In der Vergangenheit sah sich die EU meist als ein Staatenbund sui generis auf dem Weg zu einer quasi-staatlichen Föderation, auch wenn offen blieb, was am Ende des Prozesses einer „immer engeren Union“, dem sich die EU verschrieben hat, stehen sollte. Eine demokratisch strukturierte föderative Republik oder ein zentralisiertes technokratisches Gebilde mit Jahr für Jahr wachsenden Kompetenzen, wie die bisherige EU? Seit einigen Jahren liegt aber auch eine dritte Option auf dem Tisch: ein europäisches Imperium.
Diese Variante wird vor allem in Frankreich – naturgemäß soll ein solches Imperium dann unter französischer Führung steht – favorisiert. Bezeichnenderweise publizierte der französische Finanzminister Bruno Le Maire 2019 ein Buch mit dem Titel: „Le nouvel empire: L’Europe du vingt et unième siècle“ – „Das neue Imperium, das Europa des 21. Jahrhundert“. Le Maire dürfte sich für den Begriff Imperium auch deshalb entschieden haben, weil er wie der französische Präsident den Anspruch der EU, als gleichberechtigte Weltmacht mit globalen Mitspracherechten aufzutreten – neben den USA und China –, untermauern will. Die EU soll aus französischer Sicht „souverän“ werden, das heißt eine Militärmacht, die von den USA unabhängig ist und bei Produkten von essentieller Bedeutung auch ansatzweise wirtschaftlich autark, oder jedenfalls autarker als jetzt.
War Le Maire sich auch der eher problematischen Aspekte des Begriffes Imperium bewusst, als er ihn für den Titel seines Buches wählte? Nimmt man eine der üblichen Definitionen von „Imperium“, wie man sie etwa in den Schriften des Konstanzer Historikers Jürgen Osterhammel (eines der besten Kenner der Geschichte von Imperien) findet, dann zeichnen sich Imperien im Vergleich zu (modernen) Nationalstaaten dadurch aus, dass sie eher Untertanen als Bürger haben, von einem Zentrum ausgehend „top down“ organisiert sind (politische oder gar demokratische Partizipation spielt somit allenfalls eine untergeordnete und ergänzende Rolle), und generell eher offene Grenzzonen, gewissermaßen imperiale Marken statt klar definierter territorialer Grenzen haben.
Entscheidend ist auch, dass Imperien einen Anspruch auf zumindest implizite universale Herrschaft stellen, jedenfalls in der Form, dass sie den „Werten“, die sie verkörpern, in Gestalt einer Religion, einer Kultur oder einer Ideologie, respektive einer spezifischen politischen Kultur, eine weltweite Geltung zuschreiben. Nimmt man all diese Kriterien zusammen und fügt noch den Aspekt der tiefen Heterogenität von Großreichen hinzu, dann springt die Ähnlichkeit der EU mit einem Imperium tatsächlich ins Auge, mehr vielleicht als einem Le Maire lieb sein könnte.
Der Ukraine-Krieg als Katalysator imperialer Transformation
Komplizierter ist der aktuelle Fall der Ukraine. Hier geht der Wunsch, der EU anzugehören, primär von der Ukraine selbst aus, aber wie viele Imperien, die sich eine zivilisatorische Mission und eine Rolle als Ordnungsmacht in einem vage definierten Großraum zuschreiben, kann sich die EU diesem Wunsch kaum entziehen. Denn das hieße, einer feindlichen imperialen Macht, die überdies nicht zögert, brutale Gewalt einzusetzen, die umstrittenen Gebiete zu überlassen, was am Ende die Sicherheit der EU selbst und auf jeden Fall ihre Glaubwürdigkeit als Ordnungsprojekt untergraben würde. Genau dies ist jedoch ein klassisches Phänomen in der Geschichte von Imperien: Sie sind zur ständigen Expansion verdammt, weil sich nur so die bislang integrierten oder beherrschten Gebiete gegen Rivalen absichern lassen und weil ihre Wertvorstellungen ein Zurückweichen vor Konflikten mit rivalisierenden Großmächten nicht oder nur schwer erlauben.
Aber so wie in der Vergangenheit für andere Großreiche birgt auch die Expansion der EU im Osten – so sehr sie von Kiew gewünscht wird – die Gefahr eines „imperial overstretch“, einer Überdehnung der Kräfte mit sich. Schon rein wirtschaftlich könnte die Integration der Ukraine die Kapazitäten der wenigen halbwegs leistungsfähigen Kernländer der EU überfordern. Ebenso problematisch ist aber das Risiko eines Dauerkonfliktes der EU mit einer feindlichen Macht an ihren Grenzen, für die Krieg ein normales Mittel der Politik ist, eben mit Russland, jedenfalls dann, wenn es nicht zu einem dauerhaften Frieden zwischen Russland und der Ukraine kommt.
Das Heterogenitätsproblem der EU
Auch sonst verheißt die Transformation der EU in ein Imperium eigener Art nicht unbedingt Gutes. Imperien zeichnen sich im Vergleich zu Nationalstaaten durch ihre große Heterogenität aus. Periphere Länder und Provinzen haben oft einen Sonderstatus, die Regeln, die für die Kerngebiete gelten, werden hier nicht oder nicht in vollem Umfang angewandt, zum Teil gewährt man ihnen auch fiskalische Privilegien, um einer Sezession vorzubeugen und sie zu integrieren. Die massiven Subventionen der EU für die wirtschaftlich schwächeren Länder, aber auch das dauerhafte Aussetzen der Regeln, auf denen die Währungsgemeinschaft des Euro einmal beruhen sollte, für faktisch ganz Südeuropa spiegeln eine solche Architektur auch in der EU wider.
Die zunehmende Verarmung und Refeudalisierung Süditaliens, die sich seit dem 17. Jahrhundert abzeichnete, war auch eine Folge der viel zu hohen fiskalischen Belastung dieser Gebiete und des Zwanges, den Schuldendienst für die Gesamtmonarchie in großen Teilen zu übernehmen, wie die Forschung plausibel argumentiert hat. Andere Gebiete des Reiches waren fiskalisch eher Trittbrettfahrer wie Portugal und Katalonien etwa. Als Madrid in den 1630er Jahren versuchte, dies zu ändern und die Belastungen zu homogenisieren, waren Revolten die Folge, die im Fall Portugals dann auch zur Unabhängigkeit des Landes führten und in Katalonien nur sehr mühsam eingedämmt werden konnten.
In der EU ist natürlich Deutschland die Rolle Süditaliens zugedacht als ewiger Zahlmeister und Garant von immer mehr gemeinsamen europäischen Schulden in Billionenhöhe. Die Folgen für unser Land könnten auf längere Frist durchaus vergleichbar mit der Entwicklung Süditaliens unter spanischer Herrschaft sein. Am Ende wird man in der EU freilich vor demselben Problem stehen wie in jeder Form von Schuldensozialismus: Man verbraucht das Geld anderer Leute, bis auch diese nicht mehr zahlungsfähig sind, oder dann vielleicht doch einmal revoltieren, auch wenn das im Fall Deutschlands eher unwahrscheinlich ist.
Die künftige EU wird von Wertekonflikten geprägt sein
Das ist aber nicht das einzige Problem der „imperialen“ EU, die sich jetzt am Horizont abzeichnet. Schon vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine traten in der EU massive Wertekonflikte auf. Die eher konservativ und patriotisch, wenn nicht gar nationalistisch gesinnten ostmitteleuropäischen Länder lehnen die in Brüssel vorherrschenden liberalen oder auch linksliberalen Wertvorstellungen ab, allen voran Polen und Ungarn. Auch wenn Ungarn sich zurzeit durch seinen Putin-freundlichen Kurs isoliert hat, der Ukraine-Konflikt wird das Gewicht der östlichen Länder stärken. Vor allem gilt das in der Tat für Polen, denn in dem Maße, wie Polen eine politische Führungsrolle im Kampf gegen Russland übernimmt, aber auch eine große Flüchtlingswelle zu verkraften hat, ist eine Disziplinierung des Landes durch Brüssel, die man vor Kriegsausbruch zurecht oder zu unrecht geplant hatte, schwer vorstellbar geworden.
Außerdem dürfte die russische Aggression gegen die Ukraine die konservativen Kräfte in Warschau eher stärken. Wenn jetzt noch die Ukraine mit ihren 44 Millionen Einwohnern der EU beitritt oder sich ein Beitritt zumindest für die nächsten gut 10 Jahre abzeichnet, werden sich die Gewichte weiter verschieben. Man wird im Osten einfach nicht mehr bereit sein, sich von Brüssel, oder auch von Paris und Berlin sagen zu lassen, wie richtige Politik auszusehen hat, egal ob es um Minderheitenrechte und Antidiskriminierungsmaßnehmen geht, um die Kontrolle des Internet oder gar um Immigrationspolitik.
Die EU wird zwangsläufig durch eine weitere Osterweiterung, aber auch jetzt schon durch ihre Konzentration auf die Abwehr Russlands, die vor allem im Osten eine wirkliche Herzensangelegenheit ist, was man von Deutschland und Frankreich so wohl nicht sagen kann, multizentrischer werden. Auch wenn der gemeinsame Kampf die EU für den Moment zusammenschweißt und auch zu einer weiteren Zentralisierung führen kann, wie sie jetzt erneut das europäische Parlament verlangt, werden damit die Spannungen notwendigerweise größer werden.
Aber darüber wird man in Brüssel, das heißt in Kommission und Parlament, kaum nachdenken, denn man war in den letzten 20 Jahren noch nie in der Lage, aus Krisen die richtigen Lehren zu ziehen, egal ob es sich um die Eurokrise oder um den Brexit oder die Flüchtlingskrise handelte. Am Ende hielt man immer an dem Glauben fest, dass „mehr Europa“ die Lösung für alles sei. So wird es auch diesmal sein.
Ja, die EU wird vermutlich wirklich immer mehr die Struktur eines Imperiums annehmen, wie Bruno Le Maire und andere sich dies so sehnlich wünschen, aber es wird ein Imperium sein, in dem Aufstieg und Verfall praktisch zeitgleich erfolgen. Für den Historiker ein durchaus interessantes, ja faszinierendes Phänomen, für die betroffenen Untertanen vermutlich eher weniger, aber darauf kommt es am Ende vielleicht nicht an.
Wenn das Brot zu teuer wird – auch das zumindest in Teilen Folge einer imperialen Politik, die den Sinn für das rechte Maß verloren hat, nämlich der absurden Währungsunion und ihres Projektes der grenzenlosen Finanzierung von Staaten über die Druckerpresse –, kann man immer noch Kuchen essen. Das wird reichen müssen, dafür kann man sich ja dann im Glanze imperialer Größe sonnen, das gibt auch dann noch Wärme, wenn man die Heizung hat abstellen müssen, weil die Energiekosten durch die Decke gegangen sind.