Reinhard Mey schreibt 1986 das Lied „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“. Er kündigt darin an, notfalls mit seiner Familie zu fliehen, bevor sie in das System aus Wehr- und Ersatzpflicht einbezogen wird. Also kündigt er eine Straftat an – sogar eine schwere. Doch aufgeregt hat sich niemand. 1986. Vor kurzem hat Reinhard Mey einen Aufruf unterschrieben, der sich für Friedensverhandlungen in der Ukraine einsetzt. Prominenter sind die Unterschriften darunter von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Über allen Unterzeichnern zusammen bricht nun ein Sturm der Empörung aus – auf Neudeutsch „Shitstorm“ genannt.
Wer zur Mäßigung aufruft – und sei es nur, um die Verbrechen der Nazis nicht zu relativieren –, wird belehrt: Angesichts der Weltlage sei Pazifismus gleichbedeutend mit der Unterstützung des russischen Angriffskrieges und das wiederum sei ein so schwerwiegendes Vergehen, dass jede soziale Ausgrenzung und Diffamierung gerechtfertigt sei.
Nun hat es auch 1986 eine weltpolitische Lage gegeben. Wie sah die aus? Chinas Regierung unterdrückte Menschen, so wie es das heute noch immer tut. Aber damals interessierte das weltweit niemanden, weil China ein wirtschaftliches Sorgenkind statt einer Weltmacht war. Die USA beteiligten sich unter anderem an einem Bürgerkrieg in Nicaragua, wobei sie nicht nur das Völkerrecht, sondern auch die eigene Verfassung brachen. Russland stand damals mit seiner Armee in Afghanistan und unterdrückte dort die Bevölkerung, zusammen mit der Ukraine, Armenien, Aserbaidschan und all den anderen Sowjetrepubliken – zusammen nannte sich das daher auch nicht Russland, sondern Sowjetunion.
Hat sich angesichts dieser Weltlage jemand über Reinhard Mey aufgeregt? Statt Deutschland vor der russisch-ukrainisch-armenisch-und-so-weiterischen Armee zu schützen, wollte er lieber mit seinen Söhnen nachts heimlich fliehen, als sein Land zu verteidigen. Damit rechtfertigt er ja deren Vorgehen in Afghanistan. Hat sich darüber jemand aufgeregt? Nein, ein paar hunderttausend Menschen fanden den Song gut. Der Rest hat sich gedacht: Na ja, Musiker halt. Es gab dafür einen Begriff, der heute in Vergessenheit geraten ist. Verbal wie faktisch: Gelassenheit. Von Toleranz gar nicht zu reden.
Die Realität brach in die deutsche Traumwelt ein: Während der Pandemie bewiesen sich die Deutschen selbst, dass sie Grenzen doch schützen können. Sogar die zwischen zwei Ortschaften. Dieser Tage sagen ihnen ihre Bürgermeister und Landräte, dass wir vielleicht Platz haben, aber nicht genug Infrastruktur, um beliebig viele Menschen aufnehmen zu können. Nur gibt es einen weiteren Zusammenhang: Wer gesellschaftlich ausgegrenzt wird und wurde, dem hilft es nichts, wenn er später recht behalten hat. Ausgegrenzt worden zu sein, rechtfertigt das Ausgrenzen nachträglich. Einmal Paria, immer Paria.
Wobei das Pariatum in Deutschland mittlerweile viele Namen trägt: Nazi und Rechtsextreme sind die ältesten, Lumpenpazifist oder Nationalpazifist die jüngsten. Dazwischen gab es den Sexist, den Klimaleugner, den Covidioten und den Coronaleugner. Der Leugner ist ohnehin das beliebteste Suffix bei der Vergabe von Parianamen. Er erinnert an den Auschwitz-Leugner. Was den Ausgrenzern zwei Vorteile bietet: Zum einen rückt es den Gegner in die Nazi-Ecke. Zum anderen erinnert es daran, dass es schon mal möglich war, Äußerungen unter Strafe zu stellen.
Zwei Richtigstellungen, um jetzt nicht als Ausgrenzungsleugner angegriffen zu werden: Der systematische Menschenmord unter den Nationalsozialisten war ein schweres Verbrechen. Wenn Superlative angesichts der Schwere dieser Verbrechen eigentlich nicht obszön wären, ließe sich ohne Übertreibung auch vom schwersten Verbrechen der Menschheitsgeschichte sprechen. Darum war es richtig, dessen Leugnung unter Strafe zu stellen. Darum bleibt es richtig, nicht jede missliebige Person mit dem Vorwurf zu titulieren, auf der gleichen Stufe wie Mörder zu stehen, die Kinder, Frauen und Männer morgens aus ihrer Wohnung zerrten, in Viehwaggons über Land verschleppten und in Tötungslagern systematisch umbrachten. Wer einen Aufruf unterschreibt, der zu Frieden in der Ukraine aufruft, steht nicht auf einer Stufe mit diesen Verbrechern.
Nicht zum ersten Mal. Um derart ausgrenzt zu werden, muss man zum Beispiel gar nicht mal sagen, dass es keines Klimaschutzes bedarf. Es reicht schon einzuwenden, dass für diesen Klimaschutz das E-Auto kein sinnvoller Beitrag ist, wenn das Auto dann mit Strom betrieben wird, den wir aus Braunkohle gewinnen. Es reicht, darauf hinzuweisen, dass eine Corona-Impfung nicht vor einer Corona-Infektion schützt. Zumindest, wenn die Aussage zur falschen Zeit erfolgt. Nämlich, bevor sich herumgesprochen hat, dass eine Corona-Impfung tatsächlich nicht vor einer Corona-Infektion schützt. Denn es geht den Ausgrenzern nicht darum, ihre Meinung zu überprüfen oder zu bestätigen – sie wollen sie durchsetzen. Deswegen grenzen sie den aus, der sich traut, ihnen zu widersprechen – damit das irgendwann gar nicht mehr passiert.
Es hilft einem auch nicht, bei allem bisher mitgemacht zu haben, wie der Sänger Marius Müller-Westernhagen, der 2015 so treu auf Linie war wie beim Kampf gegen den Klimawandel oder die Pandemie. Der den Menschen das Singen seines Liedes „Freiheit“ untersagen wollte, die in Demonstrationen darauf hinwiesen, dass ihnen Grundrechte genommen werden, obwohl das nicht einmal faktisch zum Kampf gegen die Pandemie beiträgt. Und der bei diesen Menschen auch nie um Entschuldigung gebeten hat. Obwohl das Land den von ihm Beschimpften verdankt, dass unsinnige Maßnahmen abgeschafft und vielleicht noch unsinnigere Maßnahmen verhindert worden sind.
Manche werden jetzt einwenden: Ist das nicht auch ein Nazi-Vergleich? Werden hier nicht Menschen derart vorgeführt, dass ein Zusammenleben mit ihnen in einer Gesellschaft nicht mehr möglich ist und sie eigentlich ausgegrenzt werden müssten? Dem ist entgegenzuhalten: Ja, das stimmt. Leider. Der Autor dieser Zeilen ist Deutscher, er kann offensichtlich selbst nicht mehr anders.
Reinhard Mey ist kein Nazi. Er ist nicht einmal Nationalist und Lump ist er schon mal gerade gar nicht. Das gilt auch für Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht oder Marius Müller-Westernhagen. Sie haben eine andere Meinung. Die kann man falsch finden, das darf man ihnen auch sagen. Aber es muss endlich aufhören, dass Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, weil sie etwas Unliebsames gesagt haben. So kann ein Land nicht funktionieren.
Und wer es noch nicht gemerkt hat. Das ist nicht irgendeine Zukunftsphantasie. Oder eine abstrakte Warnung. Dieses Land funktioniert schon jetzt nicht mehr. Züge kommen nicht pünktlich oder gar nicht mehr. Schülern fehlt der Lehrer. Brücken verfallen und wir wissen nicht, wie wir sie alle rechtzeitig repariert bekommen. Unsere Armee ist ein Witz. Unser Internet ist schlechter ausgebaut als in afrikanischen Schwellenländern. Und selbst beim Klimaschutz – für den wir seit Jahren einen heiligen Krieg inklusive gesellschaftlicher Ausgrenzung führen – gelingt es uns nicht, Windräder zu bauen oder Stromtrassen anzupassen. Es hängt miteinander zusammen. Ein Land, in dem jeder aufpassen muss, was er wann wem sagt. Und ein Land, in dem immer weniger funktioniert.