Vor einigen Wochen wurde in Deutschland das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gegründet (dem der Autor dieses Artikels angehört). Es hat (Stand 5. 3. 2021) 200 Mitglieder, weitere rund 250 befinden sich im Aufnahmeverfahren. Worum geht es dem neuen Netzwerk?
Wer auf die Hochschullandschaft der USA blickt, und Gleiches gilt in abgemilderter Form auch für Großbritannien, kann beobachten, dass dort die Meinungsfreiheit an den Universitäten immer mehr eingeschränkt wird. Die kleinste unkorrekte Äußerung, etwa eine Kritik an der afroamerikanischen Protestbewegung Black Lives Matter oder eine Ablehnung von typischen Konzepten der „wokerati“ wie „Kultureller Aneignung“ als vermeintlich kolonialistischer Akt kann innerhalb von Tagen einen shit storm auslösen, der meist von studentischen Aktivisten ausgeht, dann aber leicht auch auf Kollegen übergreifen kann.
Daraus kann man jedoch nicht schließen, dass nicht ähnliche Tendenzen mittlerweile auch in Deutschland sichtbar werden. Wir sehr man von Ihnen betroffen ist, hängt natürlich auch stark davon ab, auf welchem wissenschaftlichen Feld man arbeitet und an welcher Universität man tätig ist. Wer aber heute etwa auf dem Gebiet der Forschung zur Migration wagen würde, zu betonen, dass ein gewisses Maß kultureller Assimilation die soziale Integration von Einwanderern in der Regel fördere, der begibt sich faktisch bereits ins Abseits und muss damit rechnen, dass man ihm vorwirft, Rassist zu sein. Ähnlich sieht es auf anderen Gebieten aus. Wenn man etwa wagen würde, ins Gespräch zu bringen, dass ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare, womöglich noch unter Einsatz von Leihmüttern, zumindest in bestimmten Fällen das Kindeswohl gefährden könne, muss man mit massiven Denunziationen rechnen.
In den meisten Fällen kommt es freilich gar nicht erst dazu, dass Vorlesungen gestört, Kollegen persönlich bedroht oder gar von den Universitätsleitungen öffentlich bloßgestellt oder gemaßregelt werden. Es setzt vielmehr eine Art Selbstzensur sein. Wenn man keinen Ärger haben und vor allem auch die eigenen Drittmittelprojekte, die heute lebenswichtig sind, durchbringen will, dann vermeidet man es eben, Anstoß zu erregen. Das gilt für den Nachwuchs noch sehr viel mehr, weil er sonst seine Karrierechancen verspielt. Und diese Art von Selbstzensur ist schon jetzt vielfach Realität. Das heißt, die Fälle, in denen auf „Abweichler“ sichtbar Druck ausgeübt wird, indem man ihre Vorlesungen stört, öffentliche Auftritte erschwert oder unmöglich macht oder ihre Reputation mit absurden Anschuldigungen ruiniert, sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Konformitätszwänge, die im Vorfeld greifen, nimmt man gar nicht von außen wahr.
Sprachpolitik als Einschränkung des Sag- und Denkbaren
Recht gefährlich kann es auch werden, wenn man gegen die neuen sprachpolitischen Regelungen, die man im akademischen Leben jetzt allenthalben findet, rebelliert. Wer in seinem Antrag auf Förderung an eine Stiftung oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Gender-Sterne weglässt, der riskiert eben, dass der Antrag genau aus diesem Grunde abgelehnt wird. Nun könnte man natürlich meinen, und die meisten Kolleginnen und Kollegen denken in der Tat so, dass man sich nichts vergebe, wenn man den eher kleinen Geßlerhut des Gendersterns täglich grüßt. Aber hinter solchen Sprachveränderungen steckt mehr, es geht ja beim Genderstern nicht nur darum, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen symbolisch sichtbar zu machen (das könnte man bis zu einem gewissen Grade noch nachvollziehen), sondern man will der Doktrin zur Anerkennung verhelfen, dass es nicht zwei, sondern viele Geschlechter gebe und Menschen sich mehr oder weniger aussuchen könnten, welchem sie angehören wollen, unabhängig von angeborenen körperlichen und genetischen Merkmalen. Das ist zumindest die Tendenz dieser Sprachpolitik.
An die flächendeckende Durchsetzung des Gendersterns wird sich die Forderung anschließen, die traditionellen Pronomina durch weitere Pronomen zu ergänzen oder gar zu ersetzen, die nicht auf die klassischen Geschlechteridentitäten zugeschnitten sind. Jeder Person wird dann früher oder später das Recht zugesprochen werden, mit einem Pronomen ihrer Wahl angesprochen zu werden.
Nun ist die Behauptung, der Mensch sei nicht wie andere Primaten ein zweigeschlechtliches Wesen, oder das biologische Geschlecht sei so unbedeutend, dass es ohne Probleme, nicht nur in seltenen Ausnahmefällen, sondern bei den meisten Menschen, zwanglos durch eine geschlechtliche Identität eigener Wahl, auch eine nicht-binäre ersetzt werden könne, wissenschaftlich gesehen natürlich schon recht kühn. Im Rahmen der Wissenschaftsfreiheit kann man sicher auch solche Thesen vertreten. Problematisch aber wird es, wenn jeder Widerstand dagegen als homo- oder transphob denunziert, und der Versuch unternommen wird, einen solchen Widerstand einerseits durch Drohungen und Einschüchterungen andererseits durch sprachpolizeiliche Zwangsmaßnahmen zu unterbinden, wie das in den USA und Kanada an vielen Universitäten der Tendenz nach schon der Fall ist. Zum Teil gibt es sogar auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten oder in Kanada auch des Gesamtstaates Gesetze, die sich gegen den bisherigen, konventionellen Sprachgebrauch richten, der von einem engen Zusammenhang zwischen biologischem Geschlecht und sozialer Identität ausgeht. Wenn man sieht, mit welcher Geschwindigkeit sich der Genderstern durchgesetzt hat, dann ist auch in Deutschland in näherer Zukunft mit solchen sprachpolitischen Normsetzungen zu rechnen.
Jüngste Debatten, etwa über einen Beitrag von Rudolf Stöber (Kommunkationswissenschaftler an der Universität Bamberg) in der Fachzeitschrift Publizistik, zeigen, dass die Verteidiger des Gendersterns die Kritiker nicht als Gegner, sondern eher als Feinde betrachten, die es durch Anfeindungen und Diffamierungen mundtot zu machen gilt. Das Entscheidende an den Versuchen, die Sprache im Sinne bestimmter ideologischer Positionen umzugestalten, ist, dass der politische und kulturelle Gegner zur Anerkennung von Regeln gezwungen werden soll, die aus seiner Sicht – und im Idealfall vielleicht auch objektiv – absurd sind. Damit sollen sein Selbstbewusstsein und sein Widerstandswille gebrochen werden.
Letzten Endes funktionieren auch totalitäre Diktaturen nach demselben Prinzip. Ja, je absurder eine von den herrschenden Eliten durchgesetzte Norm ist, desto besser, weil man durch den Zwang, sie anzuerkennen, den Gegner besonders stark demütigen und damit auch entmutigen kann, und darum geht es letzten Endes. So viel anders liefen die Dinge in der Kulturrevolution in China dann auch nicht, nur dass die Sanktionen gegen Fehlverhalten natürlich noch sehr viel drastischer waren, das kann man nicht bestreiten.
Auf dem Weg in ein Regime der Intoleranz und des Einheitsdenkens.
All das mögen Entwicklungen sein, die sich in Deutschland anders als in den USA bislang noch nicht flächendeckend manifestieren, sondern sich eher von Zeit zu Zeit am Horizont abzeichnen, aber man sollte nicht so naiv sein zu glauben, dass wir von dieser Welle der „woke-culture“ verschont bleiben, zumal auch außerhalb der Universitäten die Fälle zunehmen, in denen Menschen, die die Agenda z. B. der neuen Identitätspolitik nicht vollständig übernehmen, sofort als Rassisten, Faschisten oder noch Schlimmeres angegriffen werden, wie es dem SPD-Politiker Thierse jüngst geschah, als er sich gegen bestimmte besonders krasse Auswüchse der Identitätspolitik nicht zuletzt auf dem Gebiet sprachlicher Normsetzungen wandte.
Die Cancel-culture wird geleugnet, um sie besser durchzusetzen
Umso auffälliger ist es, dass viele Journalisten, aber auch Wissenschaftler, die sich jetzt zu Wort melden, behaupten, so etwas wie „cancel culture“ oder eine Diktatur der politischen Korrektheit gebe es gar nicht, nicht einmal als Tendenz. Jeder könne ja frei seine Meinung äußern, und wenn diese kontrovers sei, dann müsse er eben mit Widerspruch rechnen, darüber dürfe er sich nicht beschweren, so jüngst noch der namhafte Zeithistoriker Norbert Frei in der Süddeutschen Zeitung.
Manche Kollegen, die so argumentieren, mögen einfach nur naiv sein. Weil sie selber Positionen vertreten, die hinreichend „woke“ sind, sind sie selber noch nie Opfer diffamierender Angriffe oder Ziel von Einschüchterungsversuchen geworden. Bei anderen hingegen geht man nicht fehl in der Annahme, dass sie selber Denunziationen für ein legitimes Mittel nicht nur der politischen, sondern auch der wissenschaftlichen Auseinandersetzung halten. Bei den Letzteren sollte man in der Debatte über Wissenschafts- und Meinungsfreiheit natürlich nicht allzu viel Ehrlichkeit erwarten, aber bei manchen verblüfft doch ihr Eifer, das Bild der Wirklichkeit zu retuschieren. Sicher, die Dinge sind wie bereits erwähnt, noch lange nicht so schlimm wie in den USA, aber die Zeichen an der Wand sind deutlich zu erkennen, und gerade diejenigen, die die Cancel-Culture leugnen, sind zum Teil auch diejenigen, die im Kampf gegen Gegner im eigenen Fach besonders gern zur Denunziation als Kampfmittel greifen – in der Hoffnung, damit die soziale Existenz ihrer Feinde vernichten zu können. Ein gewisses Maß an Verlogenheit muss man in solchen Fällen dann schon konstatieren.
Die Befürworter einer cancel culture, also des Versuches, Gegner durch Denunziationen und Repressalien zum Schweigen zu bringen, glauben offenbar, dass ihre Macht nur dann unangefochten bleiben wird, wenn sie unsichtbar ist, und man der Öffentlichkeit weismachen kann, sie existiere gar nicht. So hofft man offenbar, Kritiker ausbremsen zu können. Vielleicht geht diese Rechnung sogar auf. Universitäten sind nicht unbedingt ein Ort, an dem man sehr viele mutige Menschen findet, jedenfalls nicht unter den Hochschullehrern. Das spielt denjenigen in die Hände, die jede Abweichung vom politisch-korrekten Mainstream brandmarken und ächten wollen.
Allerdings sollten jene vorsichtig sein, die versuchen, die Universitäten durch eine Fülle von Maßnahmen zu vereinnahmen, zu denen dann sprachpolizeiliche Maßnahmen ebenso gehören wie in Zukunft dann wohl auch Umerziehungskurse (die zum Beispiel unter der Rubrik Antirassismus- oder Diversity-Training laufen könnten wie im angelsächsischen Ausland zum Teil schon üblich). Wenn die Universitäten selbst nicht mehr in der Lage sind, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit zu garantieren, dann könnte sich am Ende der Staat veranlasst sehen, mit harten Mitteln einzugreifen, wie sich das jetzt in Großbritannien abzeichnet. Damit ginge dann auf andere Weise viel an akademischer Freiheit verloren.
Wissenschaft lebt vom freien Austausch der Meinungen und Thesen. Wird dieser Austausch durch Denunziationen und Denkverbote unterbunden, dann bleibt nicht mehr viel außer einem spezifischen, im Idealfall möglichst unverständlichen Fachjargon und leerer Rhetorik. Diese Art von Pseudowissenschaften werden dann aber irgendwann auch eher linke Regierungen vielleicht nicht mehr ganz so üppig finanzieren wollen, wenn man mit ernsthaften wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert ist und das Geld knapp wird. Und man sollte sich vielleicht nicht allzu sehr darauf verlassen, dass dieser Fall nie eintritt, auch wenn in Deutschland ja die Illusion herrscht, wir wären ein reiches Land und würden es für immer bleiben.
Wenn es namentlich den Geisteswissenschaften in Deutschland nicht gelingt, die Prinzipien der Wissenschaftsfreiheit gegen die diversen Hexenjäger, die vielerorts schon den Diskurs durch ihre Forderungen prägen oder zumindest maßgeblich beeinflussen, zu verteidigen, dann könnten sie damit ihr eigenes Todesurteil unterschreiben.