Spielfilme sind Filme, sie sind nicht das Leben, und Spielfilme wollen nur spielen. (Und sie wollen so fantasmatisch viel Geld wie irgend denkbar einspielen).
In der realen Realität findet sich nicht in jedem Raum, Klosett oder Aufzug, in dem man sich eingesperrt findet, eine leicht zu öffnende Deckenkachel, durch die sich steigen ließe, um durch ausreichend große und vollständig ungesicherte Belüftungsschächte zu klettern.
In der realen Welt warten die Schläger nicht brav ab, um einer nach dem anderen anzugreifen. Und: Der menschliche Körper ist weit weniger robust, als manche Heldenfigur im Film es nahelegt. Man frage etwa einen Oppositionellen, der von einer Antifa-Bande ins Krankenhaus geprügelt wurde – der menschliche Körper ist schmerzlich zerbrechlich, und was beim Filmhelden höchstens für eine kleine Beule sorgt, manchmal für einen kurzen Blackout, das würde in der Realität eine folgenreiche Gehirnerschütterung, eventuell eine Schädelfraktur und einen längeren Krankenhausaufenthalt bescheren!
Ja, der Unterschiede zwischen Hollywoodfilmen und der Realität sind viele! Nein, es ist nicht üblich, sich nach dem Aufwachen aus einem Koma zuerst die Schläuche aus dem Arm zu reißen. Im echten Leben lässt sich nicht an Zoll und Sicherheitskontrolle vorbeilaufen, um dem eben eingecheckten Passagier seine Liebe zu gestehen. Im echten Leben will man die Kleidung ausziehen, Schuhe aufbinden, et cetera, bevor man sich der Liebe hingibt, und die Kleidung fällt nicht wie von Amors Pfeil weggeschossen magisch auf den Boden. Computer lassen sich in der Realität nicht in Sekunden hacken, wenn man nur schnell genug auf die Tastatur einschlägt. Es ist nicht üblich, Telefonate ohne Gruß zu beenden, und sofort aufzulegen, wenn das Thema erledigt ist. Echte Geheimagenten haben nicht zu jeder Zeit einen witzigen Spruch auf den Lippen – und sie verbringen weit mehr Tage am Schreibtisch als dass sie herumballern und Frauen verführen. Und, etwas tröstlich: Anders als in Actionfilmen, ist es im realen Leben kein sicheres Todesurteil, in einem stillen Moment das Foto seiner Frau und Kinder zu betrachten, es gar mit seinen Fingerkuppen zu berühren.
Eindimensionale Schablonen-Bösewichte
Ach ja, ein weiterer Unterschied fällt mir ein, und dieser ist nicht unwichtig: Im realen Leben erklärt der Bösewicht keineswegs der Welt oder seinem Widersacher in elaboriertem Vortrag, was er tut, wieso er es tut und wie er es tut. (Die Welt im realen Leben ist weit weniger schwarzweiß und in »gut« und »böse« aufteilbar, als es in amerikanischen Filmen oder im deutschen Staatsfunk wirken könnte. Es ist aber nicht fair, Hollywoodfilme und deutschen Staatsfunk hierin gleichzusetzen – Hollywood hat es in den letzten Jahrzehnten verstanden, dem Bösewicht menschliche und nachvollziehbare Motivationen zuzuschreiben, der deutsche Staatsfunk hinkt hinterher, dort erscheinen Opposition und Abweichler als eindimensionale Schablonen-Bösewichte.)
Figur in Machtposition
Nein, in der realen Realität erzählt uns der Bösewicht nicht, warum und wie er tut, was er tut – oh nein, er wird sogar bestreiten, dass er es tut. Dass die Handelnden in der Realität keineswegs erzählen, was sie tun, stellt ein Problem für unsere Deutung eben dieser dar: Millionen von Menschen glauben und meinen alles, was ihnen eine Figur in Machtposition sagt – denn wäre er ein Bösewicht, dann würde er sich dazu bekennen und seine Tricks elaborieren, das hat uns doch Hollywood gelehrt!
Aufschlag zur Übung
Es ist Zeit für eine Fingerübung, liebe Leser, hier und jetzt. Nehmen wir für diese Übung an, dass wir das Drehbuch eines Thrillers schreiben. Die Handlung: Eine Weltmacht versucht mit verschiedenen Tricks, ihre Macht zu vergrößern. Der Held will die Methoden offenlegen, doch wieder und wieder gleitet ihm die Weltmacht durch die Finger. Der große Showdown! Der Boss jener Weltmacht und unser Held stehen sich gegenüber.
Hier setzt unsere Fingerübung an! Die Aufgabe, liebe Filmschüler: lassen Sie uns entwerfen, wie der Weltmachtboss seine Pläne erklärt! – Ich lege mit einem ersten Aufschlag zur Übung vor, wenn Sie einverstanden sind.
Der Wolf sei sein Freund!
Der Boss jener Weltmacht (im Folgenden mit B. abgekürzt) steht von seinem Schreibtisch auf und geht ans Fenster, vor einem Sideboard mit edlen Getränken und Gläsern.
»Was trinken Sie?«, fragt B., »Bourbon mit einem Eiswürfel?« – Der Held nickt. – »Ein einfacher Mann des Volkes sind Sie«, stellt B. fest, »wie ich, wie ich!«
Mit seinem Glas in der Hand blickt B. aus dem Fenster, und er sinniert (und das ist der Teil, auf den es ankommt): »Schauen Sie nach Amerika! Wir alle wissen, wie wichtig denen die Waffen sind – und wie unwichtig die Schulen. Ich will nicht darüber urteilen – ich will es nutzen!«
B. schwenkt sein Glas. Er lässt das Eis klingen, dann sagt er weiter: »Es sind ja nicht nur die Amerikaner! Schauen Sie nach Europa! Betrachten Sie Deutschland. Was den Amerikanern die Armee, das ist den Deutschen ihr Sozialwesen. Der Unterschied ist, dass eine stärkere Armee dich stärker macht, und eine noch stärkere Armee macht dich eben noch stärker. Ein Sozialsystem aber, das so stark wird, dass es selbst wieder ungerecht wird gegenüber denen, die arbeiten, dass es kollabieren kann und wird, das macht das Land schwächer, nicht stärker. Ich will nicht darüber urteilen – ich will es nutzen!«
»Nutzen?«, fragt unser Held.
B. füllt ihnen beiden die Gläser neu auf, und dann erklärt er: »Ein deutscher Fußballer hat einmal gesagt: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Ich sage: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Und das heißt: Es ist immerzu Krieg.«
B. nimmt einen Schluck. Der Held nutzt die Pause, um nachzuhaken: »Was, wenn die anderen keinen Krieg führen? Ich kenne einen alten Spruch: Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin!«
B. lacht, dann sagt er: »Es ist dem Wolf einerlei, ob das Schaf meint, im Krieg mit dem Wolf zu sein oder dem Wolf ist es vielleicht sogar lieber, wenn das Schaf meint, der Wolf sei sein Freund!«
Der Held seufzt, nimmt selbst einen Schluck. B. spricht: »Im Hollywood-Film würde der Bösewicht an dieser Stelle den edlen Sun Tzu zum Zeugen rufen, aber das hier ist kein Film. [Der Antagonist zwinkert in die Kamera – in den letzten Jahren ist das Durchbrechen der Vierten Wand, der Wand zum Zuschauer hin, ja quasi Pflicht.] Doch, man muss kein genialer Feldherr sein, um zu verstehen, dass man eine Stadt nicht an der stärksten Stelle ihrer Stadtmauer angreift, sondern an ihrer schwächsten. Nur ein Wahnsinniger würde die Armee der USA angreifen. Wir haben unsere Armee, keinen Zweifel, und sie ist nützlich zu den Nachbarn hin.«
(Die Kamera zeigt das Gesicht des Helden, der einmal tief durchatmet, um den Zuschauer deutlich zu machen, dass er im Kopf »auch nach innen hin« ergänzt.)
B. weiter: »Mit Europa und Deutschland ist die Lage anders. Deutschland ist sich selbst der ärgste Feind. Deutschland tut sich selbst Dinge an, für die bräuchten wir zehntausend Soldaten und hunderttausend Spione, und noch immer hätten wir Angst, vorm Gericht in Den Haag zu landen.«
»Ernsthaft?«, hakt der Held nach.
»Das mit Den Haag?«, lacht B. »Nein!«
Der Held seufzt.
B. weiter: »Die Kulturen und Kontinente sind verschieden, und die Welt ist ja größer als die USA und Europa, und das täglich mehr. Die strategischen Glücksgriffe sind verschieden, ebenso wie die Idiotien – und die Idioten, die sie sich ausdenken. Wir aber fahren eine Strategie, die man wohl übersetzen könnte als die Gentleman-Strategie.«
Der Held fragt nach: »Gentleman-Strategie?«
B. bestätigt und erklärt: »Eine englische Redensart sagt: Der Chauvinist stößt die Frau um, der Gentleman hilft der Frau beim Fallen.
Wir nennen unseren Krieg nicht Krieg, wir nennen ihn Diplomatie. Um die Worte eines deutschen Philosophen zu, zu – wie sagt man?«
Der Held: »paraphrasieren?«
B.: »Danke. Um zu paraphrasieren: Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Wir treiben Politik. Wir greifen aber nicht an, nicht offen, nicht sichtbar.
Die Schwäche der meisten dieser Systeme ist die Bildung ihrer Kinder, ihrer Bürger, ihres Volkes. Doch es ist nicht die Schwäche in Mathematik allein, die in den letzten Jahren ärger wird. Die Schwäche des Westens ist die vollständige Abwesenheit von Weisheit, von Weitblick, von simpler Klugheit.«
Der Held fragt wieder nach, ein Stichwort aufgreifend: »Weisheit? Wirklich?«
B.: »Weisheit und Weitblick, ja. Nehmen wir an, ich würde die Fabriken eines Landes zerstören wollen, um die Macht jenes Landes zu schwächen und meine zu stärken. Wie sollte ich es angehen? Ich könnte Drohnen starten lassen und Bomben werfen, doch will man das? Nein! Ich investiere lieber in Vereine und Politiker, welche dafür sorgen, dass die Produktionskosten eines Landes schier unbezahlbar werden, mit immer neuen moralischen Begründungen, und gleichzeitig biete ich an, dieselben Produkte billig zu produzieren. Ich werfe nicht Bomben, ich werfe Moral, und diese Trottel zerstören ihre Fabriken dann selbst.«
Unser Held sitzt mit offenem Mund da. Er sieht in sein Glas – es ist leer. B. lächelt und steht jetzt mit einem frischen Glas bereit, drei Fingerbreit Bourbon, ein Eiswürfel.
B. hebt sein eigenes Glas an. Unser Held erkennt an der Farbe des Getränks, dass B. auf ein anderes Getränk umgestiegen ist, eines, das seiner Position weit würdiger ist. Der Held bemerkt es, kommentiert es aber nicht.
»Lassen Sie uns anstoßen!«, sagt B., und sie stoßen an, dass das Eis klirrt.
»Worauf?«, fragt der, den wir einen Held nennen, der an diesem Punkt doch wenig mehr als Publikum und erzählerischer Redevorwand ist (etwa wie wir im Verhältnis zur Regierung).
»Auf meine neueste Idee!«, sagt B., und wie nicht anders erwartet erklärt er die neue Idee. »Nehmen wir an, ich wollte ein Land nicht nur wirtschaftlich angreifen, sondern zugleich seine Gesellschaft schwächen, zermürben, demoralisieren, bis sie sich apathisch mit ihrem Schicksal abfindet, was auch immer das Schicksal ist. Früher wäre man mit Panzern und Soldaten einmarschiert, hätte das Volk gedemütigt, das bekannte Spiel. Ich habe mir ein neues Spiel ausgedacht! Ich säe hier und da den Samen der Wut.«
»Der Wut?«
»Ja, die Wut der Menschen aufeinander. Meine Pläne sind noch nicht fertig, doch die grobe Idee ist, den Menschen im Westen einzureden, dass jeder, der nicht exakt so denkt wie sie, ein Feind ist. Wer eine andere Idee trägt als sie selbst, den sollen sie als Feind betrachten! Die sollen nicht mehr darüber nachdenken, was sie für ihr Land tun können, wie sie ihre Familien schützen können, wie sie sich auf die Zukunft vorbereiten.«
»Wow!«, sagt der Held, »das ist –«
B. ergänzt: »Brillant, wollen Sie sagen?«
Die Worte unseres Helden klingen verwaschen, als er sagt: »Ich wollte etwas anderes sagen. – Warum reden Sie den Leuten nicht auch noch ein, dass sie ihre Grenzen öffnen, ihr Geld verschenken und ihr eigenes Land verachten sollen?«
B. sieht den Helden an, kühl, aber gefasst.
»Sie hatten genug«, sagt B., und nimmt dem Helden das Glas aus der Hand. Der Held nickt.
»Ich bin Stratege«, sagt B., »ich bin nicht der Teufel.«
Nicht mehr denken
Uff – das war unsere kleine Fingerübung. Der Arbeitstitel unseres Filmes: Die Gentleman-Strategie. – Zum Glück ist das alles ausgedacht, unrealistisch und phantastisch. Zum Glück sind auch die beschriebenen Mechanismen komplett falsch. Zum Glück haben Spielfilme nichts mit der Realität zu tun, und schon gar nicht mit der Politik. Zum Glück würde die Politik auch nie Filme einsetzen, um uns einzureden, was wir als Realität zu betrachten haben.
Wenn die Realität nicht das ist, was man in Filmen sieht, was und wie ist denn die Realität? Was sollen wir für wahr halten, was darf das Fundament unseres Denkens sein?
Ich versuche mein Bestes, vom Offensichtlichen aufs Wahrscheinliche zu schließen, doch ich bin täglich vorsichtiger, selbst beim kleinsten Schritt. Erlauben Sie mir, den Franzosen Georges Duhamel zu zitieren: »Ich kann nicht mehr denken, was ich denken will. Meine Gedanken wurden ersetzt durch bewegte Bilder.«
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.