Zwar verbindet sich der Niedergang Deutschlands nicht wie etwa der der Habsburgermonarchie vor 1914 mit einer großen kulturellen Blüte – diese ist schlechterdings nicht zu erkennen –, aber es bleibt dennoch bemerkenswert, wie ein Staatswesen, das zunächst als westdeutscher Rumpfstaat, dann für rund anderthalb Jahrzehnte auch noch als wiedervereinigter Nationalstaat zu den wohlhabendsten, stabilsten und in gewisser Weise auch am besten verwalteten Gemeinwesen Europas gehörte, in relativ kurzer Zeit (unter der Oberfläche schon etwa ab 2010) zum kranken Mann Europas werden konnte und heute auf eine Zukunft blickt, die sich als extrem unsicher, wenn nicht gar als una nox obeunda, eine ewige Nacht darstellt.
Da ist die rasch verfallende Infrastruktur, die wachsende Wohnungsnot, eine dysfunktionale Bürokratie, die auf allen Feldern Eigeninitiative versucht einzudämmen und einer immer weitergehenden Kontrolle unterwirft, und da ist der unverkennbare wirtschaftliche Niedergang, der sicher viele Ursachen hat, aber durch die unrealistische und nicht durchdachte Energiepolitik der Regierung ebenso beschleunigt wird wie durch den Dirigismus und Kontrollwahn der EU-Kommission, dem die jetzige Bundesregierung so gut wie nie irgendeinen Widerstand entgegensetzt.
Dass von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, in ihrer gnadenlosen Selbstüberschätzung und ihrem Geltungsstreben in fast allen Bereichen eine Politik verfolgt, die sich mit ihrer Tendenz zur Überregulierung und zum Protektionismus gegen jedes liberale Wirtschaftsmodell und damit eben auch gegen die Prinzipien richtet, die bis vor kurzem Deutschlands wirtschaftlichen Erfolg garantierten, wird mindestens stillschweigend hingenommen. Ja, den Politikern der Grünen und der SPD kommt dieser Kurs sogar entgegen, auch wenn er dem eigenen Land, mit dem man so wenig anfangen kann, offensichtlich schadet.
Eine Besserung ist hier freilich auch deshalb nicht in Sicht, weil seit dem Brexit in Brüssel die Befürworter umfassender staatlicher Wirtschaftslenkung ohnehin eine strukturelle Mehrheit im Ministerrat und im Parlament besitzen. Dagegen anzukommen und dabei einen Konflikt mit Frankreich, das eben diese Art von Politik schon immer favorisierte, zu riskieren, überstiege wohl die Kräfte jeder deutschen Regierung, egal, wie sie zusammengesetzt ist.
Die deutsche Migrationspolitik wird zum großen Experiment des Scheiterns
Aber lassen wir das Wirtschaftliche bei Seite und blicken wir auf ein anderes, zurzeit besonders aktuelles Problemfeld: die Migrationspolitik. Wohl auf wenigen anderen Gebieten sind Niedergang und Kontrollverlust so sichtbar wie hier. Seit 2015 wurde jeder, auch der geringste Versuch aufgegeben, Migration in irgendeiner Weise zu steuern; fast jeder, der in noch so vorsichtiger Weise darauf aufmerksam machte, dass eine solche Steuerung wünschenswert sei, wurde rasch als Faschist und Rechtsradikaler denunziert. Erst jetzt, viel zu spät, beginnt sich die Diskussionskultur angesichts der Welle von Gewalt im öffentlichen Raum, der kompletten Überforderung der Kommunen und des massiven Aufstiegs von Protestparteien ein wenig zu ändern. Lösungen für das Problem kann die jetzige Bundesregierung aber nicht wirklich anbieten, nur Pseudolösungen, die wenig an der Realität ändern werden.
Allerdings muss man ihr zugutehalten, dass Deutschland bei der Migrationspolitik durch das EU-Recht in vielen Bereichen die Hände gebunden sind. Faktisch macht es eine echte nationale Kontrolle von Migration fast unmöglich, oder erschwert sie zumindest massiv. Dieses Recht wurde sehenden Auges im Sinne eines faulen Kompromisses zwischen den Grenzstaaten der EU und den Binnenländern Schritt für Schritt so absolut dysfunktional ausgestaltet, dass es nie funktionieren konnte, jedenfalls nicht in Zeiten eines starken Ansturms auf die Grenzen der EU. Es ist wie vieles in der EU eine reine Schönwetter-Konstruktion. Dazu kommt eine sehr starke Betonung des absoluten individuellen Rechtes auf Asyl, das in Deutschland selbst ja durch die Grundgesetzänderung der frühen 1990er erheblich entwertet wurde, zumindest auf der rein juristischen Ebene (niemand hat nach dem deutschen Recht Anspruch auf Asyl, der über ein sicheres Drittland einreist).
Der jetzigen Bundesregierung kann man freilich schlecht vorwerfen, dass sie von ihren Vorgängerregierungen ein europäisches Rechtssystem geerbt hat, das Deutschland gerade deshalb, weil es sich von jeher in naiver Weise stärker an dem Buchstaben des europäischen Rechts orientiert als viele andere Länder, in der Praxis fühlbar benachteiligt. Die Rechtsprechung Karlsruhes, die seit 2012 jedwede Sanktion gegen ausreisepflichtige Asylbewerber, deren Antrag abgelehnt wurde, in Form von Leistungskürzungen explizit verboten hat, kommt im Übrigen hinzu, und schränkt den Handlungsspielraum der Regierung viel stärker ein als in anderen europäischen Ländern, die oft noch nicht mal eine so starke Verfassungsgerichtsbarkeit wie wir besitzen.
Unsere politische Kultur und unser Rechtssystem machen eine pragmatische, lösungsorientierte Politik zunehmend unmöglich
Faktisch wird für Deutschland die toxische Kombination aus einer gänzlich naiven, auch bei unseren jüngeren Juristen meist dominanten EU-Gläubigkeit, die es so wirklich in keinem einzigen anderen europäischen Land gibt, und einer interventionistischen Rechtsprechung Karlsruhes, das sich seit etwa 20 Jahren zunehmend selbst als Gesetzgeber letzter Instanz versteht und daher auch aus dem Nichts heraus zum Beispiel unter Berufung auf den vagen Artikel 1 des Grundgesetzes jederzeit bereit ist, neues Recht zu schaffen, jetzt zum Verhängnis. Rettung könnte hier auf nationaler Ebene allenfalls eine Verfassungsänderung bringen, die der Bundesregierung in Krisensituationen – wenn etwa die Zahl der Flüchtlinge ein bestimmtes Maximum übersteigt – die Möglichkeit gibt, gegen Migranten ohne Bleiberecht besondere Sanktionen zu verhängen, auch in Form der Kürzung von Sozialleistungen, die jetzt faktisch unmöglich ist.
Das wäre von Karlsruhe wohl nur schwer wieder auszuhebeln; man brauchte dafür aber eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, die angesichts der stark zersplitterten Parteienlandschaft viel schwieriger zu organisieren wäre als in den 1990er Jahren. Von daher wird auch das nie geschehen, und man wird im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, die ja an sich dem gleichen europäischen Recht unterliegen wie Deutschland, man denke an Schweden oder die Niederlande, aber auch Finnland mal wieder gar nichts tun, oder nur etwas, das Aktivität vortäuscht, ohne irgendwie wirksam zu sein. Das können wir in diesen Tagen ja sehr gut beobachten.
Die Bundesregierung ist ein Meister der Scheinlösungen
Was Scheinlösungen betrifft, ist Deutschland allerdings zurzeit absoluter Weltmeister, und das ist ja dann auch wieder auf eine gewisse Weise erfreulich und tröstlich. Wenn es schon allgemein bergab geht, muss man ja irgendwo noch die Nase vorn haben. Auf ein islamistisches Messerattentat und die allgemein zunehmende Gewalt in der Öffentlichkeit zu reagieren, indem man etwa ein allgemeines Messerverbot im öffentlichen Raum, in Fernzügen und an anderer Stelle verhängt, womöglich dann am Ende auch für einfache Taschenmesser oder Nagelscheren (das bleibt abzuwarten), zeigt schon ein bemerkenswertes Maß wahlweise von Realitätsblindheit oder aber von tiefer Unaufrichtigkeit und Selbstbetrug.
Es ist jetzt schon klar, dass ein solches Verbot flächendeckend gar nicht durchsetzbar ist. Also wird man sich vermutlich darauf konzentrieren, den mehr oder weniger gesetzestreuen Normalbürgern ihre Messer wegzunehmen. Hier ist weniger Widerstand zu erwarten und hohe Geld- oder gar Freiheitsstrafen werden hier auch tatsächlich abschreckend wirken. Anders hingegen bei jungen Männern aus eher ein wenig „verhaltensauffälligen“ ethnischen Minderheiten; ein hartes Durchgreifen an dieser Front, das ohnehin auf viel mehr Widerstand stieße, würde natürlich sofort als Rassismus denunziert werden. Das wird man unbedingt versuchen zu vermeiden. Also hält man sich an die „Normies“.
Ähnlich geht ja mittlerweile die britische Polizei mit ihrem „two-tier policing“ vor. Eine spezifische, strenge Norm für die alteingesessene einheimische Bevölkerung, namentlich natürlich für die Arbeiter und die verachteten Kleinbürger, die man an die Kandare nimmt, eine andere, weichere für ethnisch-religiöse Minoritäten, bei denen man sich eher darauf verlässt, dass „community leaders“ in eigener Regie für ein Minimum von Ordnung sorgen, und bei denen man befürchtet, dass ein härteres Durchgreifen rassistisch erscheinen könnte und überdies zu einer Explosion von Gewalt führen würde. Dass die Dinge sich in Deutschland in den nächsten Jahren in eine ähnliche Richtung bewegen werden, zeichnet sich mittlerweile durchaus ab.
Die politischen Inszenierungen einer hilflosen politischen Elite nehmen immer absurdere Züge an
Ein Erfolgsrezept ist das natürlich nicht. Eher wird das Vertrauen in den Staat weiter untergraben, was dann die politischen Ränder stärkt, die sich weiter radikalisieren. Aber eine Wende zum Besseren erscheint in Deutschland ohnehin zunehmend unmöglich, dazu sind wir auch rein mental ebenso wie politisch viel zu sehr von Brüssel abhängig, wo Politik zunehmend unter den Vorzeichen des Cäsarenwahns gemacht wird, und zweifeln viel zu stark an unserem Recht, unsere gesellschaftliche Ordnung mit ihren sozialen Konventionen und Normen gegen Außenstehende zu verteidigen.
Da bleibt also nur die theatralische Inszenierung des eigenen Niedergangs, im Idealfall in Operettenform, sodass man dabei noch ein wenig Spaß haben kann. Dieses Stadium haben wir jetzt offenbar erreicht, und besitzen in der Gestalt unserer Politiker ja auch wirklich eine Fülle wahrhaft begnadeter Schauspieler und Darsteller, die besonders das komische Fach virtuos beherrschen. Ein Blick auf das Bundeskabinett mit seiner Fülle von Talenten vom griesgrämigen Trotzkopf, dem großen Märchenerzähler in der Rolle des Onkel Baldrian, bis hin zum messianischen Erbauungsprediger und gefühlvollen Beerdigungsredner oder der anmutigen, immer lustigen Trampolinspringerin als Colombina reicht hier.
Aber gerade deshalb kann die schon erwähnte Habsburgermonarchie in ihrer Spätphase, die ja auch eine spannungsreiche multikulturelle Gesellschaft war, und deren politische Kultur das Absurde ähnlich stark, wenn auch mit weit mehr aristokratischem Glanz und morbidem Hintersinn inszenierte wie unsere, eher biedere politische Klasse, uns auch als Vorbild dienen. Da ließe sich noch manches lernen. So etwas Groteskes wie ein Messerverbot hätte man sich auch in der Hofburg respektive im vielsprachigen österreichischen Reichsrat ausdenken können, und ein Dichter wie Herzmanovsky-Orlando, der Meister des Absurden und Hofpoet des untergehenden Kakaniens schlechthin, hätte daraus dann einen bizarren Roman gemacht.
Allerdings besaß die Habsburgermonarchie auch einen großartigen Zeremonienmeister, der sie zugleich in all ihren Widersprüchen symbolträchtig verkörperte, den Kaiser Franz Joseph. Dieser Rolle scheint unser jetziges Staatoberhaupt, so beredt und beeindruckend charismatisch er in seinem gravitätisch-würdevollen Auftreten auch ist, doch nicht ganz gewachsen zu sein. Bei der Neubesetzung des Amtes sollte man daher vielleicht an einen Schauspieler oder eine andere Figur aus der Unterhaltungs- und Animationsbranche denken, um die Absurdität der hiesigen Verhältnisse wirksam in Szene zu setzen, damit wir dann ebenso wie die Wiener um 1900 wenigstens sagen können: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.