenn „plötzlich“ der Nutzen die Risiken überwiegt, würde nach außen Habeck nicht seine Meinung ändern, sondern sich nur konsequent verhalten. Alles kommt im Spiel der Macht auf das Timing, auf den richtigen Zeitpunkt an. Dass das grüne Kalkül des politisch richtigen Zeitpunkts für die Menschen in Deutschland teuer wird, interessiert Robert Habeck nicht, der mit Deutschland noch nie etwas anzufangen wusste. Außerdem kann er steigenden Energiepreisen etwas Gutes abgewinnen, explodierende Preise zwingen die Menschen zum Energiesparen – zynischer geht es nicht.

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Bei „Anne Will“ am Sonntag schloss die Grünen-Parteichefin Ricarda Lang längere Laufzeiten zwar aus, doch schwurbelte sie ihrem großen Minister hinterher: „Sollte man da sehen, dass anders, als es bisher alle Zahlen zeigen, eine Strommangellage erwartbar ist, werden wir natürlich alle Maßnahmen noch einmal auf den Tisch setzen.“ Dass Lang die Zahlen nicht kennt, ist klar, denn Macht ist für sie stärker als Realität, oder anders ausgedrückt: Die Realität ist nichts, die Taktik alles, denn die Zahlen ergeben sehr wohl, dass „eine Strommangellage erwartbar ist“. Allerdings hat Lang natürlich nicht gesagt, welche Zahlen sie meint. Aus den Gehaltszahlen grüner Spitzenpolitiker oder des Leitungspersonals des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist natürlich keine „Strommangellage erwartbar“.

Wie also machen die Grünen, die wohl einem „Atomkompromiss“ zustimmen werden, aus einer Niederlage einen Sieg? Indem sie den bitteren Pokal der Niederlage einfach weiterreichen. Das können Grüne sehr gut, denn sie sind, schon weil sie Grüne sind, an nichts schuld; schuld sind immer die anderen, die Rechten, die Deutschen ohne Migrationshintergrund, die Rassisten, die Homophoben, die Verschwörungstheoretiker, die Transfeinde, die Terfs und so weiter und so fort. Die Grünen reichen den Pokal der Niederlage gekonnt an die FDP weiter, die sich in der Regierung ohnehin zum 17. Landesverband der Grünen verzwergt hat. Mit sicherem Machtinstinkt wissen die Grünen, dass ihr Einlenken für sie zum moralischen Sieg werden muss, indem sie es so drehen, dass alle über das Einlenken der FDP sprechen werden.

Hat die FDP überhaupt noch ein eigenes Thema, nachdem der FDP-Minister Buschmann nun mit Karl Lauterbach um den Ehrentitel Masken- und Einschränkungsminister wetteifert? Ja, eines, ein einziges, nicht gerade ein Thema, ein Themchen eher, hat sie noch. Das einzige, wofür die FDP noch steht, ist der Widerstand gegen ein Tempolimit auf der Autobahn. Man muss schon sagen, ein gewaltiges Thema. Wenn es denn kein großes Thema ist, könnte man einwenden, kostet es die FDP doch nichts, es dem Atomkompromiss zum Opfer zu bringen.
Eigentlich nicht, aber es ist ihr einziges Thema, sie hat sonst keins mehr, die Masse macht es – und so werden die Themen für die FDP zur quantité négligeable, wodurch auch die FDP selbst zur quantité négligeable wird. So enden Parteien im Nichts, wenn sie für nichts mehr stehen.

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Und die Grünen? Die können sich als staatstragende Partei verkaufen, weil sie ihre Überzeugungen unter großen Schmerzen für Deutschland geopfert haben. Man darf sich auf die vielen öffentlich-rechtlichen Melodramen angestimmt von Tina Hassel und von anderen freuen, mit denen sie den staunenden Zuschauern die Größe des Opfers verkaufen.

Doch wie groß ist das Opfer tatsächlich? In Wahrheit ist es kein Opfer, sondern ein taktisches Manöver. Ein Opfer wäre für die Grünen nur eines, die Macht aufzugeben. Nicht der Umweltschutz, nicht der Naturschutz, nicht der Artenschutz besitzt für die Grünen eine höhere, unverhandelbare Bedeutung, nicht einmal der Atomausstieg, nur die Macht allein, die Macht für sich und die Macht zur Großen Transformation. Damit endlich die Menschen als Untertanen im grünen Nanny-Staat leben, nimmt man die Laufzeitverlängerung von drei Atomkraftwerken gern in Kauf. Wichtig ist nicht der Fakt, sondern nur, wie es aussieht, wichtig ist nur, dass die taktische Wendung nicht zum Machtverlust, sondern zum Machtgewinn führt.

Geht man davon aus, dass der Atomkompromiss kommt, weil kein Weg an ihm vorbeiführt, wird man die Kämpfe, die um ihn medial abgebildet und veröffentlicht werden, als eine im Marvel Stil inszenierte Gigantomachie, als Farce begreifen. Wie hatte Franz Kafka über diese Art von Gigantenkämpfe hellsichtig geschrieben, ohne dass er Robert Habeck kennen konnte? „Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Weißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube.“


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