In einer 1999 zunächst in Frankreich und vier Jahre später dann in Deutschland erschienenen Studie mit dem Titel „Der neue Geist des Kapitalismus“ (im Original: Le nouveau Esprit du Capitalisme) beschrieben die Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello die Rolle, die nicht nur die Kritik an den jeweils herrschenden sozio-ökonomischen, sondern auch die Kritik an den jeweils herrschenden sozio-kulturellen Verhältnissen bei der Weiterentwicklung kapitalistischer Marktwirtschaften spielt. Die eine Form der Kritik, getragen von den Gewerkschaften und linken (Arbeiter-)Parteien, nennen sie Sozialkritik, die andere Künstlerkritik, getragen von linken Schriftstellern, Malern, Dichtern, Journalisten, Schauspielern, Hochschullehrern, kurz: Intellektuellen. Geht es bei der Sozialkritik im Kern um die Ungleichheit materieller Lebensbedingungen, befasst sich die Künstlerkritik mit dem herrschenden Zeitgeist und dessen Beiträgen zu den bestehenden Herrschaftsverhältnissen.
Blieben die Unternehmen lange Zeit noch weitgehend immun gegen diese postmodernen Werte und Normen, die sich zunächst allein in den Medien, im Kulturbereich und im Bildungsbereich durchsetzten, ertönt inzwischen auch von dort immer lauter die Melodie „der Emanzipation und des freien Zusammenspiels von Kreativen, die sich gleichberechtigt zusammenfinden, um ein gemeinsames Projekt zu verfolgen.“ Erst seitdem dies so ist, lässt sich überhaupt von einem neuen „Geist des Kapitalismus“ sprechen, der sich, angetrieben und beschleunigt vom Wachstum der New Economy des Internets, zusehends nicht nur in dessen kulturellen Überbau, sondern auch in seiner wirtschaftlichen Basis ausbreitet. Er durchdringt inzwischen alle gesellschaftlichen Bereiche und wurde so zur politischen Ideologie eines neuen Herrschaftssystems, dessen Nutznießer und Protagonisten sich vorwiegend aus Vertretern der anti-autoritären 68er-Bewegung und deren Nachkommen sowie aus Vertretern des öffentlichen Dienstes, zunehmend aber auch der New Economy und selbst der Old Economy rekrutieren.
Wenn prominente Kabarettisten wie etwa Dieter Nuhr und Lisa Eckart und neuerdings eine Reihe von Schauspielern vorsichtige Versuche starten, den ideologischen Mainstream etwa in Fragen der Klimapolitik oder der Genderpolitik und nun sogar in Fragen der Corona-Politik anzugreifen, sowie satirisch durch den Kakao zu ziehen, wird dies von den Vertretern der neuen Herrschaftsideologie und ihren Büchsenspannern in den (neuen) Medien gleich als das wahrgenommen, was es ist: der Beginn einer Künstlerkritik, die sich gegen die inzwischen selbst herrschenden, einstigen Systemkritiker richtet. Um die damit entstehenden Gefahren für das eigene Herrschaftssystem zu bannen, werden die Kritiker als Häretiker gebrandmarkt und zum öffentlichen Widerruf aufgefordert. Leisten sie dieser Aufforderung nicht Folge, sondern setzen ihr Abweichlertum stur fort oder forcieren es gar, können sie sicher sein, nach dem Motto „bestrafe Wenige und erziele Viele“ schon bald mit entsprechenden Maßnahmen konfrontiert zu sein.
Stefan Aust hat in der Welt am Sonntag zurecht darauf hingewiesen, dass das SED-Regime denselben Vorwurf gegen Wolf Biermann und andere Dissidenten in der DDR richtete, als diese es schon ab den 1960er Jahren wagten, sich öffentlich gegen eine Politik und Ideologie zu wenden, die erst ab den 1980er Jahren nicht mehr den Mainstream im realsozialistischen Teil Deutschlands abbildete. Einige der Schauspieler, die wie Jan Josef Liefers selbst aus der DDR stammen, hatten deswegen wohl auch ein nachhaltiges Deja-Vu-Erlebnis, als ihnen vorgeworfen wurde, sie hätten sich durch ihre Aktion mit Rechtsextremen und Faschisten gemein gemacht.
Mit diesem Argument wird mittlerweile versucht, jedwede Kritik an den herrschenden Verhältnissen, sofern sie nicht den tradierten Mustern linker und grüner Gesellschaftskritik folgt, zu delegitimieren und zu unterbinden. Da dies zusehends weniger gelingt und sich mittlerweile vermehrt Abweichler aus den eigenen Reihen wie etwa Boris Palmer, Bernd Stegemann oder auch Sarah Wagenknecht zu Wort melden, wird seitens mancher Vordenker und Protagonisten der „neuen Mitte“ offen darüber räsonniert, ob zur Sicherung ihres neuen Herrschaftssystems nicht härtere Bandagen angezeigt wären.
So wird inzwischen selbst in renommierten sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften beispielsweise die Frage gestellt, ob man zur Durchsetzung der „Political Correctness“ noch an der Forderung nach universellen und gleichen Freiheitsrechten für alle festhalten oder nicht besser propagieren solle, dass diese nur noch für bestimmte, als unterprivilegiert definierte Bevölkerungsgruppen gelten sollten. Ohnehin schrieben letztlich immer die Sieger die Geschichte, weshalb es vor allem darauf ankomme, nicht zu den Verlierern zu gehören, weil man mit seinen Feinden zu nachsichtig umgegangen sei.
Der Slogan „Alles dicht machen“ bekommt vor diesem Hintergrund eine sehr spezielle Bedeutung, die von dem Bestreben zeugt, Kritiker eines neuen, im Gewand der Weltoffenheit und Menschenfreundlichkeit daherkommenden Herrschaftssystems mit Methoden mundtot zu machen, die von Erich Mielke entlehnt sein könnten. Die Nervosität, mit der dabei mittlerweile auf alles reagiert wird, was nach neuer, radikaler Künstlerkritik riechen könnte, zeugt freilich nicht davon, dass sich die neuen Herrscher ihrer Herrschaft sicher, sondern wohl eher von der Sorge getrieben sind, sie könne wieder zerrinnen. Auch darin erinnern sie an die SED-Nomenklatura mit ihrem „vormundschaftlichen Staat“, der sich gegen Kritik immer mehr abschottete, um nach längerer Agonie schließlich zu implodieren.