Tichys Einblick
Auflösungserscheinungen

Die Freiheit stirbt meterweise 

Ein FDP-Politiker, der eine Art Geheimpolizei fordert? Das ist keine Überraschung mehr. Noch nie war der illiberale Block so breit und selbstzufrieden wie heute. Der Grundkonsens der alten Bundesrepublik darüber, was Bürgerrechte bedeuten, löst sich auf.

© Sharosh Rajasekher

Der Spruch von der Freiheit, die zentimeterweise stirbt, gehört zu den Sätzen mit langer Geschichte. Er kehrt das Wort des amerikanischen Gründervaters Thomas Jefferson um, dass Freiheit gegen eine autoritäre Herrschaft zentimeterweise erobert werden muss („the ground of liberty is to be gained by inches“). Die spiegelbildliche Warnung, dass Bürgerrechte auch wieder Schritt für Schritt fast unbemerkt verschwinden können, gibt es schon länger im Englischen. In Deutschland machte der FDP-Politiker Karl-Hermann Flach die Wendung populär. Flach, Jahrgang 1929, hatte die Frühzeit der Diktatur in der DDR erlebt, bevor er 1949 in den Westen floh. 

In der Bundesrepublik des Jahres 2022 muss niemand mehr den Satz von der zentimeterweisen Grundrechtszerstörung bemühen. Die Freiheit stirbt gerade meterweise. Die Ost-Gruppe der FDP-Bundestagsfraktion – so meldete gerade Spiegel-Online – veröffentlichten ein sogenanntes Strategiepapier zum Umgang mit den zunehmenden Bürgerprotesten gegen die Corona-Maßnahmenpolitik, in dem sie fordern, die Trennung zwischen Geheimdienst und Polizei faktisch aufzuheben. Der Spiegel-Beitrag, das gleich vorweg, stimmt offenbar nicht ganz, besitzt aber einen harten Kern. Denn es gibt in der Regierungsfraktion mit dem F am Anfang tatsächlich jemanden, der meint, eine Art politische Polizei wäre das, was Deutschland noch fehlt. „Internetblasen und Chats“, so seine vom Spiegel ganz korrekt zitierte Begründung, dienten zur „Mobilmachung bei Proteststürmen“.

Die Rhetorik von „Mobilmachung“ und „Sturm“ suggeriert zwar etwas anderes: Aber weder analoge noch digitale Filterblasenbildung verstößt gegen irgendein Gesetz, jedenfalls bisher. Und auch nicht der Aufruf zu Demonstrationen. Noch gilt stattdessen Artikel 8 im Grundgesetz. Trotzdem soll das neue staatliche Instrument dieses Treiben beenden oder wenigstens bekämpfen: „Die Landesämter für Verfassungsschutz“, so klingt der neue freidemokratische Ansatz, „müssen eine eigene Unit schaffen für bessere Vernetzung, schnelleren Austausch und eine dafür spezialisierte Eingreiftruppe der Polizei, die kurzfristig agieren kann.“

Das offensichtlich schnell zusammengetippte Papier lässt in seiner sprachlichen Unschärfe offen, ob die spezialisierten Eingreiftrupps der Polizei als Teil der zusammengeschalteten Verfassungsämter oder als verlängerter Arm des Inlandsgeheimdienstes wirken sollen, der sich auf Zuruf des Verfassungsschutzes in Bewegung setzt. Das eine würde die Trennung zwischen Nachrichtendienst und Exekutive ganz aufheben, das andere die Aufgabenteilung umgehen. In der Praxis wäre der Unterschied zwischen den beiden Varianten ziemlich bedeutungslos. 

Für die Trennung zwischen Geheimdienst und Polizei gibt es in Deutschland gleich zwei naheliegende historische Gründe. Im Westen geht sie zurück auf den sogenannten Polizeibrief der alliierten Militärgouverneure an den Parlamentarischen Rat vom April 1949, der die Grundgesetzautoren mahnte, die Möglichkeit eines Geheimdienstes mit polizeilichen Befugnissen grundsätzlich auszuschließen. Eine geheime Staatspolizei sollte es nie wieder geben, auch nicht unter parlamentarischer Kontrolle und mit guten Absichten.

Bekanntlich gab es auch nach 1945 einen deutschen Geheimdienst mit unbeschränkter Zugriffsmacht, nämlich in der DDR. Nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur gehörte es deshalb zum erneuerten Allgemeingut quer durch die Parteien, die Demarkationslinie zwischen Diensten und Polizei nicht aufzuweichen, auch nicht an einer kleinen Stelle, egal, mit welcher Begründung. Die sächsische Verfassung beispielsweise verbietet in Artikel 83 ausdrücklich jede Vermischung, egal welcher Art: „Der Freistaat unterhält keinen Geheimdienst mit polizeilichen Befugnissen.“  

Auf Anfrage erklärte ein Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion, bei der Idee zu der Verfassungsschutz-Unit mit spezieller Polizeieingreiftruppe handle es sich nicht um ein Positionspapier der Ost-Abgeordnetengruppe, das habe der Spiegel falsch dargestellt beziehungsweise „hochgejazzt“, sondern nur um die „eigenständige Forderung“ des Vorsitzenden dieser Gruppe Hagen Reinhold, und natürlich wolle der die Trennung zwischen Geheimdienst und Polizei gar nicht antasten. Das Ganze sei, nun ja, vielleicht ein bisschen missverständlich formuliert. 

Wenn Politikern und zumal Regierungspolitikern etwas, wie es dann heißt, herausrutscht, dann sollte die Öffentlichkeit allerdings dankbar sein. Denn dadurch erfährt sie immerhin, was in dem Mandatsträger steckt. Reinhold befindet sich mit seiner Forderung in einer harmonischen Gesellschaft des Regierungslagers, in der vielleicht nicht alle, aber sehr viele das Gleiche denken.

Die Schaffung einer Fusion aus Geheimdienst und Spezialpolizei zur Bekämpfung von Filterblasen und Demonstranten passt beispielsweise hervorragend zu dem Satz der neuen Bundesinnenministerin Nancy Faeser: „Wer Hass und Hetze verbreitet, bekommt es mit der Polizei zu tun.“ Faeser besitzt ein Jura-Diplom, sie weiß also, dass es sich bei „Hass und Hetze“ nicht um Straftatbestände handelt und dass außerdem die Strafverfolgung nicht in der Hand der Polizei liegt. Wahrscheinlich gab es seit 1949 noch nie eine politische Figur an der Spitze des Innenressorts, die so zielgerichtet an Recht und Verfassung vorbeiredete. Und zwar – die Juristin Faeser wird diese Feststellung richtig verstehen – mit Vorsatz. Die Grünen-Abgeordnete Saskia Weishaupt wiederum empfahl bekanntlich im Dezember als Mittel gegen Demonstranten in München „Pfefferspray und Schlagstöcke“.

Screenprint: twitter/via argonerd

Zu Reinholds Anwandlungen passt auch der FDP-Justizminister Marco Buschmann, der nicht etwa seine Kollegin Faeser daran erinnert, was im Grundgesetz und was alles nicht im Strafgesetzbuch steht, sondern der öffentlich darüber sinniert, wie sogenannte Impfverweigerer künftig bestraft werden sollten, der sich also schon Gedanken um die Exekution eines illiberalen Gesetzes macht, von dem noch nicht einmal ein Entwurf existiert, und das deshalb im Parlament noch keine Minute lang debattiert wurde. 

Unter normalen Umständen gibt es wenigstens in der politischen Opposition ein Gegengewicht. Unter den deutschen Umständen des Jahres 2022 nicht. In München führte Bayerns CSU-Innenminister Joachim Herrmann gerade das Zauberkunststück vor, mit den Formeln „der Infektionsschutz hat höchste Priorität“ und „Allgemeinverfügung“ das verfassungsmäßige Demonstrationsrecht einfach verschwinden zu lassen. Ministerpräsident Markus Söder fordert die „Abschaltung“ des Messengerdienstes Telegram in Deutschland mit der Begründung, dort würde auch zu Straftaten aufgerufen. Bereits verboten ist Telegram in China, Russland, Weißrussland, dem Iran und Indonesien. (Immerhin, gegen Söders Abschalt-Forderung gab es ein paar Widerworte.)

In früheren und mittlerweile märchenhaften Zeiten, in denen eher Politiker auf der rechten Seite des politischen Spektrums mit Knüppeln argumentierten und die Verfassung mitunter nicht ganz für voll nahmen – es gab einmal einen bayerischen Innenressortchef, der meinte, er könnte nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen –, in dieser Zeit also, die schon „historischen Edelrost“ (Thomas Mann) trägt, gab es meist sogar mehrere Mitglieder der Partei Karl-Hermann Flachs, die den Finger hoben und öffentlich sagten, so ginge es aber nicht. 

Es spielt also keine große Rolle, ob der FDP-Mann Hagen Reinhold die Forderung nach der Verfassungsschutz-Polizei-Greiftruppe ganz allein ausheckte oder ob er dabei Komplizen hatte. Der Punkt besteht erstens darin, dass es ein Freidemokrat ist, der mitten in dieser Klimax der Freiheitsverachtung auf sich aufmerksam macht, indem er eine Geheimpolizei fordert. Und zweitens darin, dass ihn seine Fraktion dafür nicht in Grund und Boden rammt und ihm den Austritt nahelegt, sondern dazu schweigt. 

Darin liegt eine innere Logik. Zwischen Faeser, Weishaupt, Buschmann, Reinhold, Herrmann, Winfried Kretschmann – „Eigensinn in die Schranken weisen“ – und viele andere Repräsentanten dieser Politik passt ganz offenkundig kein Blatt Papier einer zerfledderten Verfassung. 

Interessant sind die Stichpunkte, mit denen der FDP-Fraktionsmitarbeiter die Forderung des Freidemokraten nach einer Sonderpolizei gegen Demonstranten begründet. Es brauche eben mehr Vernetzung der Verfassungsschutzämter untereinander und der Geheimdienstler wiederum mit der Polizei, um gegen Demonstranten vorzugehen, die beispielsweise vor dem Haus eines Politikers aufmarschieren wollten. Da könnte die Polizei doch nicht erst aktiv werden, „wenn die Leute schon mit den Fackeln hinter dem Berg vorkommen“. Nun bietet bekanntlich schon das bestehende Polizeirecht alle Möglichkeiten, um Gefahren abzuwehren und Straftaten zu verfolgen.

Bemerkenswert ist, dass nicht nur der FDP-Ostpolitiker im Bundestag, sondern auch etliche seiner Kollegen in anderen Parteien sich mit Vorschlägen überbieten, seit etwa 30 Demonstranten mit Fackeln vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin auftauchten. Das, hieß es damals bei Maßnahmepolitikern und wohlmeinenden Medienmitarbeitern, sei die Überschreitung einer roten Linie – die taucht in so einem Fall nämlich schlagartig wieder auf –, ein Dammbruch, eine ganz neue Qualität, die jetzt auch einer ganz neuen Antwort bedürfe. 

Im Jahr 2017 demonstrierten Berliner Linksradikale vor der Praxis des Zahnarztes Marius Radtke mit der Parole: „Marius Radtke raus aus Weißensee“, und sie verschickten Briefe an andere Zahnärzte in der Umgebung, Radtke keine Patienten mehr zu überweisen. Zum Ziel der Demonstranten war der Mann geworden, weil er in die AfD eintrat und in die Bezirksverordnetenversammlung gewählt wurde. Seine Praxis war für Radtke durchaus so etwas wie ein zweites Zuhause, auf jeden Fall gehörte sie zu seiner Privatsphäre. Die Empörung der Politiker anderer Parteien über die Drohaufmärsche hielt sich damals sehr in Grenzen. 

Im Februar 2020 sammelten sich Demonstranten vor dem Haus des Thüringischen Kurzzeitministerpräsidenten Thomas Kemmerich, um ihn zum Rücktritt zu zwingen. Seine Kinder brauchten vorübergehend Polizeischutz. Zur gleichen Zeit wurde in Mecklenburg-Vorpommern das Haus einer FDP-Politikerin mit Steinen beworfen (Medien meldeten damals, die Steinwürfe hätten keinerlei politisches Motiv gehabt, das hätten die Täter der Polizei jedenfalls persönlich versichert). Große politisch-mediale Empörungswellen gegen diejenigen, die Häuser von Politikern zum Zielobjekt machten, gab es damals nicht. Nicht einmal in der FDP, deren Mitglieder betroffen waren. Eher richteten sich die Erregungswellen gegen Kemmerich, auch gegen seine Partei, die sich so gut wie möglich duckte, um die Angriffsfläche zu verkleinern. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken dankte damals den Demonstranten – auch denen vor Kemmerichs Privathaus – ausdrücklich für den „Druck der Straße“. 

In Berlin belagerten linke Aktivisten wiederholt das Haus des polnischen Botschafters in Dahlem; es ging der Erklärung der Demonstranten zufolge eigentlich nicht gegen den Diplomaten selbst, die Aktion diente der Bestrafung seiner Frau, die als polnische Parlamentsabgeordnete der PiS für das verschärfte Abtreibungsrecht gestimmt hatte. Gegenüber der taz erklärte eine Organisatorin der Hausbelagerung: „Die Residenz ist kein privater, sondern ein politischer Ort.“ Und: „Wir haben gedacht, das kann doch nicht sein, dass diejenige, die dafür verantwortlich ist, dass es so vielen Frauen in Polen schlecht geht, in Berlin ganz in Ruhe in ihrer Villa lebt.“

Screenprint TAZ

Auch hier erhoben sich keine wahrnehmbaren Gegenstimmen aus den politisch-medialen Kreisen in Berlin-Mitte, etwa dergestalt, dass man durchaus das neue Abtreibungsrecht in Polen schlecht finden und dagegen demonstrieren könnte, aber Leute in ihrem privaten Lebensumfeld in Ruhe lassen sollte.

Mit roten Linien ist es so eine Sache. Entweder gelten sie immer, oder sie bedeuten nichts. Jedenfalls lassen sie sich nicht erst dann ziehen, wenn eine bestimmte Methode – in diesem Fall der Aufmarsch vor einem Privathaus zur Druckausübung – einmal eine Vertreterin des eigenen politischen Milieus trifft. Der Autor dieses Textes plädiert übrigens dafür, Politiker und sonstige Amtsträger in ihrer privaten Umgebung in Frieden zu lassen. Es muss dann nur eben für alle gelten. 

Das ständige Auswechseln von Maßstäben gehört zu den typischen Begleiterscheinungen der Freiheitsverachtung. Das zeigt sich auch bei der Obrigkeitsreaktion auf die Plattform Telegram, die Söder gern abschalten würde, und auf die Demonstrationen überall im Land nicht nur gegen die Coronapolitik, sondern auch gegen die systematisch manipulierten Zahlen, mit denen viele Maßnahmen begründet wurden. Illiberalität und Heuchelei gehen nun einmal als hässliche Geschwister Hand in Hand, getreu dem Motto: „Keiner soll knüppeln, ohne zu lügen.“

Zweifellos gibt es bei den sogenannten Corona-Demonstrationen auch Gesetzesverstöße einzelner Demonstranten (so, wie es auch Übergriffe durch Polizeibeamte gab, deren Untersuchung sich mittlerweile seit über einem halben Jahr hinschleppt). Aber wesentlich mehr Gewalttaten und andere Gesetzesverstöße fanden beispielsweise bei Aktionen der Anti-Kohle-Bewegung „Ende Gelände“ statt, etwa gegen die Besetzer des Hambacher Forstes. Mit „Ende Gelände“ sind auch größere Teile von „Fridays for Future“ verbunden, und auch bei FFF finden sich eine Menge Aufrufe, sich über das Gesetz hinwegzusetzen (und außerdem noch Sympathie für Antisemitismus, Diktaturen und anderes mehr).

Trotzdem gab es bisher keine lauten Forderungen aus Politik und Medien, beispielsweise „Ende Gelände“ zu verbieten, „Fridays for Future“ vom Verfassungsschutz überwachen zu lassen, und zur besseren Abwehr von möglichen Straftaten die Grenze zwischen Verfassungsschutzämtern und Polizei ein bisschen zu durchlöchern. Und was die Verbotsüberlegungen gegen Telegram betrifft: Gewaltphantasien und -drohungen etwa gegen sogenannte Querdenker finden sich auch zuhauf auf Twitter. 

Natürlich fordert Söder im Verein mit ARD-Redakteuren deshalb nicht, die bevorzugte Plattform von Politikern und sonstigen Verbreitern der guten Gesinnung abzuschalten.

Screenprint Tagesschau.de

Zu den absurdesten Erscheinungen gehört die Praxis von Politikern und Bewusstseinsschaffenden in den Medien, immer wieder und unisono zu betonen, die Demonstranten, die jetzt gegen ihre Coronapolitik auf die Straße gingen, seien eine „laute Minderheit“. Die FAZ beispielsweise traf diese Feststellung in ihrer Ausgabe vom 4. Januar, in der es auch um die Demonstrationen am Montag in Dutzenden Städten ging. Einmal hieß es gleich in der Überschrift im Politikteil, es handle sich um eine Minderheit, dann stellte noch einmal im Feuilleton der Domkantor des sächsischen Freibergs in einem Interview fest, dass in seiner Stadt „eine Minderheit die Wahrnehmung bestimmt. Lautstark, aber trotzdem eine Minderheit.“ 

Screenprint: FAZ

Aber wann sollte das je anders gewesen sein? Immer und überall demonstriert nur eine Minderheit der Bevölkerung. Auch bei Veranstaltungen der Thunberg-Neubauer-Bewegung. Kundgebung einer „lautstarken Minderheit“, das ist geradezu die Definition von Demonstration. Wer auf sich und seine Anliegen aufmerksam machen möchte, tritt meist nicht stillschweigend auf. Das Versammlungsrecht ist das Minderheitsrecht per se. Frühere kluge Köpfe hinter der „Zeitung für Deutschland“ wussten das noch. 

Es demonstrieren – das noch als nötiger Einschub – nicht nur „Impfgegner“. Nicht jeder, der sich aus welchen Gründen auch immer nicht gegen Corona impfen lässt, lehnt generell das Impfen ab. Gegen eine Impfpflicht wenden sich auch viele Geimpfte (beispielsweise der Autor dieses Textes). Mehr und mehr Menschen empören sich auch über die manipulierten Ungeimpften- und Krankenhausbelegungszahlen aus Hamburg, Bayern und anderswo, mit denen dann teils willkürliche und teils schädliche staatliche Maßnahmen begründet wurden und immer noch werden. Und: An den Fake-Zahlen, die unter der Verantwortung von Söder, Tschentscher und anderen zusammengestoppelt wurden, ist kein Telegram schuld. Gäbe es eine insgesamt intakte Medienlandschaft in Deutschland, Söder und Tschentscher wären ihre Ämter schon los. 

Dass es sich bei Grundrechten um Abwehrrechte des Bürgers gegen einen zudringlichen Staat handelt, dass Rechte kein Geschenk des Staates sind, dass sich die Qualität eines Gemeinwesens gerade an der Achtung von Minderheitsrechten misst – nicht nur bei Demonstrationen, sondern auch bei der Vergabe von Vizepräsidenten- und Ausschussvorsitzendenposten an alle Oppositionsparteien im Bundestag –, dass Medien vor allem der Regierung auf die Finger schauen sollten, dass es gute Gründe gibt, Geheimdienst und Polizei zu trennen und überhaupt die staatliche Macht sinnvoll zu begrenzen und an das Recht zu binden – das galt einmal als Konsens, dem sich zwar nie alle in der Bundesrepublik verpflichtet fühlten, aber doch eine halbwegs große Zahl von Leuten mit öffentlicher Wirkung, und zwar vom linksliberalen bis ins rechte Spektrum. Und ein paar Vertreter der Partei Flachs fanden sich dort auch immer. Bei den Verteidigern dieser Grundsätze gab es auch das Gespür für die Möglichkeit, dass irgendeine illiberale Methode, mit der gerade der politische Gegner traktiert wird, sich irgendwann auch einmal gegen sie selbst richten könnte.

In der aktuellen Phase der demonstrativen Freiheitsverachtung und Freiheitsbeschimpfung von Oben ist dieses konsensuale Band gerissen. Es gibt noch einige, die das früher Selbstverständliche verteidigen. Auch auf der linken Seite, wobei es beachtlich ist, wie neuerdings selbst ehemalige Paradepferde des Medienzirkus mit Verdächtigungen und Exklusionsformeln überzogen werden, weil sie darauf aufmerksam machen, was Grundrechte bedeuten. 

Nie war jemand von Prantl bis Precht schneller ein Wirrkopf auf Abwegen als in dieser Zeit, in der politisches Establishment, Medienapparat, Amtskirche und staatlich alimentierte Vorfeldorganisationen derart untergehakt im Gleichschritt stampfen, wie es noch nicht einmal im Kaiserreich der Fall war. Wer im Unterhaken und Unisonosprechen einen Wert an sich sieht, wird fast zwangsläufig illiberal und täglich dümmer. Dass sie sich möglicherweise radikalisiert haben, kommt einer Faeser, einem Söder, einem Herrmann und einem FDP-Politiker mit Stasi-Phantasien selbstredend nie in den Sinn.

Autoritäre des alten Schlags sagten einfach irgendetwas Autoritäres und standen wenigstens dazu, reaktionäre Knochen zu sein. Neoautoritäre stellen in einem Atemzug fest, dass sie erstens überhaupt nicht autoritär sind, und zweitens, dass sie es völlig zurecht sind, weil es schließlich gegen die Richtigen geht, also die aus ihrer Sicht Falschen, und dass die Impfpflicht mit Strafandrohungen, Beschneidung des Demonstrationsrechts, Löschungen wie die des Achgut-Kanals auf Youtube und Forderungen nach viel weitergehenden Maßnahmen selbstverständlich nur dem Schutz der richtig verstandenen verantwortungsvollen Freiheit dienen. 

Sagt man etwa einem Tagesspiegel-Redakteur, dass er wie ein Journalismusfunktionär des Neuen Deutschland von 1989 klingt, wenn er Demonstranten „staatsfeindlich“ nennt, dann springt der Betreffende höchstwahrscheinlich im Dreieck vor Wut, Trauer und Betroffenheit über die Feststellung und hält als Wahrheitsbeweis dagegen, dass ihm sein Selbstbild etwas ganz anderes mitteilt. 

Für ihn und die anderen des sehr, sehr breit gewordenen freiheitsfeindlichen Blocks gilt der Satz von Gerhard Polt: „Ich brauch keine Opposition, weil ich bin bereits Demokrat.“ Bei Polt war das ein Witz. Regierungspolitiker und ihre medialen Verteidiger nehmen den Satz völlig ernst. In dieser luftabschnürenden Atmosphäre stirbt die Freiheit meterweise. 

Vielleicht besitzt das liberale Wählerpotenzial bei der nächsten Bundestagswahl immerhin die Kraft, wenigstens eine FDP, in der Politiker heute unbehelligt autoritäre Vorschläge herauströten, in den Abgrund zu schicken. Die Freiheitsfreunde in dieser Truppe, die es ja durchaus noch gibt, wären dann hoch willkommen in einer liberalen Partei, die Deutschland heute so nötig braucht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. 

Von Karl-Hermann Flach stammt auch die Feststellung: „Wer glaubt, alles besser zu wissen, wer sich im Besitz letzter Wahrheiten wähnt, und für alle aufkommenden Fragen bereits Antwortklischees bereithält, schrumpft auf die Bedeutung einer politischen Sekte zusammen.“ 

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