Im Mai 2020 fällte das deutsche Verfassungsgericht ein damals zunächst aufsehenerregendes Urteil zu den Anleihenkäufen der EZB. Es äußerte nicht nur die Vermutung, dass diese Käufe ohne weitere einleuchtende Begründung illegal sein könnten, es erteilte auch dem EuGH eine Ohrfeige, dem es bescheinigte, der EZB faktisch einen juristischen Blankocheck ausgestellt zu haben ohne Rücksicht auf das geltende europäische Recht. Dass sich die Karlsruher Richter damit in Luxemburg, dem Sitz des EuGH, nicht gerade beliebt machten, kann man sich leicht denken. Allerdings war das Urteil von Anfang an so formuliert, dass die Bundesregierung, die es theoretisch zu exekutieren hatte, es sehr weich auslegen konnte, so weich, dass es praktisch folgenlos bleiben würde, und genau das tat die Bundesregierung mit der Unterstützung des Bundestages auch. Davon können die Richter in Karlsruhe nicht wirklich überrascht gewesen sein, sondern sie werden dies von Anfang an einkalkuliert haben. Das Verfassungsgericht hat zwar in den letzten 15 Jahren immer wieder vor möglichen ultra vires-Akten der EU-Organe gewarnt, aber zugleich eigentlich immer zu erkennen gegeben, dass es selber nicht gewillt sei, dagegen irgend etwas Ernsthaftes zu tun.
Von daher ist es schon sehr erstaunlich, dass das damalige, faktisch folgenlose Karlsruher Urteil jetzt zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik von Seiten der EU-Kommission geführt hat. Der Regierung Merkel kann man nun wahrhaft nicht vorwerfen, dass sie Maßnahmen der EU jemals offenen Widerstand entgegensetzen würde, allenfalls verzögert man auf manchen Gebieten die Umsetzung von EU-Recht auf nationaler Ebene, oder setzt dieses nur halbherzig um, was für andere europäische Länder natürlich in noch viel stärkerem Umfang gilt, falls diese nicht europäische Rechtsnormen sogar ganz offen ignorieren. Man denke an die Zustände in Flüchtlingslagern oder Gefängnissen in Griechenland, die es rechtlich oft unmöglich machen, dorthin Flüchtlinge zurückzusenden oder Strafgefangene abzuschieben – auch das nur ein Beispiel von vielen.
Die Stabilität der EU muss auf Vertrauen beruhen, nicht auf Zwang
Sicherlich, das muss man zugestehen, hat auch Deutschland ein starkes Interesse daran, dass europäisches Recht gegenüber den Mitgliedsstaaten durchsetzbar bleibt. So hat der EuGH vor kurzem ein Urteil gefällt, mit dem der ausufernde Braunkohletagebau, den Polen nahe der tschechischen und deutschen Grenze im Dreiländereck betreibt, eingeschränkt werden soll. Das ist ein wichtiges Urteil, denn auch deutsche Gemeinden können von den negativen Auswirkungen des Bergbaus betroffen sein, etwa durch einen niedrigeren Grundwasserspiegel oder eventuell auch durch das Absinken der Fundamente von Gebäuden in Städten wie Görlitz. Bis jetzt macht Polen wenig Anstalten, sich an das Urteil zu halten und auch das mag ein Grund dafür sein, dass die EU-Kommission jetzt ein Verfahren gegen Deutschland eröffnet, um auf diese Weise den Polen keinen Vorwand zu liefern, Europarecht einfach zu ignorieren. Allerdings wäre man in Brüssel und Luxemburg gut beraten, darüber nachzudenken, dass die Autorität eines Gerichtes auch etwas mit Glaubwürdigkeit und Unparteilichkeit zu tun hat. Ein Gericht wie der EuGH, das sich selbst eine politische Mission, nämlich die vollständige europäische Integration, zuschreibt, für die es als Gericht per se keine Legitimation besitzt – eigentlich soll es nur die bestehenden Verträge, Gesetze und Verordnungen möglichst neutral auslegen – riskiert auf Dauer, seine eigene Autorität zu schwächen oder sogar zu zerstören.
Die EU-Kommission will die europäischen Verträge im Sinne einer Provinzialisierung der Nationalstaaten uminterpretieren.
Aber für solche Argumente scheint man bei den Fanatikern des europäischen Einigungsprozesses wenig Verständnis zu haben. Eine besonders unglückliche Rolle spielt dabei die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, und dies nicht zum ersten Mal. Eine Frau, deren Eitelkeit das übliche Maß deutlich übersteigt und deren Machtstreben und Ehrgeiz kaum Grenzen kennen, will offenbar ein Exempel statuieren. Sie will, so scheint es, noch in ihrer Amtszeit die Fundamente für einen echten europäischen Bundesstaat legen. In diesem Sinne ist es konsequent, dass sie ihr Heimatland Deutschland in die Knie zwingen will. Sie weiß, dass deutsche Politiker einer offenen Konfrontation mit Brüssel immer ausweichen werden. In Karlsruhe vermutet sie andererseits eine letzte Trutzburg des Widerstandes gegen die weitgehende Abwicklung des demokratischen Nationalstaates; daher gilt es nun die stolzen, wenn auch in Wirklichkeit, wenn es ernst wird, wenig kampfeslustigen deutschen Verfassungsrichter vorzuführen und ein für alle Mal so zu demütigen, dass sie nie wieder gegen Brüssel oder Luxemburg aufbegehren. Der Beifall der deutschlandfeindlichen Medien in der EU und von deutschen und ausländischen Journalisten, die jede Verteidigung deutscher Interessen in Europa für grundsätzlich illegitim halten, ist ihr dabei allemal sicher. So wundert man sich dann auch nicht, auf politico.eu einen Artikel zu finden, der angesichts der bevorstehenden Demütigung des vermeintlich „arroganten“ Deutschlands in ein recht unappetitliches, höhnisches Triumphgeheul ausbricht.
Durch ihr Verhalten provoziert die EU-Kommission freilich eine Grundsatzdebatte, die sehr unerfreuliche Züge annehmen könnte. Bislang war die vorherrschende Rechtsauffassung die, dass die Kompetenzen der EU-Organe auf einer vertragsrechtlichen Ermächtigung durch die souveränen Mitgliedsstaaten beruhen. Da diese Mitgliedsstaaten ein Sezessionsrecht haben, also aus der EU wieder austreten können, wie Großbritannien es ja eben getan hat, muss ihnen logischer Weise auch ein residuales Recht verbleiben, sich im Notfall gegen ausufernde Rechtsakte der EU-Organe und schlimmstenfalls auch gegen eklatante Fehlurteile des EuGH, die das EU-Recht nicht sachgerecht auslegen, sondern aus politischen Gründen uminterpretieren, zu wehren, sonst wären sie am Ende nicht mehr als bloße Provinzen eines gemeinsamen europäischen Staates. So einen Zustand mag man sich wünschen, aber um ihn zu erreichen, müsste, wie Karlsruhe in der Vergangenheit klargemacht hat, im Falle Deutschlands das Grundgesetz durch eine ganze andere Verfassung ersetzt werden, und Ähnliches würde auch für andere europäischen Länder gelten.
Hat sich die EU-Kommission wirklich überlegt, wohin sie ihr Verfahren gegen Deutschland führen kann? Diesen Eindruck hat man nicht, vielmehr hat sie einen Krieg begonnen, der gerade in diesem konkreten Fall auch aus Brüsseler Sicht durchaus vermeidbar gewesen wäre. Allerdings ist es wohl das Kennzeichen imperialer Herrschaftssysteme, dass sie ihre Macht beständig ausdehnen wollen und dabei, wenn das geeignete Personal bereitsteht, ihre je eigene Form des Cäsarenwahns hervorbringen – in dieser Hinsicht agiert dann auch die EU nicht sehr viel anders als andere ältere Imperien.