Tichys Einblick
Leseraufruf

Die „Cancel Culture“ ist ein Rückfall in mittelalterliche Sitten

Den Agitatoren der Cancel Culture geht es um das Ausstoßen missliebiger Meinungen und Menschen aus der Gemeinschaft. Das ist ein Verstoß gegen die Prinzipien der freiheitlichen, diskursiven Demokratie.

© Zenza Flarini/shutterstock

„Cancel Culture“ kommt mehr und mehr in Mode. Wörtlich übersetzt heißt das: Kultur des Löschens, Annullierens, Tilgens, Ungültigmachens, Ausradierens, Ausstreichens. „Kultur“? „Un-Kultur“ wäre die passendere Bezeichnung. „Cancel Culture“ wurde jedenfalls zum Erziehungsmittel von Politik und Medien. Ein herbeigezauberter oder auch nur vager Verdacht eines Verstoßes gegen die Ge- und Verbote politischer Korrektheit genügt, und schon ist ein Buch, eine Organisation, ein Autor, ein Wissenschaftler, ein Publizist, ein Mensch also, „draußen“, weg vom Fenster. Er bzw. es findet nicht mehr statt. Im Orwell‘schen Big-Brother-Sinn wird der oder das Betreffende „vaporisiert (verdampft). Unter Umkehrung der Beweislast wird den Betroffenen, denen es in der Folge nicht selten an die berufliche Existenz geht, vorgehalten, sie hätten sich beleidigend oder diskriminierend über irgendwelche qua „diversity“ heiliggesprochenen und in ihrer Zahl inflationär anwachsenden „Opfergruppen“ geäußert.

Ende der Freiheit
Der Duft des Totalitären: Denunzianten werden gefeiert
Was hier stattfindet, auch wenn es nicht um Leib und Leben der Betroffenen geht, ist durchaus vergleichbar mit den Hexen- und Ketzerverfolgungen der Jahre 1000 bis 1750 und den Bücherverbrennungen. Es ist – was literarische und wissenschaftliche Produkte betrifft – vergleichbar mit dem im Jahr 1559 vom Vatikan begonnenen „Index Librorum Prohibitorum“ – dem Index verbotener Bücher, der bei seiner Aufhebung nach dem II. Vatikanischen Konzil 1965/66 rund 6.000 Titel umfasste. Es waren Bücher und Schriften, deren Lektüre als schwere Sünde galt und gegebenenfalls zur Exkommunikation führen konnte.

Exkommunikation – darum geht es. Wörtlich: um Herausnahme aus der Communis, aus der Gemeinschaft. Wir möchten hier auf TE Beispiele sammeln. Aktuelle Beispiele, Beispiele aus der Vergangenheit, Beispiele aus einer Zeit, als es den Begriff „cancel culture“ noch nicht gab. Es muss daraus ein „Index“ von Verstößen gegen die Prinzipien einer freiheitlichen, diskursiven Demokratie entstehen. Liebe Leser, machen Sie mit! Ich beginne mal ganz unsystematisch mit einem guten Dutzend „Aufschlägen“:

1. Im Jahr 2000 fand der renommierte Demographieforscher Volkmar Weiss in Deutschland keinen Verleger für sein Buch „Die IQ-Falle“. Eine der wissenschaftlich belegten Kernaussagen dieses Buches war: Weil intelligente Frauen kaum noch Kinder auf die Welt bringen, sinkt der IQ. Das Buch von Weiss musste in Österreich beim Leopold Stocker Verlag gedruckt werden.

Cancel Culture in den USA - Teil 2 / 2
»Ich zweifle an unserer Zukunft als eine Nation«
2. 2010 erschien der erste und mit rund eineinhalb Millionen verkaufte Bestseller von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“. Für Nachfolgebücher musste sich Sarrazin andere Verlage suchen, weil bisherige Verlage nicht mehr bereit waren, „Sarrazin“ zu verlegen. Teilweise ließen die Verlagsleitungen die Belegschaft abstimmen, ob man „Sarrazin“ noch verlegen könne. Die Entscheidungen fielen oft mit zwei Dritteln gegen Sarrazin aus.

3. Der weltweit anerkannte israelische Militärhistoriker Martin van Creveld sollte 2011 Gastdozent an der Universität Trier bzw. deren Historisch-Kulturwissenschaftlichem Forschungszentrum (HKFZ) sein. Weil es dem AStA nicht passte, musste van Creveld bereits nach einem ersten Vortrag das Feld räumen.

4. 2012 wollte der Migrationsexperte PD Dr. Stefan Luft an der Universität Bremen eine Ringvorlesung zu „20 Jahre Asylkompromiss“ durchführen – unter anderem mit dem damaligen bayerischen Innenminister Günther Beckstein (CSU). Zur entsprechenden Abendveranstaltung am 5. Dezember platzierte sich eine Gruppe gewaltbereiter Linksextremisten. Die Veranstaltung musste – bevor sie überhaupt begonnen hatte – beendet werden.

5. Im April 2013 wollte der damalige Verteidigungsminister de Maizière an der Humboldtuniversität Berlin einen Vortrag halten. Randalierende Studenten verhinderten dies. Es waren Rufe wie „Nie wieder Krieg“, „Nie wieder Deutschland“ und „Deutschland ist Scheiße“ zu hören. Mehrere blutrotbefleckte Studenten warfen sich vor ihm auf den Boden. Der Minister zog unverrichteter Dinge von dannen. De Maizière wurde als „Kriegsverbrecher“ bezeichnet.

Panoramagate
Stell dir vor, Diffamierung ist angesagt - und keiner macht mehr mit
6. 2017 erschien postum aus der Feder des Universalgelehrten Rolf Peter Sieferle der Titel „Finis Germania“. Der Titel erklomm rasch die Bestsellerliste des Spiegels bis auf Platz 6. Weil das verantwortlichen Leuten des Relotius-Blattes nicht gefiel, verschwand der Titel aus der Bestsellerliste.

7. Im Frühjahr 2019 vermochten es linke Aktivistengruppen an der Humboldt-Universität in Berlin, einen Forschungsantrag des renommierten Stalin-Experten Professor Jörg Baberowski abzublocken.

8. Im Herbst 2019 hinderten „Aktivisten“ an der Universität Hamburg Professor Bernd Lucke (vormals AfD) daran, seine Vorlesungen zu halten. Wissenschaftsministerin und Universitätsleitung tauchten ab.

9. 2019 sollte der renommierte Politikwissenschaftler Werner Patzelt von der TU Dresden eine Seniorprofessur genehmigt bekommen. Weil Patzelt als „Pegida- und AfD-Versteher“ verschrien war, kam es nicht dazu. Am 28. März 2017 war Patzelts Auto in Dresden abgefackelt worden.

10. Der Siegener Philosophieprofessor Dieter Schönecker hatte im Herbst 2018 neben Norbert Bolz und Egon Flaig auch Thilo Sarrazin und den AfD-Bundestagsabgeordneten Marc Jongen zu einem Seminar eingeladen. Schöneckers Kollegen fluteten ihn mit Protestschreiben, die Universität bewilligte keine Mittel, es gab einen Flashmob von rund 75 Studenten – das Ganze flankiert von entsprechender Pressebegleitung etwa mit folgenden Aussagen: Dort würden „extrem rechte Standpunkte des umstrittenen Buchautors Thilo Sarrazin“ verbreitet. Jongen konnte nur in Begleitung von Beamten des Bundeskriminalamtes durch den Hintereingang eintreten.

Was der „Fall Nuhr“ zeigt
Wie immer: Bürgerliche knicken vor linkem Shitstorm ein
11. Ralf Schuler, Leiter des Berliner BILD-Büros, sollte an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung Anfang Dezember 2019 im Fachbereich Nachrichtendienste einen Vortrag zu einem einschlägigen Thema halten: „Aus dem Maschinenraum der Macht: Wie Politik in der Praxis funktioniert“. Die Veranstaltung wurde von der Hochschulleitung kurzfristig untersagt. Offizielle Begründung: Das Thema habe weder etwas mit dem Lehrplan noch mit der Lehrbefugnis des einladenden Professors zu tun. Und der reale Grund für die Absage? Schuler war in Ungnade gefallen, weil er sich in seinem Buch „Lasst uns Populisten sein‘“ kritisch mit Merkel und Co. sowie mit der Gesinnungseinfalt befasst hatte. Das Buch ist unbedingt lesenswert. 

12. In ihrer Neujahrsansprache vom 22. Januar 2020 nannte die Düsseldorfer Universitätspräsidentin Anja Steinbeck zum Thema „Nicht mitspielen ist keine Lösung – Politik gehört auf den Campus“ drei Grenzen, die gezogen werden müssten, wenn es um die Offenheit der Hochschulen für Politik geht. Der 3. Punkt lautet wie folgt: „Was ist zu tun, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass der Redner oder die Rednerin im Rahmen der Veranstaltung verfassungsfeindliche Thesen vertreten wird? Diese Gefahr war wohl nicht von der Hand zu weisen, als der Publizist und ehemalige Politiker Thilo Sarrazin an die Universität Siegen eingeladen wurde …. Oder als der Präsident der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt an der Universität Frankfurt angekündigte wurde …..“ Diese Rede wurde im Verbandsorgan „Forschung und Lehre“ des Deutschen Hochschulverbandes (DHV) veröffentlicht. Seltsam! Der DHV hatte sich im Frühjahr 2019 vehement gegen „Denk- und Sprechverbote“ an Universitäten ausgesprochen und gefordert: „Die freie Debattenkultur muss verteidigt werden.“

13. Der Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera (Universität Kassel)  musste mit seinem Buch „Klimawandel im Notstandsland – Biologische Realitäten widerlegen politische Utopien“ 2020 zu einer Druckerei nach Luxemburg auswandern, weil er als „umstritten“ gilt und in Deutschland keinen Verlag fand. Sie können es hier erwerben – wie ein verbotenes Untergrundwerk. 

14. Der nach allen politischen Richtungen politisch inkorrekt austeilende Kabarettist Dieter Nuhr bekam sein Testimonial zum 100. Geburtstag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gelöscht. Warum? Weil man ihn als Zeugen für die Bedeutung von Wissenschaft nicht dulden wollte. Schließlich hatte er ja zuvor gegen so manche Klimaforscher, gegen Greta und gegen den Unfug der Genderforschung polemisiert.

15. Fügen wir noch allgemein an: Legion sind die einseitigen und manipulativen Besetzungen von Talkshows. Auch hier „cancel culture“, wohin man schaut: Hochkaräter wie die oben genannten Baberowskis oder Patzelts findet man dort nicht bzw. nicht mehr, einen Medienwissenschaftler Norbert Bolz, der sich regelmäßig kritisch über den Verfall der Medienlandschaft in Deutschland äußert, auch nicht. Professor Falter schon lange nicht mehr; er hatte sich nach 50 Gastauftritten sehr kritisch über Talkshows geäußert. Roland Tichy kommt dort nicht mehr vor, Hans-Georg Maaßen auch nicht.

Also, liebe Leser: Liefern Sie TE Ihre Beispiele. Wir freuen uns darauf.

Anzeige
Die mobile Version verlassen