Tichys Einblick
Leben in der Welt von gestern

Die deutsche Sozialdemokratie verweigert sich der Gegenwart

Vorweggenommene Niederlagen pflastern ihren Weg. Die vorzeitigen Rückzüge im Rennen um den SPD-Parteivorsitz lassen nichts Gutes erahnen. Zumal das Duo zweier Oberbürgermeister sollte es sich vielleicht noch einmal überlegen.

imago images / Emmanuele Contini

Die deutsche Sozialdemokratie weiß noch immer nicht so recht, wie ihr geschieht – beginnt aber schon mal an ihrem Erscheinungsbild zu werkeln. Nach gut 150-jähriger Geschichte hat sich der Nachfolger des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu einem Facelifting entschlossen und will dem Wähler künftig in ähnlichem Gewand wie die anderen Grün- und Linksparteien, als anmutiges Androgyn gegenübertreten. Nur der bayerische Bundestagsabgeordnete Karl-Heinz Brunner fand keine Ergänzung durch das Ewig-Weibliche in Landtagen und Kommunalverwaltungen und trat so als einziger rein-männlicher Kandidat an. Er hatte aber wohl mit einiger »Sicherheit« – dies sein zentrales Thema – nie eine Chance auf eine Wahl durch die Parteifunktionäre und nahm sich nun selbst aus dem Rennen.

Schon Anfang September hatte sich ein im Grunde interessantes Duo zurückgezogen: die Flensburger OB und Beinahe-SPD-Vorsitzende Simone Lange und ihr Bautzener Kollege Alexander Ahrens, der wohl etwas zu viel eigenen Senf zu ihrer Doppelkandidatur dazugegeben hatte. Der gebürtige West-Berliner Ahrens war für offene Gespräche mit der AfD eingetreten und unterstützte im Berliner »Tagesspiegel« die Wahl eines Bundestagsvizepräsidenten der Partei. Einen Tag später einigte man sich auf das Niederlegen der gemeinsamen Kandidatur. Ob dieses Schicksal nicht langfristig – also vor oder nach dem Gewinn des Vorsitzes – allen Kandidaten der siechen Ex-Volkspartei droht?

Unterdessen verspricht die neue Vorsitzendenanlage einige Vorteile im Betrieb, indem sich nun Arbeitsteilungen ergeben dürften, die auch einem amtierenden Finanzminister – nicht zu reden von einem Bundeskanzler in spe, als den sich der ›Scholzomat‹ bekanntlich ansieht – zumindest die Anteilnahme am SPD-Parteivorsitz erlauben würden. Die Paarigkeit hat so viele Vorteile: Qualitäten und Nachteile des Weiblichen und Männlichen werden ausgeglichen, so dass keines von beiden zu schwach oder zu stark sei. So verwirklicht sich das Maß in allen Dingen, die Vereinigung der Gegensätze (coincidentia oppositorum), die bekanntlich der philosophischen Gottesdefinition des Moselländers Nikolaus von Kues entstammt. Der Himmel auf Erden, klassische Kategorie sozialdemokratischen Denkens, rückt damit ein Stück näher. Was die umfassend-sphärische Angela Merkel in einer Person vereinte – männliche Durchsetzungskraft und weibliches Ausharren –, könnte so als ein Kopf aus zwei Halbkugeln auf den ausgezehrten Körper der SPD gesetzt werden.

Anders als in den beiden anderen Parteien des linken Spektrums, deren diverse Doppelspitzen sich jeweils dem Proporz der Parteiflügel verdanken, scheinen sich die SPD-Paare eher als Allianzen aus einem Guss zu verstehen. Man fühlt sich an den Landarzt der achtziger Jahre erinnert, dessen Gattin gerne einmal die rührige Sprechstundenhilfe gab. Dass das Verhältnis von Olaf Scholz zur Brandenburger Landtagsabgeordnete Klara Geywitz von dieser Art wäre, kann hier nicht gesagt werden. Dafür ist zu wenig über die beiden bekannt. Nun ja, Scholz ist zwar der mit Abstand populärste unter den Kandidaten, doch was er genau mit dem SPD-Vorsitz will, bleibt vorerst unklar, außer dass er einen oder auch zwei Pläne hat.

Die weitgehend standardisierte DIN-Linke Hilde Mattheis stellt sich – zusammen mit dem Verdi-Ökonomen Dierk Hirschel – wohl nur zur Wahl, um die Stärke ihres Parteiflügels zu markieren. Ein eindeutiger Fall von Damenwahl. Bei einem Sieg der beiden droht eine Linkspartei de luxe, der Rollback (wohl eher ein »Zurück in die Zukunft«) zur echten, ökologisch bewegten Arbeiterpartei, inklusive »mehr Keynes und weniger Erhard«. Denn bekanntlich liegen die 100-Euro-Scheine auf der Straße herum.

Links, aber pragmatisch wollen dagegen Ex-NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans und die Digitalexpertin Saskia Esken sein. Eher kuhäugig-großkoalitionär schauen uns hingegen der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius und seine Tandempartnerin an – eine sächsische Integrationsministerin, die die Ostdeutschen (auch in Buchform) als Objekt ihrer Bemühungen entdeckte. Sie wollen die Fortsetzung des schwarz-roten Bündnisses ernsthaft prüfen. Michael Roth, seit Dezember 2013 Staatsminister für Europa beim Auswärtigen Amt, und die Westfälin Christina Kampmann sehen sich als »Weltverbesserer« und planen, die SPD zur »Partei der Geschlechtergerechtigkeit« (m/w/d) zu machen. Die beiden gerieren sich als Repräsentanten eines neuen pseudo-urbanen Lebensgefühls (das inzwischen schon sehr reichlich in die deutsche Provinz ausstrahlt), wollen dem »Sexismus« in allen seinen Formen den Garaus machen und dabei angeblich auch noch für Klimaschutz und irgendwie gegen Kinderarmut kämpfen. Das sind also die Grünen der SPD.

Dass auch Fliegenträger Karl Lauterbach, der früher mal in der CDU war, ein Linker unter den Genossen ist, war bisher dank seiner medizinischen Expertise und anderen stimmungsaufhellenden Inhaltsstoffen kaum aufgefallen. Immerhin versteht er sich auf rheinländischer Grundlage mit vielen gut, darunter etwa der populäre Euro-Rebell Wolfgang Bosbach (CDU). Ihr linkes Herz hat offenbar auch die geschäftstüchtige Ex-Rektorin der Europa-Universität Viadrina Gesine Schwan entdeckt, die man jüngst erst tapfer ohne jeden Personenschutz die Berliner Dorotheenstraße entlangtrippeln sah. Über ihren Adlatus, den erzlinken Ralf Stegner, ist hier bereits alles gesagt.

Am Scheitern des Duos Ahrens/Lange zeigt sich dabei vielleicht das Grundproblem im schleichenden Erkenntnisprozess der SPD. Denn was die traditionelle Mitte-links-Partei nicht verstanden hat, ist die wirkliche Mittellage, in die sie in diesen Tagen geraten ist. Sie war einst gegründet worden, um einer relativ deutlich umrissenen Klasse einfacher Arbeiter zu ihrem Recht zu verhelfen. Ihr Engagement für die im groben Sinne arbeitende Klasse konnte sie auch noch beibehalten, als diese selbst zur staatstragenden Schicht geworden war und sich dabei immer mehr in ein Facharbeitertum verwandelte, wie vor allem in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren erfolgreich geschehen.

Nun ist diese Klasse, wie sich alle Beobachter seit den neunziger Jahren einig sind, im Schwinden begriffen. Das gilt für diejenigen Arbeiterkinder, die sich selbst als Facharbeiter oder Besseres nicht mehr der engeren Arbeiterklasse zurechnen, ebenso wie für den anderen Teil, der sich aufgrund einer nachlassenden ›politischen Bildung‹ – vielleicht auch einfach aufgrund konservativer Residuen im eigenen Denken und Fühlen – kaum mehr als ›progressive Arbeiterschaft‹ empfindet und daher ein parteipolitisch haltloses Klein- und Kleinstbürgertum bildet.

Dass die SPD diesen beiden gar nicht mehr so neuen Schichten ein (möglichst einheitliches) Angebot machen müsste, hat die Partei nicht begriffen. Sie müsste die Facharbeiter in ihrem Aufstieg bestärken und unterstützen – das heißt nicht mit Geld, sondern mit der Vereinfachung ihres Lebens – und zugleich ein absteigendes, sich benachteiligt fühlendes Kleinbürgertum in seiner faktischen Geistesverfassung abholen – und die ist vielleicht weniger links-grün, etatistisch und immigrationsfreundlich (all dies aus gutem Grund), als sich das Genossenherz wünscht. Das wäre zugegebenermaßen ein Spagat, doch einer, durch den sich die alte Tante SPD vielleicht noch einmal einen Platz in der bundesrepublikanischen Gesellschaft von heute sichern könnte. Aktuelle Vorbilder im nahen Ausland gibt es durchaus. Doch der klassische Sozialdemokrat, so ist wenig überraschend festzuhalten, lebt eben in einer Welt von gestern.


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