Der Niedergang Deutschlands ist unübersehbar: Ein auch strukturell bedingtes Nachlassen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit verbindet sich mit erstarrten politischen und administrativen Strukturen, die zunehmend dysfunktional wirken, und einem immer fragiler werdenden Parteiensystem. Dazu tritt jetzt eine Herausforderung durch internationale Krisen und Kriege, denen unser Land weniger denn je gewachsen ist. Das gilt für den Krieg Russlands gegen die Ukraine und seine Rückwirkungen auf Europa ebenso wie für den jüngst wieder ausgebrochenen Konflikt im Nahen Osten. Wenn in dieser Situation unser Verteidigungsminister davon spricht, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. In gewisser Weise hat Pistorius ja recht, aber kann man sich wirklich ein Deutschland vorstellen, das „kriegstüchtig“ ist? Das ist schlechterdings unmöglich.
Sicher, anders als Russlands imperiale Ambitionen mögen der Überfall der Hamas auf Israel Anfang Oktober und die militärische Antwort Israels auf diesen Überfall für Europa und Deutschland kein unmittelbares Sicherheitsrisiko darstellen – auch wenn unter Umständen mit einer Zunahme islamistischer Terroranschläge zu rechnen ist –, aber sie stellen das Selbstverständnis Europas und ganz besonders Deutschlands auf die Probe. Das freie Europa hat sich nach 1945 als Gegenmodell zu den totalitären Diktaturen der 1930er- und 1940er-Jahre definiert; das galt für ganz Westeuropa, aber in ganz besonderer Weise für Westdeutschland. Die Bundesrepublik wurde gegründet auf den Ruinen jener mörderischen Tyrannis, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, ganz Europa zu unterjochen und 11 Millionen Juden zu ermorden, und der Verwirklichung dieser Ziele bemerkenswert nahegekommen war. Das macht verständlich, warum für den neuen deutschen Staat ein „Nie Wieder“ im Sinne einer Absage an einen genozidalen Rassismus und an jede Form von Antisemitismus von zentraler Bedeutung war.
Im politischen Alltag drohen aus solchen Bekenntnissen allerdings bloße Floskeln zu werden, und ein moralistisches Pathos ersetzt dann oft politisches Handeln. Wenn Angela Merkel zu Beginn ihrer Kanzlerschaft zum Beispiel erklärte, für die Sicherheit Israels einzutreten, gehöre zur deutschen Staatsräson, war das nie mehr als bloßes Gerede. Zum einen fehlen Deutschland weitgehend die politischen, erst recht aber die militärischen Mittel, um Israels Sicherheit zu gewährleisten; zum anderen aber setzt das Denken in Kategorien der Staatsräson voraus, dass man bereit ist, für die Verteidigung der Existenz, zunächst vor allem des eigenen Gemeinwesens wirkliche Opfer zu bringen, und dass man auch bereit ist, bestimmte Rechtsgüter in einer Ausnahmesituation der Bewahrung staatlicher Handlungsfähigkeit unterzuordnen – genau das meint nämlich der Begriff Staatsräson. Als Bundeskanzler Schmidt sich 1977 weigerte, auf die Forderungen der RAF einzugehen, das Leben Hanns-Martin Schleyers opferte und den Befehl zur Befreiung der Passagiere der Landshut gab, handelte er ohne Zweifel im Sinne der Staatsräson der Bundesrepublik, begab sich moralisch freilich auf unsicheres Gelände. Nur welcher deutsche Politiker würde heute noch so denken und handeln können wie Schmidt? Dazu ist der Einfluss einer realitätsblinden Hypermoral viel zu stark.
Deutschland besitzt als Land keinen Selbstbehauptungswillen und ist auch deshalb jetzt so hilflos
Faktisch ist Deutschland zu einem Land geworden, dem sein eigenes Überleben relativ gleichgültig geworden ist, oder dessen Politiker dieses Überleben doch zumindest nicht mehr als übergeordnetes Ziel betrachten. Nur, ein solches Land ist eben auch als Bundesgenosse und Partner nicht viel wert, weder für Israel noch für sonst jemanden. So berechtigt die Auseinandersetzung mit den düstersten 12 Jahren der deutschen Geschichte auch ist, so muss sie doch mit interessengeleiteter Politik vereinbar bleiben, und das ist nur der Fall, wenn sie sich mit einem gewissen Selbstbehauptungswillen als Staat und Nation verbindet, sonst kann man am Ende auch die nicht schützen, deren Schutz durch das „Nie Wieder“ ja gerade Priorität erhalten soll. Und das gilt dann auch für das eigene Territorium und die eigenen Städte – ein Versuch Deutschlands, im Nahen Osten politisch zu intervenieren, wäre ja ohnehin Wahnsinn, zumal die dortigen Probleme kaum noch lösbar sind, das muss man einräumen.
Nur von diesem Selbstbehauptungswillen ist in Deutschland kaum etwas zu spüren, er ist unserer politischen Klasse, aber auch den Funktionseliten, die in der Verwaltung und noch sehr viel mehr in der Rechtsprechung in Deutschland das Sagen haben, anders als noch vor 30 oder 40 Jahren weitgehend fremd geworden.
Das aber hat gravierende Folgen. Sicher, eine vernünftige Immigrationspolitik zu konzipieren und dann womöglich auch noch umzusetzen, ist eine enorm schwierige Aufgabe, nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo, das sieht man ja in Frankreich oder Großbritannien. Man steht vor gewaltigen rechtlichen, praktischen und humanitären Herausforderungen. Aber nur selten hat sich ein Land so stark in kompletter Naivität auf ein gigantisches migrationspolitisches Experiment eingelassen wie Deutschland seit 2015. Das Nachdenken über eigene nationale Interessen wurde dabei weitgehend tabuisiert oder aber ganz einseitig auf das rein Ökonomische zugespitzt in der irrigen Annahme, Immigranten seien vor allem beliebig einsetzbare, faktisch unbegrenzt anpassungsfähige Arbeitskräfte ohne relevante kulturelle und religiöse Prägungen und Ansprüche.
Man hat innerhalb weniger Jahren weit über zwei, ja bis zu drei Millionen Menschen ins Land nicht nur gelassen, sondern gerufen, denen die westliche Kultur oft eher fremd ist. Nur, Immigranten passen sich eben, wenn sie in so großer Zahl kommen, nicht ohne weiteres an die Kultur des Aufnahmelandes an; mit allen Vor- und Nachteilen, die das haben kann, wie auch die empirische Forschung zeigt. Dass etwa Immigranten aus nicht-europäischen Ländern den zum Teil hypertrophen Individualismus des Westens nicht übernehmen und deshalb bei Ihnen auch die Familienstrukturen stabiler sind, kann man durchaus auf der Habenseite verbuchen, wenn man will.
Aber starke familiäre Bindungen innerhalb großer Verwandtschaftsverbände, die, anders als es einer sehr alten europäischen Tradition entspricht, zum Teil durch Heiraten zwischen Cousins und Cousinen verstärkt werden, sind für die Funktionsfähigkeit einer modernen Gesellschaft, die ein hohes Maß an Vertrauen in anonyme Institutionen und in das berechenbare Verhalten von gänzlich Fremden voraussetzen, eher kontraproduktiv, wie vor Kurzem noch Joseph Henrich in seiner faszinierenden Monographie The WEIRDest People in the World: How the West Became Psychologically Peculiar and Particularly Prosperous (2021) schlagend gezeigt hat.
Darüber hinaus verändert eine so massive Immigrationswelle natürlich auch die politische Kultur eines Landes, wie wir in diesen Tagen dramatisch vor Augen geführt bekommen. In den meisten arabischen Ländern gehört der Hass nicht nur auf Israel, sondern auch ganz allgemein auf Juden nun einmal zur politischen DNA; er wird jungen Männern und Frauen schon auf der Schule beigebracht und perpetuiert sich dann. Zum Teil und in weniger ausgeprägter Form gilt das heute auch für viele nicht-arabische muslimische Länder, wie man an der staatlichen Propaganda in der Türkei ja überdeutlich sehen kann.
Diesen Hass haben wir in den letzten Jahren verstärkt importiert. Dass er sich jetzt, wo Krieg zwischen Israel und der Hamas herrscht, sich auch auf unseren Straßen manifestiert, ist nur logisch. Wie reagiert die Politik darauf? Im besten Fall rat- und hilflos, an besonders kritischen Orten wie Berlin aber auch anders: Sie stellt sich faktisch auf die Seit derjenigen, die nicht etwa nur eine Rücksichtnahme auf palästinensische Interessen und die Schonung von Zivilisten verlangen – das ist im Prinzip legitim –, sondern die die gänzliche Auslöschung Israels fordern und oft auch jüdisches Leben in Deutschland attackieren. So werden in Berlin faktisch wohl ohne ausreichende Rechtsgrundlage Plakate, die an das Schicksal der israelischen Geiseln im Gaza-Streifen und an die von der Hamas Ermordeten erinnern, von der Polizei entfernt.
Was ist der Grund dafür laut der zuständigen Senatorin? Man sieht die Plakate als provokativ an, sie könnten die ohnehin schon großen Spannungen in der Stadt weiter zuspitzen. Die Logik ist einleuchtend, es gibt in Berlin nicht sehr viele Juden und die, die es gibt, werden kaum terroristische Anschläge durchführen, aber sehr viele Muslime und nicht wenige Araber; die Stimmungslage dieser Bevölkerungsgruppe zu ignorieren, ist daher gefährlich, zumal es hier auch ein erhebliches Gewaltpotential gibt, also bringt man jüdische und generell pro-israelische Stimmen zum Schweigen; das kostet nichts und ist effektiv.
Das kann man alles machen, aber dann soll man aufhören, sich ständig auf das „Nie Wieder“ des Kampfes gegen Antisemitismus zu berufen. Das ist reine Heuchelei. Es entsteht der Eindruck, dass der Kampf gegen Antisemitismus ohnehin nur dann propagiert wird, wenn man mit dieser Waffe andere politische Ziele im Sinne zum Beispiel des umfassenden Kampfes gegen „Rechts“ erreichen kann, etwa indem man durch die Skandalisierung der Entgleisungen eines pubertierenden Jugendlichen, die 35 Jahre zurückliegen, versucht, den Ausgang von Landtagswahlen zu beeinflussen.
Lassen sich die Fehler der letzten Jahre noch korrigieren?
Würde man das „Nie Wieder“ ernst nehmen, müsste man erst einmal versuchen, eine sehr viel striktere Immigrations- und Einbürgerungspolitik zu betreiben, weil alles andere, wie wir jetzt sehen, die Fundamente einer liberalen Demokratie, in der auch für Minderheiten wie Juden ein Platz ist, in Krisenzeiten zu untergraben droht, auch wenn es taktlos sein mag, das so offen zu sagen. Ersteres, die Migrationspolitik zu ändern, ist schwierig (bei Einbürgerungen könnte man hingegen leicht sehr viel strenger vorgehen und etwa die doppelte Staatsbürgerschaft vom Normalfall wieder zur seltenen Ausnahme machen), das ist richtig, weil namentlich die Seegrenzen der EU schwer zu kontrollieren sind und die Landgrenzen der Bundesrepublik erst recht nicht. Aber in den letzten 20 Jahren wurde ja nicht einmal versucht, den Missbrauch des Asylrechtes, den das EU-Recht freilich massiv und ganz bewusst begünstigt, einzudämmen. Seit 2015 wurde sogar jede Diskussion über dieses Thema zunehmend tabuisiert.
Zum anderen brauchen wir aber auch eine ganz andere Politik gegenüber den Islamverbänden. Sie wurden in Deutschland in den letzten Jahren zunehmend mit Samthandschuhen angefasst, man hat ihnen immer weitere Zugeständnisse gemacht. Was ist die Quittung dafür? Der oberste Geistliche der türkischen Religionsbehörde – von der auch der mächtige deutsche Islamverband Ditib direkt abhängt und seine Weisungen erhält – namens Ali Erbas ruft in der Hagia Sophia mit dem Schwert in der Hand (!) faktisch zum Heiligen Krieg gegen Israel und implizit gegen den ganzen Westen auf, während Staatspräsident Erdogan selbst die Größe des Osmanischen Reiches beschwört und daran erinnert, dass Gaza einst ebenso wie das heute griechische Saloniki und andere Städte unter der wohltuenden Herrschaft dieses Reiches stand, die er sich offenbar in dieser oder jener Form zurückwünscht.
Für Erdogan und seinen Chefprediger ist Israel ebenso wie für andere Islamisten nicht zuletzt ein Bollwerk des feindlichen Westens. Von daher sollte man auch keinen Fehler machen: Der Hass auf Israel und Juden, der sich heute in Europa manifestiert – ganz besonders ungehemmt übrigens in Großbritannien, das gegenüber dem radikalen Islam von jeher eine zynische Appeasement-Politik betrieben hat – kann morgen alle „Westler“ treffen, liberale Muslime und Immigranten aus muslimischen Ländern, die sich nicht mehr zum Islam bekennen, zuerst, dann aber später womöglich auch einfach alle, die zur Heerschar der „Ungläubigen“ zählen.
Jedenfalls zeigen die Entwicklungen in Großbritannien, dass eine Appeasement-Politik gegenüber islamistischen Kräften und Gruppierungen, denen es nicht um Gleichberechtigung, sondern um eigene Dominanz und Hegemonie geht, nichts bringt. Das führt nur zur vollständigen Unterwerfung. Ob freilich eine Gegenstrategie überhaupt noch möglich ist, ist unklar. Man sollte es aber immerhin versuchen, und dazu muss in Deutschland vor allem die Zusammenarbeit mit Islamverbänden auf den Prüfstand gestellt werden, die vom Ausland, etwa von Ankara aus oder von Katar, gelenkt werden und die die Kultur des Westens und alles, wofür sie steht, von vollständiger, gleichberechtigter Religionsfreiheit für „Ungläubige“ bis hin zur Dominanz eines säkularen Rechts gegenüber religiösen Normen, ablehnen.
Ein zweiter wichtiger Schritt wäre, die überzogene sogenannte „Antidiskriminierungspolitik“ zurückzufahren. In der Praxis will diese Politik heute vor allem verhindern, dass Immigranten sich einem wie immer gearteten Assimilationsdruck ausgesetzt sehen und in dieser Hinsicht ist die einschlägige Politik ja auch durchaus erfolgreich; nur, das heißt eben auch, dass Immigranten aus einschlägigen Ländern sich das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik, zu dem auch der Kampf gegen Antisemitismus gehört, nicht zu eigen machen werden. Es ihnen aufzuzwingen, wäre ja aus der Perspektive unserer fabelhaften Antidiskriminierungslobby vermutlich auch nur eine Form der Diskriminierung, auch wenn das meist nicht offen ausgesprochen wird.
Ebenso verderblich sind die Bemühungen der Mehrheit unserer Politiker, gewissermaßen vom linken Flügel der Grünen über Frau Faeser bis hin zu Leuten wie Laschet und wohl auch Wüst in der CDU, jede Kritik an antiwestlichen und radikalen Strömungen im Islam als „antimuslimischen Rassismus“ zu brandmarken. Damit soll jede kritische Diskussion über Fehlentwicklungen im islamischen Milieu systematisch unterbunden werden. Dass man dann auch Antisemitismus nicht wirksam bekämpfen kann, ist klar. Vermutlich will man es auch gar nicht mehr wirklich, jedenfalls dann nicht, wenn es sich um die „richtigen“ Antisemiten aus dem „globalen Süden“ handelt und nicht um diejenigen, die ihre Wurzeln im eigenen Land haben.
Die Bundesrepublik befindet sich in vielen Politikbereichen spätestens seit 2005 auf einem Irrweg. Wie ernst die Lage ist, haben die letzten Tage und Wochen erneut gezeigt. Ob hier ein Umlenken noch möglich ist, ist sehr zweifelhaft, mit einer Innenministerin wie Nancy Faeser sicher nicht, das ist vollständig klar. Sie steht in allen wichtigen Fragen auf der Gegenseite, gleichgültig ob es um die Eindämmung des Islamismus oder die Steuerung von Migration geht. Wenn man aber entschlossen ist, die Dinge weiter laufen zu lassen, und die Bundesregierung erweckt diesen Eindruck, dann sollte man wenigstens die heuchlerischen Lippenbekenntnisse des ewigen „Nie Wieder“ einstellen. So wie die Dinge sich entwickeln, sind solche Floskeln in ihrer Unaufrichtigkeit nur noch degoutant.