Die Deutschen, meinte Friedrich Nietzsche einmal, lebten tausend Kilometer zu weit nördlich. Erst unter der Sonne Italiens würde ihnen Geist und Herz wirklich aufgehen. Er selbst verlegte sein Leben – „Unschuld des Südens, nimm mich auf“ – sein Leben lang Schritt für Schritt Richtung Mittelmeer, von Naumburg und Leipzig via Basel nach Genua, Rapallo, Venedig, Riva, Recoaro und Messina. Dort wohnte er bevorzugt im Winter, im Sommer zog er das von Naumburg aus gesehen immer noch südliche Sils Maria vor, den schönen Ort, an dem später Theodor W. Adorno seine Frau unter Zuhilfenahme seines Spazierstocks aus dem Bild schob, um das Panorama besser genießen zu können. Fast jeder deutsche Dichter machte sich irgendwann auf den transmontanen Weg, Johann Gottfried Seume bekanntlich sogar zu Fuß. Es gibt Spekulationen, Goethe hätte erst in Rom die körperliche Liebe kennengelernt. Jedenfalls fühlte er sich nie wieder so pudelwohl wie dort. „Euch darf ich’s wohl gestehen“, schrieb er hinterher, „seit ich über den Ponte molle heimwärts fuhr, habe ich keinen rein glücklichen Tag mehr gehabt.“
Den Dichtern folgten dann irgendwann die Deutschen in Massen, sobald sie über das nötige Reisegeld verfügten. Jahrzehnte später konnten sie in der Corona-Zeit studieren, dass viele Covid-Regeln in Italien zwar auf dem Papier ziemlich streng wirkten, aber eben nur dort. In Wirklichkeit übersetzte man diese Vorschriften mit landestypischen scioltezza ins Leben, und zwar je südlicher desto besser.
Italien ist das Land, in dem nicht nur die Zitronen blühn, sondern auch manche Neurosen der Nordländer verdorren. Und zwar hauptsächlich die, selbst den lebensfeindlichsten staatlichen Regeln unbedingt folgen zu müssen. Es verhält sich nämlich so: Nicht nur auf den Transparenten der Letzten Generation, sondern auch in jedem Regelwerk gibt es Kipppunkte. Halten die Vorschriften ein menschliches Maß, folgen ihnen die meisten guten Bürger im Großen und Ganzen. Pferchen Regeln und Gesetze sogar das Privatleben ein, widersprechen sie einander und verfolgen sie vor allem den Zweck, dem Individuum zu zeigen, wo der staatliche Holzhammer hängt, dann wächst irgendwann die Bürgerneigung, darauf zu pfeifen, und nach Schlupflöchern zu suchen.
Wo die roten Linien für den Staatsapparat liegen, dafür entwickelte die Klasse der Moralbesitzer in Deutschland über die gesamte Geschichte hinweg nie ein vernünftiges Gefühl. Ihr Glaube besteht darin, dass sich jede Schraubzwinge, egal, wie gut sie schon sitzt, immer noch ein bisschen fester drehen lässt. Die berühmte Umdrehung zu viel kommt in ihrem Weltbild überhaupt nicht vor. In der Wahrnehmung der eingeklemmten Bürger schon. Womit wir zu der eigentlichen Klimawandlung in Deutschland kommen. Hier mediterranisiert sich die Gesellschaft nämlich in großen Schritten, auch wenn das Wetter im Italien-Vergleich immer noch schlecht abschneidet.
Zur ersten großen Lockerungswelle unter bisher überwiegend gesetzestreuen Deutschen kam es in den letzten Monaten 2022 und den ersten des Jahres 2023, als die Finanzämter sie zu der Fronarbeit verpflichteten, zur Neuberechnung ihrer Grundsteuer alle Daten über ihre Immobilien zusammenzutragen, über die der Staat zwar längst verfügte, die er aber nicht selbst zusammensuchen konnte oder wollte. Damals hörte man in geselligen privaten Runden und gelegentlich sogar in sozialen Netzwerken, bei der Flächengröße könnte man sich doch durchaus einmal vertippen oder verrechnen. Würden Behörden, die es offensichtlich noch nicht einmal schafften, in ihren eigenen Datensammlungen nachzusehen, tatsächlich Messtrupps in jedes Haus und jede Wohnung schicken? Nicht, dass der Autor dieser Zeilen das jemals selbst so machen würde. Der besitzt zwar ein bisschen zur Alterssicherung, lebt aber selbst – dieser Hinweis nur, damit kein Sozialneid aufkommt – in einer unverkäuflichen Münchner Wohnung zur Miete. Also: Nie würde ich zur Notwehranarchie aufrufen. Ich gebe nur wieder, was ich höre.
Die Bürger sprachen so, weil sie merkten, wie hier die Obrigkeit eine Zwinge noch ein bisschen fester einstellen wollte. Nach der Neuregelung der Grundsteuer hatte in der Bevölkerung niemand gerufen. Als der Bundestag sie durchwinkte, sagten sich die meisten: nun gut. Als ihnen das Amt die Pflicht zur kostenlosen Zuarbeit aufhalste, murrten sie schon erheblich. Vor allem ahnten sie aber, dass es meist auf eine Erhöhung hinausläuft, und sie ahnten das auch deshalb, weil ihnen der Bundeskanzler vorher exakt das Gegenteil versichert hatte. Mittlerweile besitzen nämlich selbst gutwillige Deutsche ihre Erfahrungen mit den Versprechen einer Obrigkeit, deren Unterhalt sie täglich mehr als den Gegenwert einer Kugel Eis kostet.
Kurz und gut, viele fanden, der Staat verhalte sich ihnen gegenüber unverschämt und unehrlich. Damit fühlten und fühlen sie sich legitimiert, nach Aus- und Umwegen zu suchen, wie der Süden sie seit Jahrhunderten kennt.
Die nächste große Lockerung erleben wir gerade als Reaktion auf das Heizungsgesetz von Robert Habeck und seinen Bündnisgenossen. Kürzlich saß ich mit einem Unternehmer zusammen, dem ebenfalls ein paar vermietete Wohnungen in Mehrfamilienhäusern zur Alterssicherung gehören. Auf meine Frage, wie Eigentümer damit umgehen sollten, wenn sich dort eine Gas- oder Ölheizung ab 1. Januar 2024 tatsächlich irreparabel verabschiedet, meinte er: Besonders große Sorgen würde er sich nicht machen. Dann würde eben eine neue Gasheizung in Holland gekauft, und hier schwarz montiert. Er glaube nicht, dass dieser Staat tatsächlich über genügend Leute verfüge, um seine Nase in jeden Heizungskeller zu stecken. Vor allem nicht über ausreichend kompetentes Personal, das eine illegale Anlage erkennt. Der eine oder andere würde vielleicht erwischt und dann, wie es hier landestypisch ist, als Schwarzheizer exemplarisch abgestraft. Diese Wahrscheinlichkeit schätzte er ähnlich ein wie die Chance, dass ein öffentliches Bauprojekt im Kostenrahmen bleibt, oder dass der Strompreis wie von Katrin Göring-Eckardt vorausgesagt sinkt, nachdem die letzten deutschen Kernkraftwerke nicht mehr laufen. Der Mut zur Lücke, meinte er, lohne durchaus. Denn die Lücken seien recht groß.
Das klingt sehr plausibel in einem Land, in dem eine Allerweltsfrickelei an einem städtischen Schienenstrang länger dauern kann als ein ganzer U-Bahnbau in China, und wo schon die Abiturprüfung in einem Bundesland wegen technischer Probleme nicht wie geplant stattfindet.
Nicht nur die Bürger verhalten sich nicht mehr so folgsam wie früher. Auch der Staat unterscheidet sich mittlerweile stark von dem Bild, das er noch vor dreißig Jahren abgab. Um Heizungsumbauverweigerer zu bekämpfen, würde er vermutlich nach der einmal einstudierten Methode irgendwelchen Organisationen Geld zuschanzen, damit sie eine Meldeplattform einrichten.
Ohne Zweifel gibt es auch – zumindest in Berlin – genügend Kader, die darauf brennen, normale Bürger zu überwachen und zu strafen. Allerdings verfügen sie über doch recht begrenzte Fähigkeiten. Über das Straßenblockieren, Farbspritzen und öffentliches Reden wider den klimafeindlichen Luxus gehen die Talente der neuzeitlichen Fanciulli offenkundig nicht hinaus. Offenkundig reicht es noch nicht einmal zur Unterscheidung zwischen CO2-Ausstoß und CO2-Verbrauch.
Es fällt wirklich schwer, in diesem Personal Hauskontrolleure der Zukunft zu sehen, die es auch nur schaffen würden, ein vernünftiges Protokoll zu schreiben.
Der Zusammenprall von Normalitaliener mit Kinderstoßtrupps und den Predigern dahinter liegt deutlich länger zurück als bei ihren nördlichen Nachbarn, genauso wie die entsprechende Erfahrung auf dem Gebiet, wie man Plagegeister dieser Sorte wieder loswird. Zugegeben, 1498 benutzten die Florentiner dafür keine Schlupflöcher, es verhielt sich vielmehr so, dass Savonarola keins mehr blieb, sondern nur ein recht CO2-intensives Ende. Leben und leben lassen galt damals nicht immer. Vor allem nicht für Leute, die sich diese Weisheit nicht selbst zu Herzen nahmen.
Neben den beschriebenen mediterranen Wegen, auf die sich mehr und mehr Deutsche begeben, gibt es auch erlaubte, aber bislang wenig bekannte Schleichpfade, die dazu dienen, dem Staatszugriff auszuweichen. Beispielsweise gilt es als guter Tipp, sich bei spezialisierten Händlern einen Verbrenner mit H-Kennzeichen zu besorgen. Es gibt Anbieter von Autos, in deren Stoßdämpfern nicht unbedingt schon dreißig echte Straßenjahre stecken. Hauptsache, die Zulassung eines gepflegten Wagens liegt drei Jahrzehnte zurück. Das Schmuckstück darf sogar in die Umweltzonen.
Weil der Staat – ganz anderes Thema, gleiches Gebiet – zum Beginn des Jahres 2023 klammheimlich die sogenannte Wegzugsbesteuerung für Firmeninhaber auch auf einen Wohnsitzwechsel innerhalb der EU ausdehnte, machten sich einige schon vorher davon. Früher mussten nur GmbH-Besitzer eine Steuer zahlen, als hätten sie ihr Unternehmen verkauft, wenn sie die EU verließen. Neuerdings trifft es wie gesagt schon jemanden, der von Rosenheim nach Salzburg wechselt. Manche, die vielleicht erst im Alter woandershin gezogen wären oder gar nicht, entschieden sich also, lieber vor dem Stichtag zu verduften. Was dazu führt, dass der deutsche Fiskus ihnen nicht nur nicht mehr das Fell über die Ohren ziehen kann. Sie geben jetzt auch ihr Kleingeld und damit die Mehrwertsteuer woanders aus. Schon in einem älteren TE-Text heißt es, dass Deutschland und Italien – wieder auf einem anderen Teilsektor – einander ideal ergänzen.
Während hierzulande gerade verschiedene politische Kräfte erklären, dass starke Schultern noch mehr tragen sollten, bietet bel paese eine Pauschalbesteuerung ab 100.000 Euro per anno an, falls jemand dort in ein hübsches Dorf mit maximal 20.000 Einwohnern zieht. Was dort aber niemand mit teutonischem resp. ehemals teutonischem Behördeneifer nachprüft. Jemand im Freundeskreis, auch Unternehmer, kaufte sich unlängst unten im Stiefelabsatz ein. Dort, sagt er, gebe es noch Häuser ab 30.000 Euro mit etwas Land ringsherum. Übrigens würden Beamte, die südlich von Rom eine Habecksche Immobilienzwangssanierung wirklich humorlos durchknüppeln wollten, schon bei der ersten Inspektion vermutlich mit der Lupara empfangen. Nicht von meinem halbexilierten deutschen Freund selbstredend, nie und nimmer, um das klarzustellen. Sondern ganz allgemein. Da die lokalen Beamten das wissen, finden sie von ganz allein die berühmten Umgehungsstraßen, auf die das Leben dort traditionell ausweicht.
Der Charme wiederum der sehr nördlich-deutschen Bürgerlenkung besteht darin, dass viele Bürger ohne den ausgeübten Zwang gar nicht auf die informellen Pfade gekommen wären, die sie dann notgedrungen einschlagen.
Da vorhin das Stichwort Savonarola fiel: Vergangenheitskenntnisse helfen beim Umgang mit Oberen, die unbedingt Grenzen im Umgang mit ihren Erziehungssubjekten austesten wollen. In der DDR-Frühzeit gab es eine ausgedehnte Kampagne gegen Leute, die westliche Sender sahen oder hörten. Dazu benötigten diese renitenten Personen Antennen auf dem Hausdach, teils gekauft, vielfach aber auch selbstgebastelt. Sie mussten kunstvoll hin und her gedreht werden, bis das Bild von ARD und ZDF vom Schneegriesel zur nötigen Schärfe wechselte. Einer operierte also oben auf dem Dachboden, der andere rief von unten: „Jetzt so lassen.“
Der Empfang des RIAS gestaltete sich etwas einfacher, erstens wegen der enormen Sendeleistung, zweitens, weil dessen Westberliner Zentrale, wie die Genossen klagten, als Stachel mitten im Fleisch saß. Es ließ sich also mühelos an den Hausdächern ablesen, wer den Funk von drüben konsumierte. Dafür brauchte es noch nicht einmal ein Meldeportal. Die damalige Transformationspartei stellte, als hätten sie von Florenz die falschen Dinge gelernt, ebenfalls Kinder- und Jugendsturmtrupps zusammen, die den Leuten das Falschsehen- und Hören per Agitation austreiben und notfalls die wegen ihrer Form von der SED „Ochsenköpfe“ genannten Antennen demontieren sollen.
Nein, bei dem, was hier unten folgt, handelt es sich nicht um Quarks-Kacheln vom WDR. Sehen Sie bitte ganz genau hin.
Nach einigen Anläufen stellte die SED den Versuch ihrer Medienerziehung wieder ein. Teils, weil es den FDJ-Fanciulli in der direkten Begegnung dann doch an Argumenten mangelte. Aber auch, weil sich die Arbeiter und Bauern mitunter handgreiflich wehrten, wenn die kleinen Tugendeiferer einen Ochsenkopf absägen wollten. Die Immerrechtpartei hätte theoretisch mehr Kräfte an diese Nebenfront werfen können. In ihrem Politbüro saßen allerdings – anders als im Grünen-Vorstand heute – ein paar ehemalige Handwerker, die noch die Regel kannten, wonach beim Schraubenanziehen nach dem Zustand ganz fest nicht etwa noch fester kommt, sondern ganz locker.
Eine politische Kraft, die ohnehin schon sehr viele Lebensbereiche der Untertanen kontrollieren wollte, tat gut daran, ihre Mittel auf die wichtigsten zu konzentrieren, um an anderen Stellen notgedrungen kleine Freiräume zu lassen. Also zog der in seinen Methoden sonst wirklich nicht zimperliche Staat seine Hand von den Antennen zurück. Es gab einfach zu viele davon. Der Erfolg einer Verweigerungshaltung hängt sehr stark von ihrer Quantität ab. Umgekehrt gilt für den Staat: Es besteht nicht nur die Gefahr der imperialen Überdehnung nach außen, sondern auch die einer bürokratisch-autoritären nach innen.
Um von den ganz und gar ungerechtfertigten Parallelen wieder in die Gegenwart zu springen: Selbstverständlich könnten Mandatsträger in Deutschland versuchen, irgendwelche Sonderkräfte zur Heizungskellerinspektion zusammenzuziehen, die Nische der H-Kennzeichenfahrzeuge zu verrammeln und sich mit Italien wegen der Pauschalbesteuerung anzulegen. Sie könnten eine Wegzugsbesteuerung auch für Nichtfirmenbesitzer beschließen und viele andere Schikanen mehr. Für einen gesperrten Trampelpfad ergeben sich aber erfahrungsgemäß zehn neue. Bürger entwickeln beim Schlupflochfinden wesentlich mehr Phantasie als Politiker beim Abriegeln. Und je ungerechter die Verhältnisse, desto geringer die Hemmung der ungerecht Behandelten auszuweichen, Haken zu schlagen und nebenbei ein bisschen Sand ins Getriebe zu werfen.
Würden Deutschlands Politiker also wenigstens ein bisschen aus dem Schicksal Savonarolas oder gleich von der italienischen Gegenwart lernen, könnten sich die Lebensverhältnisse auch diesseits der Alpen für beide Seiten sprunghaft verbessern. Idealerweise wären dann nicht nur die Bürger ein bisschen mediterranisiert, sondern auch ihre Repräsentanten. Falls jetzt jemand vor einer Korruptionszunahme warnt: Davor fürchten sich wirklich nur die allergrößten Pietisten. Der Rest ängstigt sich eher vor Amtsträgern, die eine Sache um ihrer selbst willen auch dann durchziehen, wenn um sie herum alles in Scherben fällt und sie grundsätzlich nichts annehmen, weder einen Umschlag mit Scheinen noch einen guten Rat. Diesen Bis-fünf-nach zwölf-Typus gibt es im Süden so gut wie gar nicht. Und zwar quer durchs gesamte Parteienspektrum.
Weiter oben hieß es: Vor allem hängt es an der Quantität. Wer Schlupflöcher sucht und findet, nützt erstens sich und zweitens dem Land. Je mehr sich darauf verlegen, desto besser. Aber wie gesagt: Nie würde ich zu irgendetwas animieren. Ich schreibe nur auf. Wie es in den Wildwestsaloons früher so ähnlich hieß: Schießen Sie bitte nicht auf den Chronisten. Er gibt schon sein Bestes.