Um einen großen Denker der Bundesrepublik abzuwandeln: Bei manchen ist es schon eine Frechheit, wenn sie ‚Wir‘ sagen. Es wäre aber auch nicht gerecht, Frank-Walter Steinmeiers Buch „Wir“ eine Frechheit zu nennen. Denn in dem Wort – ‚frech‘, nicht ‚wir‘ – schwingt seit dem Mittelhochdeutschen auch ‚verwegen‘ und ‚lebhaft‘ mit. Zu diesem Bedeutungsfeld hält das schreibende Staatsoberhaupt stets einen soliden und in seinem Fall vermutlich übertrieben großen Sicherheitsabstand. Sein neuestes Traktat erfüllt zum einen die Erwartungen aller, die seine Reden und früheren Bücher kennen, geht aber noch ein gutes Stück darüber hinaus. Bei Steinmeiers Werk, so viel schon vorab, handelt es sich um die mit Abstand längsten 142 Seiten deutscher Zunge.
Trotzdem bietet die Lektüre einen gewissen Erkenntnisgewinn, denn sie führt direkt in den führenden Kopf eines Milieus, das die gesamte öffentliche Erscheinung des Landes bestimmt, von seinen Repräsentativbauten, dem Fernsehprogramm und seinen Universitätspräsidentinnen bis zu den Parlamentsreden und den ernsthaft so bezeichneten Festakten, die nach einer festgezurrten Staatschoreographie bald diesem, bald jenem Jahrestag gelten.
Physiker stellen sich die Frage, was das Weltall in dieser Gestalt zusammenhält, denn die bekannten Gesetze und sein sichtbarer Teil beantworten diese Frage nicht, im Gegenteil, sie legen sogar nah, dass es dort oben eigentlich ganz anders zugehen müsste. Die Lücke im Verständnis füllt die dunkle Materie; sie erklärt, ohne ins Detail zu gehen, warum das Universum tatsächlich so und nicht anders funktioniert, obwohl jeder Anschein dagegen spricht. Das Buch Steinmeier enthüllt zwar nicht das Wesen der entsprechenden Macht, die den bundesdeutschen Repräsentationskosmos mit seinen Kristallsphären so zaubermäßig an Ort und Stelle hält, obwohl ihm alle substanziellen oder zumindest sichtbaren Stützen und Aufhängungen fehlen. Aber es vermittelt erstens eine Ahnung, welche ergänzenden Kräfte dort wirken müssen, damit nicht alles zusammenstürzt. Und zweitens, dass unser Autor sie bei dem, was er tut, sagt und schreibt, diesen mirakulösen Effekt von vornherein einkalkuliert. Anderenfalls gäbe es dieses Buch nicht, in dem Steinmeier seine Vorstellung von Deutschland für ein Publikum beschreibt, das er offenbar vor sich sieht, wenn er den Begriff „politische Gemeinschaft“ verwendet.
Mit „Wir“ würdigt Steinmeier gleich zwei Daten: den 75. Jahrestag der Grundgesetzverabschiedung am 23. Mai 1949, außerdem den Mauerfall im November 1989. Für seine Rede zur Grundgesetzfeier in Berlin verwendete das Staatsoberhaupt ganze Passagen seines Buchs und mit beidem, Schrift wie Rede, gibt er einen Einblick in sein Verfassungsverständnis. Das heißt, es fragt sich, ob es sich dabei tatsächlich um sein eigenes Verständnis handelt. Aber zumindest meint er, andere sollten das Grundgesetz so verstehen. „Was“, fragte er in seiner Ansprache, „bleibt von den großen Versprechungen des Grundgesetzes?“, um festzustellen, es bliebe „ein Unbehagen, wenn die Menschenwürde garantiert ist, und sich trotzdem viele Menschen feindlich und sogar immer unversöhnlicher gegenüberstehen“, wenn außerdem „Fake News die sozialen Medien fluten“ und trotz Diskriminierungsverbot „Frauen im Netz auf übelste Weise an den Pranger gestellt“ würden, „weil sie Frauen sind“.
Im Einzelnen führte er nicht aus, welche Frauen seiner Meinung nach angeprangert werden, weil sie Frauen sind, so, wie Steinmeier auch grundsätzlich offenlässt, wer sich hinter seinem diejenigen oder diesen Kräften verbirgt, die auf der dunklen Seite der Macht stehen. Er vertraut darauf, dass sein Publikum Lückentexte dieser Art automatisch ergänzt.
In ihren Artikeln 1 bis 20 schreibt die Verfassung Grundrechte der Bürger fest, allesamt ausdrücklich Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat. Wenn also gesellschaftliche Gruppen miteinander streiten, und das auch heftig, dann tut sich dadurch keinesfalls eine Kluft zwischen dem „Versprechen des Grundgesetzes“ und der Verfassungswirklichkeit auf. Ebenso wenig wie bei der Verbreitung unzutreffender Behauptungen, etwa die Geschichte der umstrittenen Plattform ARD über einen stromerzeugenden Fernseher in Afrika. Selbst das Staatsoberhaupt verstößt in seiner Rolle als Buchschreiber mit seinem bunten Blumenstrauß faktischer Falschbehauptungen nicht gegen die Verfassung. Auch die nichtgenannten Personen nicht, die irgendwo im Netz Frauen wegen ihres Geschlechts anprangern.
Das Grundgesetz bindet den Staat, nicht seine Bürger. Es verpflichtet den Staat darauf, die Würde seiner Bürger nicht anzutasten, nicht in den freien Austausch der Meinungen einzugreifen, die Unverletzlichkeit der Wohnung zu achten und vieles mehr. Gegen Unversöhnlichkeit unter seinen Bürgern kann die Verfassung nichts ausrichten. Auch nichts gegen Falschnachrichten. Das braucht sie auch nicht; es genügt, wenn die Meinungsfreiheit es zulässt, dass sich Bürger beispielsweise mit der ARD-Wunderfernsehermär, der Correctiv-Geschichte über eine zweite Wannsee-Konferenz in Potsdam oder mit der lauterbachamtlichen Lüge von der nebenwirkungsfreien Corona-Impfung auseinandersetzen.
Von den 146 Artikeln behauptet Steinmeier, sie bildeten zusammen eine Art Besinnungsaufsatz zu der Frage, „wer wir sein können“. Die Versammlungsfreiheit – Artikel 8 – spekuliert aber nicht darüber, wie Versammlungen ablaufen könnten. Artikel 54 befasst sich nicht im Konjunktiv damit, wie jemand ins Amt des Bundespräsidenten gelangt, sondern legt die minimalen Voraussetzungen (Deutscher, mindestens 40) und das Prozedere fest. Wenn Steinmeier erklärt, die Verfassung sei „nicht Ziel, sondern Kompass“, dann liegt darin ungefähr so viel Sinn, als würde er sagen: Sie ist nicht Geschmack, sondern Zitronenpresse.
Das Grundgesetz, um es kurz zu machen, zieht rote Linien für den Staat, und bestimmt im Übrigen seinen Aufbau, und zwar so, dass sich die begrenzte Macht auf verschiedene Institutionen verteilt. Dass der Staat in der Corona-Zeit die rote Linie bei der Versammlungsfreiheit und noch vielen anderen Grundrechten ignorierte, hätte zwingend in eine Rede zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes und in jedes Buch gehört, das sich im Jahr 2024 einigermaßen redlich mit dem Thema Gesellschaft, Politik und Verfassung auseinandersetzt. Das dürfte Steinmeier wissen, so, wie er den Charakter von Grundrechten kennt. Alles andere wäre für den Inhaber des ersten und zweiten juristischen Staatsexamens auch verwunderlich. Aber eben wegen der noch nicht weit zurückliegenden Corona-Geschichte und auch aus vielen anderen Gründen möchte das schreibende Staatsoberhaupt, dass möglichst viele andere Leute die Verfassung als Benimmbuch für Bürger verstehen, wobei es dann den Repräsentanten der politisch-medialen Klasse zukommt, darüber zu urteilen, inwieweit das gemeine Gesellschaftsmitglied die hohen Erwartungen erfüllt.
Apropos Erwartungen: Darauf beziehungsweise auf das, was er dafür hält, kommt er gleich am Anfang von „Wir“ zu sprechen. „Ich weiß“, heißt es da, „ich enttäusche manche, die sich vom Bundespräsidenten mehr Regierungs-, Parteien- und Parlamentsschelte erhoffen. Doch für pauschale Politikbeschimpfung bin ich nicht zu haben.“ So lautet ein typischer Steinmeiermodellsatz, den sich jeder draußen im Lande mit Eigenmitteln nachbauen kann. Im siebten Jahr seiner Regentschaft erhofft sich wirklich niemand, der seine paar Groschen beisammen hat, von diesem Bundespräsidenten eine Reflexion über den Berliner Macht- und Meinungsbetrieb. Die Kritik, deren Ausbleiben keine Menschenseele von hier bis Brakelsiek überrascht oder gar enttäuscht, formt er im nächsten Satz zur altfränkischen Schelte um, im übernächsten schon zur Beschimpfung, er tut außerdem verlogenerweise so, als gäbe es irgendjemanden weit und breit, der von ihm fordert: Schimpfen Sie jetzt auf die Politik. Aber pauschal, ja?
Dabei würde es ihm als Autor schon einen Hauch von Redlichkeit verschaffen, sich ausschließlich mit seiner eigenen Rolle während der Coronazeit unter Wahrung einer Mindestdistanz zu befassen. Aber genau das findet bei ihm noch nicht einmal als Pflichtübung statt. Und zwar aus guten Gründen. Er weiß schon, warum gerade Frank-Walter Steinmeier nicht in sein „Wir“-Kollektiv gehört. Seine „Wir“-Vorstellung skizziert unser Polyhistor zunächst einmal nicht auf Deutschland, sondern auf die weite Welt bezogen: „Wenn es jemals so etwas gab wie eine geschlossene Herkunftsgemeinschaft, die Wesenszüge teilte und überlieferte und darauf ihre Institutionen gründete, wenn es jemals möglich war, schon vor jeder politischen Verständigung die religiöse, kulturelle, ethnische ‚Substanz‘ einer Gemeinschaft zu bestimmen, dann ist diese Epoche der Menschheitsgeschichte vorbei.“
Weiß man das schon in Saudi-Arabien, im Hamas-Politbüro und unter Postkolonialismustheoretikern, für die es keine höhere Instanz gibt als die unverhandelbare indigene Gemeinschaft, zumindest dann, wenn sie zum fingierten globalen Süden gehört?
Wie die politische Verständigung nach Steinmeier in der Menschheitsgeschichte oder zumindest der Bundesrepublik eigentlich abläuft, legt unser Autor nicht näher da. Er beschränkt sich darauf, ihr Ergebnis und gleichzeitig eine Ahnung davon zu vermitteln, wie er seinen Pluralbegriff meint: „Wir haben vor 75 Jahren das Grundgesetz beschlossen und die Freiheit zum Herzstück unserer Verfassung gemacht. Wir haben uns vor 35 Jahren von der SED-Diktatur befreit.“ Er beeilt sich hinzuzufügen, natürlich sei er damals bei der Grundgesetzverabschiedung in Herrenchiemsee und auf den Demonstrationen in der DDR nicht persönlich dabei gewesen, wie überhaupt die allermeisten nicht, aber: „Wir reisen in der Zeit“, und überhaupt sei das ‚Wir‘ „mehr als die nachzählbare Summe aller gegenwärtig in Deutschland lebenden Menschen“. Was in entsteinmeierter Sprache ungefähr bedeutet:
Generationen folgen aufeinander und jede davon erbt etwas aus der Vergangenheit. In seinem Idiom muss die Formulierung allerdings zwingend so pastös-pastoral daherkommen, denn sie dient der Herstellung des guten alten Verblendungszusammenhangs, eine Sache, die der „Wir“-Verfasser noch von seiner Studienzeit her kennen dürfte. Natürlich würden Steinmeier und die Seinen eine Verfassung heute nicht mehr so schreiben wie 1949, als die Verantwortlichen leichtsinnige Sätze aufs Papier brachten wie „eine Zensur findet nicht statt“; „jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“.
Könnte er tatsächlich in der Zeit reisen, würde der Dichter aus Bellevue den Grundgesetz-Vätern und -Müttern den Stift aus der Hand nehmen und ihnen erklären, dass es so, nämlich völlig unkonditioniert, nun wirklich nicht geht. Und von künftigen Zeiten erzählen, in denen sogar der Bürgerspaziergang seine Unschuld verliert. Vom Jedermannsrecht, einfach frei herauszumeinen, ganz zu schweigen. Immerhin arbeiten viele Kräfte gerade daran, die gröbsten Fahrlässigkeiten von Herrenchiemsee wieder auszugleichen, beispielsweise Ursula von der Leyen, die ein Democracy Shield zur Abwehr von Falschdenk für die gesamte EU errichten will. Das sieht so aus und hört sich so an wie in einem dystopischen Film, mit anderen Worten: vollkommen realistisch.
Damit kein Zweifel darüber aufkommt, wie Frank-Walter Herzstück Steinmeier darüber denkt, heißt es in Teil drei seines Breviers: „Die Wehrhaftigkeit der Demokratie findet jedoch heute ihren Anwendungsfall bereits dort, wo bei der Entwicklung, Programmierung und Anwendung digitaler Technologie unsere Grundrechte infrage stehen. Wir brauchen eine klügere und auch durchgriffsschärfere Regulierung der sozialen Medien, die durch demokratische Verfahren legitimiert ist.“
Das präsidiale Wir war also schon beim Grundgesetzkonvent zugegen, nur eben ein bisschen anders. Für den Mauerfall gilt das erst recht. Wie hier und da immer noch nachzulesen, schrieb der gar nicht mehr so junge Volljurist Steinmeier seinerzeit für die vom Verfassungsschutz als gesichert linksextremistische Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“, die in dem aus Ostberlin finanzierten Pahl-Rugenstein-Verlag erschien, von Kennern auch ‚Pahl-Rubelschein‘ genannt.
Dort betrauerte er noch 1990 die nicht mehr aufhaltbare Vereinigung mit den Worten, die DDR bekäme „nicht einmal die Chance, ihre Geschichte, ihre Besonderheit, ihre Utopien, vielleicht ihre Identität in den Einigungsprozeß einzubringen“. Damit urteilte er etwas voreilig, wie wir heute wissen. Aber ernsthaft, wer hätte damals gedacht, dass Schild und Schwert noch einmal als Anwendungsfall zurückkommen, und zwar digital, durchgriffsscharf und via Brüssel? Selbst die Mäzene von Pahl-Rugenstein resp. F.-W. Steinmeier nicht. Eine ganz andere Frage lautet: Wie fühlt sich eigentlich jemand, der noch genau weiß, wie er 1990 sein letztes Honorar aus dem SED-Geldköfferchen in Empfang nahm, und der sich heute ungescheut ins Mauerüberwinder-Gruppenbild drängelt? Um es mit Peter Hacks zu sagen: vermutlich anders, aber auch nicht schlecht.
So geht bei ihm Themenblock für Themenblock. Selbstredend verurteilt er den russischen Angriff auf die Ukraine, auch schon die Krim-Besetzung. Genauso selbstverständlich fehlt im Büchlein das innige Wir zwischen ihm und Russlands Außenminister Sergei Lawrow. Über das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 schreibt er mit Erschütterung, über sein Glückwunschtelegramm an den Hamas-Sponsor Iran zum Jahrestag der Machtergreifung Khomeinis nichts, noch nicht einmal einen Absatz simulierter Nachdenklichkeit. Natürlich kann er bei dieser einmal angelegten Dramaturgie nicht plötzlich öffentlich darüber nachsinnen, ob es im Lichte von Artikel 1 womöglich besser gewesen wäre, wenn er sich vor die Ungeimpften gestellt hätte. Wer einmal als Heuchelakrobat aufs Seil tritt, für den geht es eben, wie es heute heißt, stur pfadabhängig weiter.
Wie am Schnürchen läuft auch Steinmeiers Geschichtsexkurs. Ein Deutschland vor 1871 scheint für ihn nicht zu existieren. Das Kaiserreich deutet er samt und sonders als finstere Epoche, nur überboten vom Nationalsozialismus, worauf die sich erst nach und nach erhellende Bundesrepublik bis hin zu Besteverland folgt, dessen Gründung er etwa auf 2015 datiert. Für ihn erfüllt sich damit ein Geschichtsprogramm, an dessen vorläufigem Ende ein „Fixstern“ (F.-W. Steinmeier) steht, der aber aus Bescheidenheit nicht seinen Namen trägt, sondern ganz in einem autoritär wohlgesinnten ‚Wir‘ aufgeht.
Das war nicht immer so. Beim Kaiserreich aus Steinmeiers Spinnstube handelte es sich mindestens um eine Halbdiktatur, „die Juden als ‚volksfremd‘ ausschloss“ – womit der Autor an seine groteske Rede zum 30. Jahrestag des Mauerfalls anschließt, in der er sogar behauptete, unter den beiden Wilhelms seien Juden wegen ihres Glaubens verfolgt worden. Beispiele nennt der Alternativgeschichtsschreiber nicht; von dem jüdischen Industriellen Albert Ballin, mit dem Wilhelm II eine Freundschaft pflegte, weiß Steinmeier entweder nichts, oder er lässt einfach weg, was nicht in seine Erzählung passt. Bei ihm kommt auch kein James Simon vor, dessen Schenkungen den Grundstock der Nationalgalerie bildeten.
Bei der Gelegenheit fällt auf, dass in einer Repräsentationsöffentlichkeit, in der es noch zeitgenössische Ballins und Simons gäbe, kein Steinmeier zum Staatsoberhaupt gedeihen könnte. Über Otto von Bismarck weiß Steinmeier: „Er setzte den Ton der Verachtung gegen Parteipolitik und Parlamentarismus.“ Wer auch nur ein halbes Dutzend Parlamentsreden Bismarcks kennt, versteht das Ressentiment des ‚Wir‘-Schreibers nicht nur vollumfänglich. Er verzeiht es sogar.
Sehr viel pfleglicher als mit dem Kaiserreich geht der Autor mit der DDR um. „Anders als in der Bundesrepublik hatte von den politischen Köpfen, auf die es anfangs ankam, keiner im NS-Staat gelebt,“, dichtet Steinmeier. Willi Stoph, nacheinander Verteidigungsminister, Staatsratsvorsitzender und Ministerpräsident, diente als Unteroffizier in der Wehrmacht, wo er sich auch als Artikelverfasser betätigte („ein Erlebnis von bleibendem Wert war die Geburtstagsparade vor dem Führer“); der Chef der DDR-Plankommission Erich Apel diente vor 1945 als technischer Leiter in einem Unternehmen, das von tausenden Zwangsarbeitern die V-2 bauen ließ, DDR-Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer, Träger der „Treuemedaille des Führers“, stieg 1944 zum Reichsgerichtsrat auf.
All das ließe sich in einer von mehreren Bibliotheken im Umkreis von drei Kilometern von Schloss Bellevue nachlesen. Dem ersten SED-Generalsekretär gesteht der Bundespräsident sogar etwas Opferrolle zu: „Walter Ulbricht hatte den stalinistischen Albtraum aus Verdächtigungen und Säuberungen unter den Emigrierten im Moskauer Hotel Lux überstanden und erhielt nun den Auftrag der KPdSU, Partei und Staat im Osten Deutschlands zu errichten.“ Wenigstens, dass Ulbricht das Hotel Lux überstand, weil er dort zum Denunziationsapparat gehörte, hätte ein Suhrkamp-Lektor dem Verfasser zuflüstern können. Der Steinmeiersatz wirkt etwa so luzide, als hätte jemand geschrieben: Ernst Röhm überlebte die nationalsozialistische Machtergreifung vom 30. Januar 1933. Wobei: Warum sollte ein Lektor oder eine Lektorin ausgerechnet an dieser Stelle den gröbsten Unsinn wegschmirgeln? Einen Steinmeier bekommt man nur ganz oder gar nicht. Das gilt für seine Autorenschaft wie seine Amtsführung.
Die Märchenonkelei in „Wir“ zieht sich bis zur Gegenwart. „Das Jahr unseres Verfassungsjubiläums“, schreibt Steinmeier, „begann mit der schockierenden Erkenntnis, dass ein rechtsextremes Netzwerk Pläne hegt, Millionen Deutsche mit Einwanderungsgeschichte ihrer Bürgerrechte zu berauben und sie aus dem Land zu drängen.“ Einen entsprechenden Satz tilgte Correctiv schon am Erscheinungstag wieder aus dem Text. Weder gab es in Potsdam ein rechtsextremes Netzwerk, noch hegte es irgendwelche Pläne.
Die Frage, ob Steinmeier selbst glaubt, was er schreibt, führt ins Leere. Er glaubt jedenfalls, er verrichte einen Dienst an der politischen Gemeinschaft, wenn er den Charakter der Bürgerrechte verdreht, eine alternative deutsche Geschichte zusammenschreibt, ein Grundgesetzkonvents- und Mauereinreißer-Wir konstruiert und mehr Kommunikationskontrolle im Netz fordert, natürlich nur, um die Freiheit zu schützen. Denn diese Freiheit versteht er konsequent nicht als die des Bürgers, der sich sein ‚Wir‘ selbst aussucht, sondern als Handlungsfreiheit seines Milieus, das auf keine Kritik und keinen institutionellen Widerstand mehr zu stoßen wünscht. Aus dieser Perspektive ergibt dann auch der Titel der perhorreszierten Merkel-Autobiografie Sinn: „Freiheit“ meint die Freiheit des politischen Komplexes, alles Gewünschte weitgehend reibungsfrei durchzusetzen, ob nun die von Steinmeier ausführlich gelobte grüne Transformation, eine dringend korruptionsverdächtige Technikration als nächste und weitere EU-Oberkommissarin oder einfach nur ein Buch, das unter den Bedingungen einer halbwegs intakten Öffentlichkeit kein zurechnungsfähiger Mensch drucken würde.
Wie oben schon erwähnt besitzt „Wir“ einen gewissen dokumentarischen Wert, denn es erlaubt den Blick ins Innere von Frank-Walter Steinmeier, in dem es übrigens ästhetisch und auch sonst exakt so aussieht wie auf der abgegitterten Baustelle am Reichstag, dort, wo gerade der wassergefüllte Burggraben entsteht. Das heißt, ein wenig Auflockerung erlebt der Leser auf den 142 Seiten doch und zwar durch die Fülle von Stilblüten, die selbst auf dem sprödesten Boden wachsen. Zwar nicht so prächtig wie weiland bei dem universalgelehrten Professor Johann Georg August Galletti, dem wir funkelnde Exemplare verdanken wie: „Johann Huß erlitt zu Konstanz die Qualen der Verbrennung, und zwar im Hochsommer 1415, als es ohnedieß in Konstanz unerträglich heiß war.“ Der Bundespräsident liegt hier vergleichsweise im unteren Mittelfeld, macht durch die übergroße Fülle aber einiges wett.
„Wir blicken gemeinsam in die Zukunft, ob wir sie selbst erleben werden oder erst unsere Kinder“, vermittelt uns das Oberhaupt. Aber auch: „Viele Entwicklungen tragen dazu bei, dass die Bundesrepublik im Gegenwind steht, ohne dass wir sie mit einem Willensakt beseitigen könnten.“ Weniger verlässlichen Schreibern würde so etwas als Staatsdelegitimierung ausgelegt. „Hunderttausende Obdachlose in diesem wohlhabenden Land lassen mir keine Ruhe.“ Schlimm. „Die ‚fordistische‘ Produktion, die monotone, kleinteilige, eng getaktete Fließbandarbeit in der Industrie ist auch nie ein Paradies gewesen.“ Wie so viele andere Dinge. Formulierungsscheu kennt der Mann grundsätzlich nicht, egal, was ihm gerade ins Getriebe kommt: „Wir hören deutlich das Echo des Holocaust, wenn wir den Antisemitismus und den Rassenhass unserer Gegenwart bekämpfen.“ Und ab und an dräut schon der Aphorismenband nach Dienstschluss 2027: „Jeder will heute Nonkonformist sein, und nur wenige machen sich klar, dass der Begriff dadurch seine Bedeutung verliert.“
An diesen Stellen verweilt der Leser dankbar, bevor er wieder durch die Textwüste muss. Dort gibt es „Irrwege, die wir nicht unter den Tisch fallen lassen sollten“ (Steinmeier über die Achtundsechziger), „Wertachsen, die uns in 75 Jahren Bundesrepublik getragen haben“, einen „Prüfstein für das Gelingen des technischen Fortschritts“, gar einen „Generalschlüssel, um gesellschaftliche Barrieren zu beseitigen und Entfremdungen zu überwinden“ (beziehungsweise: der existiert tausendmalschade gerade nicht). Irgendwo taucht auch völlig unironisch – unironisch wie alles, was ihm aus der Feder fließt – das Wort „Denkanstoß“ auf, über das F. W. Bernstein schon zu Steinmeiers Referendarzeiten dichtete: „Ach hätt’ ich doch ein’ Denkanstoss, Denkanstoss, Denkanstoss, / dann ging’ sofort das Denken los.“
Vermutlich gab es noch nie einen bei Suhrkamp publizierten Autor, der sein Aufschreibgeschäft jemals so schnell, ja geradezu blitzartig erledigte. Alles, was auch nur von weitem wie ein Gedanke aussieht, übergießt der Autor umgehend mit steinmeierschem Aspik, einer Masse, die zwar nie richtig aushärtet, aber sofort luftdicht abschließt. Warum tut er das? Weil er es kann. Weil jeder in seiner Umgebung, der nicht ganz so schlecht schreibt und denkt, lieber den Mund hält. Nicht aus Existenzangst, bewahre, sondern aus Konvention. Die Zuarbeiter verfügen über die gleiche Sicherheit wie der Autor, nämlich die, dass einfach kein kultureller Apparat mit ausreichend großer Macht und Resonanz existiert, um einen Staatsgewaltigen tief in die Säure der Lächerlichkeit einzutunken.
So, wie das Bewusstsein schwindet, dass es sich bei Grundrechten um Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat handelt, schwindet auch das Bewusstsein für die Lächerlichkeit lächerlicher Amtsträger. Es schwindet die Fähigkeit, sie von der Bühne zu lachen. Es verflüchtigt sich der Sinn für das gerade noch Angemessene. Dass eine Ursula von der Leyen eine Anhörung in ihrer eigenen Korruptionsaffäre einfach bis zur Zeit nach der Europawahl verschieben kann, ohne dass die Mehrheit des EU-Kastratenparlaments auch nur zuckt, ohne dass dieses Manöver auf die Titelseiten der Zeitungen und Magazine findet, kann man wie das Steinmeier-Buch aus guten Gründen als gelungenen Test begreifen.
Wo immer sich jemand mit Figuren wie von der Leyen, Frank-Walter Steinmeier et tutti quanti befasst, also nicht mit ihrem selbstentworfenen Bild, sondern mit ihrer Funktion, erhebt sich der Einwand, sie seien ja erstens austauschbar, zweitens Personen von nachrangiger Macht, und deshalb drittens keiner längeren Betrachtung wert. Wer so argumentiert, verkennt ihre Bedeutung. Nur Amtsträger, die sich mit Reden, Büchern und anderen Inszenierungen sichtbar machen, können Sprache und Begriffe dauerhaft ändern. Sie können die Wahrnehmungsfähigkeit großflächig zerstören. Nur sie können Konventionen ändern. Bei der Erwartung, dass ein Staatsoberhaupt sich in einer Weise an die Öffentlichkeit wendet, die bei sprachempfindlichen Zeitgenossen ganz abgesehen von der Botschaft keine Pein hervorruft, handelt es sich beispielsweise um eine Konvention. Wenn ein großer Teil des medialen Milieus hier entweder gar nichts mehr erwartet, nichts merkt oder nur hinter vorgehaltener Hand lacht, dann haben sich die Zeiten qualitativ geändert. Auch von der Austauschbarkeit – durchaus richtig beobachtet – geht eine Wirkung aus.
Steinmeiers dreiste Behauptung, ein Übermaß an Meinungsfreiheit in der analogen Gesellschaft und im Netz gefährde ausgerechnet unsere Grundrechte, Leyens Netzschutzschild, Olaf Scholz’ Fähigkeit, den Cum-Ex-Elefanten einfach von der Bühne verschwinden zu lassen und vieles andere mehr nach gleichem Muster – all das wirkt wie ein Schleifmittel, das die ursprünglich instinktive Reaktion ‚hier passiert etwas Grundfalsches‘ nicht mit einem Mal, aber Körnchen für Körnchen abträgt.
Über die politisch-medial inszenierten Kundgebungen nach der auf die Bühne gewuchteten Potsdam-Wannsee-2-Geschichte schreibt Steinmeier: „Wenn wir künftig von Mehrheitsgesellschaft reden, so können wir damit nur diese Mehrheit meinen.“ Um dann in eine ganz andere Kategorie zu springen: „In unserem Land mit Migrationshintergrund, an dessen Schulen in den Großstädten bereits 70, 80 oder mehr Prozent der Kinder aus Familien stammen, die aus allen Himmelsrichtungen eingewandert sind, wird sich ‚Mehrheit‘ künftig nicht auf Ethnie, Religion und Kultur beziehen.“ Er glaubt daran, weil er sich eine ethnisch-religiöse Gemeinschaft einfach nicht vorstellen kann.
Andere schon.
Darin liegt das Grundproblem, zu dessen Illustration dieser Text über ein Präsidentenbuch überhaupt erscheint: Es stammt zwar aus der ganz und gar artifiziellen Begriffswelt eines Sondermilieus. Aber es formt die reale Gesellschaft. Und sie merkt nicht, wie ihr geschieht.