Tichys Einblick
Große Transformation in bunt

Die EU auf dem Weg zum Imperium?

Zum ersten Mal strebt eine Bundesregierung einen föderalen europäischen Bundesstaat an. Schon jetzt fordert die Ampel, dass die Europäische Union „souveräner“ werden soll. Man werde eine besondere Verantwortung in einem „dienenden Verständnis“ für die EU wahrnehmen.

IMAGO / Future Image

Die Vereinigten Staaten von Europa – endlich gibt es sie schwarz auf weiß. Die Nachricht peitscht bereits durch soziale Medien und Internetportale. Sie hat historischen Wert. Zwar kreiste vielen Liebhabern der Brüsseler Bürokratie schon seit Jahrzehnten Ähnliches durch die Köpfe. Es fand jedoch bisher nicht den Weg in einen Koalitionsvertrag. Die ganze Passage in ihrem strahlenden Kontext: „Die Konferenz zur Zukunft Europas nutzen wir für Reformen. Erforderliche Vertragsänderungen unterstützen wir. Die Konferenz sollte in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen, der dezentral auch nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit organisiert ist und die Grundrechtecharta zur Grundlage hat.“

Ein verfassungsgebender Konvent – das klingt doch fast schon nach Paulskirchenversammlung! Mit dem Schönheitsfehler, dass es keine Märzrevolution mit Volkswillen gegeben hat, die eine solche Transformation – der Begriff ist auch hier Kernelement – bisher gefordert hätte. Es scheint auch keinerlei Überlegung zu geben, was nach der Absegnung einer solchen Verfassung durch den Konvent geschieht. Als das letzte Mal eine EU-Verfassung ratifiziert werden sollte, stimmten bekanntlich die EU-Kernländer Frankreich und die Niederlande in einer Volksabstimmung dagegen. Die Ahnung greift Raum, dass nicht so sehr der Glaube an eine Zustimmung unter den europäischen Völkern gewachsen ist als vielmehr die Gewissheit, eine Zustimmung über andere Abstimmungsmodi zu erzwingen. Deutschland schloss damals ein Referendum über die EU-Verfassung aus.

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So ein Vorstoß ins Große und Ganze dürfte selbstverständlich Kritik ernten. Nicht nur aus den ewiggestrigen Reihen rückwärtsgewandter Parteien. Denn die Staatsraison verbot es bisher, das ausdrückliche Ziel so offen zu formulieren. Das Aufgehen Deutschlands in einer Europäischen Föderation ist ein Staatsziel der Selbstvernichtung. Es ist demnach das genaue Gegenteil der Staatsraison, die verlangt, den Staat mit allen Mitteln zu erhalten. Die Selbstaufgabe, die auch auf anderen „progressiven“ Politikfeldern offen kommuniziert wird, findet hier ihre Vollendung.

Deutschland schafft sich nicht nur durch Migration und mangelhafte Integration, tausendfache Abtreibung, Auflösung in unbekannte Geschlechter, Erosion der Werte, Vernichtung des Wirtschaftstandortes und Verachtung der Vergangenheit wie des Vaterlandes als solches ab; es gibt sich schlichtweg als Nationalstaat auf. Und das nicht mit Wehklagen, Melancholie oder aus der Einsicht ins Notwendige, sondern enthusiastisch jubelnd und mit dreifachem Hurra, wie wir es sonst nur aus den eher weniger helldeutschen Zeiten kennen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in der jüngeren Vergangenheit immer wieder einen solchen Schritt als kaum mit dem geltenden Grundgesetz vereinbar bezeichnet. Das Grundgesetz ist kein positivistisches Handbuch, sondern besitzt Ewigkeitsklauseln. Zugegeben: Mit dem Grundgesetz sah es in den letzten Jahren düster aus, und das bereits lange vor Corona. Auch das Bundesverfassungsgericht hat an Ansehen in der Bevölkerung deutlich eingebüßt und sich in letzter Zeit nicht als eine Kraft betrachtet, die Legislative und Exekutive kontrolliert, sondern diese eher beratend begleitet. Es verwundert daher kaum, dass der Aufschrei, der die akademische Elite vom Juristen bis Politikwissenschaftler erfassen müsste, komplett ausbleibt. Wie so oft will Deutschland in Europa und der Welt vorangehen.

Dabei sollte man nicht auf die Idee kommen, dass dieses von der Ampel erdachte Europa nur ein etwas fester gezurrter Staatenbund im Sinne des Deutschen Bundes oder des Heiligen Römischen Reiches ist. Im Eingangstext sagt die zukünftige Bundesregierung: „Eine demokratisch gefestigtere, handlungsfähigere und strategisch souveränere Europäische Union ist die Grundlage für unseren Frieden, Wohlstand und Freiheit.“

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Das entscheidende Wort ist „souverän“. Die gesamte politische Geschichte ist ohne den Begriff der Souveränität nicht denkbar. Die Unabhängigkeit und Oberhoheit des Staates sind seit Machiavelli und Hobbes eine der entscheidenden Chiffren moderner (Macht-)Politik. Carl Schmitts Diktum „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ hat sich erst in der Corona-Krise wieder als zeitlose Prämisse entpuppt. Der Kampf zwischen verschiedenen politischen Institutionen, etwa zwischen Kaiser und Adligen im Mittelalter, oder König und Parlament im 19. Jahrhundert, gehört zu den typischen Erscheinungen historischer Machtentwicklung. Ihr liegt die Frage nach der Oberherrschaft, nach der kompetenzgebenden Kompetenz zugrunde. Wer ist Vasall, wer ist Lehnsherr? Wer ist Gesetzgeber, wer Gesetzempfänger?

Dazu findet sich im Koalitionsvertrag ein Satz, der hellhörig macht: „Als größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen.“ Die Frage ist natürlich, inwiefern dieser „Dienst“ im Sinne anderer Mitgliedsstaaten ist. Es läuft nach der Prämisse: Deutschland weiß, was für die EU gut ist, und die EU weiß, was für die anderen gut ist, ergo weiß Deutschland es besser. Die leise Ironie der Geschichte besteht also darin, dass die neue Koalition besonders europäisch sein will, indem sie anderen Ländern vorschreibt, was sie zu tun haben.

Einige Passagen sind deutlich gegen Budapest und Warschau gerichtet. Etwa: „Wir werden den Vorschlägen der EU-Kommission zu den Plänen des Wiederaufbaufonds zustimmen, wenn Voraussetzungen wie eine unabhängige Justiz gesichert sind.“ Oder: „Wir setzen uns dafür ein und unterstützen, dass die EU-Kommission künftig auch Verfahren gegen systemische Vertragsverletzungen vorantreibt, indem sie einzelne Verfahren bei Verstößen gegen Rechtsstaatlichkeit gegen einen Mitgliedstaat bündelt. Wir wollen, dass die Rechte aus der EU-Grundrechtecharta vor dem EuGH künftig auch dann eingeklagt werden können, wenn ein Mitgliedstaat im Anwendungsbereich seines nationalen Rechts handelt.“

Damit die Bürger der neuen, souveräneren Union vor den Einflüsterungen EU-feindlicher Propaganda gefeit sind, stellt die zukünftige Regierung einen ganzen Maßnahmenkatalog vor: „Wir befähigen die liberalen Demokratien Europas dazu, Desinformation, Fake-News, Kampagnen, Propaganda sowie Manipulationen aus dem In- und Ausland besser abwehren zu können. Wir wollen das zivilgesellschaftliche Engagement durch die Stärkung gemeinnütziger Tätigkeit über Grenzen hinweg fördern.“ Zeitgleich beschwört der Koalitionsvertrag zum ersten Mal nicht nur die deutsch-französische, sondern auch die deutsch-polnische Freundschaft. Ein im Grunde erfreuliches Novum. Aber die Einschränkung muss sofort folgen, denn so ganz koscher ist die Passage nicht. „Deutschland und Polen verbindet eine tiefe Freundschaft. Wir stärken hier die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Akteure (z. B. Deutsch-Polnisches Jugendwerk). Wir verbessern die Zusammenarbeit in Grenzräumen, z. B. durch Grenzscouts, Regionalräte und Experimentierklauseln.“



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Da sind sie wieder, die zivilgesellschaftlichen Akteure. Das heißt übersetzt: Stärkung der „liberalen Demokratien“. Offenbar rechnet man fest damit, dass die derzeitige PiS-Regierung nach der nächsten Wahl von Donald Tusk abgelöst wird. Anders kann man diese vorauseilenden Bekundungen gar nicht verstehen, stellt man sie in Relation zum offensichtlichen Angriff gegen Warschau. Mit „soft power“ wird man wohl die Ereignisse im Nachbarland zu eigenen Gunsten beeinflussen wollen. Anders kann man solche gegensätzlichen Versatzstücke nicht interpretieren.

Es gäbe an dieser Stelle noch viele andere Punkte zu nennen: die Anberaumung von Aufnahmegesprächen für Albanien und Nordmazedonien; der Ausbau „sozialer Rechte“ auf EU-europäischer Ebene; Unterstützung „Erneuerbarer Energien“ europaweit; Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion (vom Wiederaufbauprogramm NGEU ist die Rede, ein deutlicher Hinweis für das interventionistische Verständnis der Koalition); Zuckerbrot und Peitsche gegenüber dem Vereinigten Königreich.

Das alles steht unter dem Motto der „Transformation“. Es ist fraglich, warum die neue, versprochene EU plötzlich subsidiär, dezentral und „verhältnismäßig“ organisiert sein sollte, wenn sie dies in 30 Jahren nicht geschafft hat. Vielmehr träumt man offenbar von einem europäischen Imperium. Das einzige echte europäische Imperium, nämlich das Römische Reich, kannte auch so eine Transformationsphase. Transformation ist der von der jüngeren Forschung gewählte Begriff für den Übergang Roms zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Dabei veränderten sich Gesellschaft, Kultur, Staat und Alltag für die Einwohner in einem beträchtlichen Maß. Die ältere Forschung sah diesen Abschnitt weitaus pessimistischer: als Zeitalter der Völkerwanderung mit Niedergang, Verfall und Ende des Imperium Romanum. Dieses Mal ist die Transformation regenbogenbunt angemalt.

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