Die grüne Linke feierte ihr deutsches Sommermärchen erst 2022. Ganz ohne Fußball und verhasste schwarz-rot-goldene Fahnen: Deutsche Bahn für alle, fast umsonst von Singen bis nach Sylt und wieder zurück – die grüne Linke schien wie von allen Fesseln befreit, von Erfolg zu Erfolg zu eilen. Im Sommer 2022. Wie Jürgen Klinsmanns Truppe 16 Jahre davor bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land. Wer „Neun Euro Ticket + Erfolg“ googelt, findet ein paar hübsche Jubelmeldungen der grün-geneigten Presse aus jenen Tagen. Wenn auch längst nicht alle.
Die Regierung des Jahres 2023 nimmt sich etwas vor, das erst 2070 fertiggestellt sein wird. Diese Aussage ist so vernichtend, dass keine PR-Gegenoffensive mithalten kann. 20 Jahre haben die USA gebraucht, um den Panamakanal zu bauen. Über 40 Jahre braucht Deutschland, um einen Fahrplan zu harmonisieren. Der Anspruch der Ampel, eine „Fortschrittskoalition“ sein zu wollen, ist damit zuende erzählt. Insofern ist das eine herbe Niederlage des liberalen Ministers Wissing, der angetreten ist und sich auch dafür feiern lässt, die Verwaltung zu verschlanken und Vorhaben in Deutschland zu beschleunigen. 45 Jahre für eine Fahrplan-Harmonisierung sind allerdings das Gegenteil davon.
Entsprechend zielt die Kritik im Netz gegen Wissing. Grüne Wut, Arroganz, Überheblichkeit und Verrohung in der Sprache kommen zusammen. Mustergültig steht dafür der Tweet von Tino Pfaff, selbt ernanntem Klimaschützer.
Nur was Pfaff übersieht – ebenso wie es grüne Politiker und Journalisten tun: Für das Versagen beim Deutschlandticket wird nicht die FDP politisch bezahlen, sondern die Grünen. Es ist Demokratie-Ökonomie. Die mag manchem Leser unlogisch erscheinen, die mag manchem Leser unfair vorkommen – aber sie funktioniert nach ihren eigenen Regeln. Zum Beispiel: Von der Reaktorkatastrophe in Fukushima haben die Grünen profitiert. Wobei das unpräzise ist. Sie haben vom folgenden, übereilten Atomausstieg der Kanzlerin Angela Merkel (CDU) profitiert. Die CDU beendet die Atomenergie, aber die Grünen gewinnen dadurch Landtagswahlen. Unlogisch, unfair, aber Demokratie-Ökonomie: Die Grünen stehen am Überzeugendsten für den Wunsch nach dem Aus der Atomkraft, also profitieren sie von dem. Ganz egal, wer dafür politisch verantwortlich ist. So war es 2011 und so ist es 2023 immer noch. Dieses Mal im negativen, dieses Mal mit den Problemen der Bahn.
Diese Bahn braucht 45 Jahre, bis sie effizient fährt. Das verantwortet der liberale Verkehrsminister, aber frustrieren und vielleicht sogar demobilisieren wird es die grünen Wähler. Zumal der Deutschlandtakt die deutlich kleinere der beiden Niederlagen ist. Die größere zeichnet sich bereits ab: Das 49-Euro-Ticket. Das korrekt Deutschlandticket heißt. Kein unwichtiger Unterschied. Denn der Name ermöglicht es, die Preise dafür bald anzuziehen. Es wäre kein Wunder, wenn das 49-Euro-Ticket im Jahr 2030 schon 70 Euro kostet – oder nicht mehr existiert.
Denn der Sommernachtstraum ist ausgeträumt. Der Rausch vorbei. Der Turkey lässt den Schädel brummen. Und die Idee, bundesweiter Nahverkehr müsse nicht kostendeckend arbeiten, funktioniert eben nur im Traum. Ältere Bürger aus dem Osten kennen das Prinzip: Die DDR hielt Mieten künstlich niedrig, dadurch fehlte aber das Geld für Sanierungen. Entsprechend marode war die Bausubstanz des Staates, der 1990 selbst implodierte. Für Nahverkehr gilt das gleiche Prinzip: Wenn ich Schienen bauen oder auch nur erhalten will, kostet das Geld. So ist das halt, wenn man aus dem Traum erwacht. Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) nutzt die Pleite rund um den Deutschlandtakt als Anlass, um an diesen Zusammenhang zu erinnern: „Wir müssen auch über eine faire Regelung beim #49EuroTicket sprechen, wenn es zu Mehrkosten kommt. Der Bund kann keine Fakten schaffen, ohne das mit den Ländern zu beraten.“
Wir wollen ein wenig Rechnen, warum das Neun-Euro-Ticket nicht funktionieren kann. Auch dann nicht, wenn es 49 Euro kostet: In Berlin kostet derzeit die Monatskarte allein für die Innenstadt 86 Euro. Mit dem Deutschlandticket sparen Nutzer 37 Euro. Gute Nachricht? Ja, für die Nutzer. Aber diese 37 Euro fehlen, um Personal zu bezahlen, geschweige denn weiteres einzustellen. Um Schienen zu sanieren, geschweige denn neue zu bauen. Um Signalanlagen im Stand zu halten, geschweige denn zu modernisieren.
Was bedeuten diese 37 Euro in der Summe? Im Jahr spart der Pendler durch das Deutschlandticket 444 Euro. Wie der Name verrät, kostet es ihn nichts weiter, wenn er das Ticket nutzt, um bundesweit unterwegs zu sein. Auch das Geld bleibt dann der Finanzierung des Nahverkehrs vorenthalten. Zählt man das dazu, ist eine jährliche Ersparnis von 500 Euro nicht unrealistisch.
10 Millionen Abonennten von Dauerkarten profitierten laut Verkehrsbetrieben vom Neun-Euro-Ticket. Demnach profitieren sie auch vom Deutschlandticket. Wir wollen hier die Kosten des Tickets nicht künstlich hochrechnen, nach beeindruckenden Zahlen haschen. Statt mit 500 Euro Ersparnis rechnen wir nur mit 300 Euro Ersparnis pro Pendler. Das sind dann immer noch 3 Milliarden Euro im Jahr. 61,2 Millionen zusätzliche Deutschlandtickets müssen verkauft werden, um diesen Verlust auszugleichen. Das entspricht 5 Millionen neuen Nutzern im Monat. Abgerundet. Wir wollen die Zahlen hier nicht künstlich hoch rechnen – wir müssen es gar nicht.
Fünf Millionen neue Kunden für ein System, das sich schon jetzt schwertut, seine Kunden zu bedienen. Dem es an Geld fehlt, um sein System für diese fünf Millionen neuen Kunden fit zu machen. Wer sich nicht in grün-linken Träumen verloren hat, weiß, dass das nicht funktionieren kann. Mit dem Neun-Euro-Ticket kamen überfüllte Züge, überfordertes Personal, Verspätungen und Technik am Rande des Zusammenbruchs. Klar kann man auf einen alten Gaul immer weitere Lasten packen – nur bricht er dann halt irgendwann zusammen.
Noch als das Neun-Euro-Ticket lief, zeichnete sich bereits sein Untergang ab. 21 Millionen Tickets verkauften die Verkehrsbetriebe im Juni 2022, meldeten grün-geneigte Medien brüllend laut. 14 Millionen Tickets waren es nur noch im August 2022, nuschelten die gleichen grün-geneigten Medien leise weg. Ein Einbruck von 33 Prozent innerhalb von zwei Monaten. Bei gleich bleibendem, niedrigem Preis. Das Deutschlandticket kostet jetzt das Fünffache. Wie das Ticket 2030 aussieht, ist fraglich – auch, ob es das Ticket dann noch überhaupt gibt.
Grüne und grün-nahe Nutzer versuchen nun, die Schuld Volker Wissings an der Pleite des Deutschlandtakts zu untermauern. Sie fahren eine Kampagne, um ihre Erzählung durchzusetzen. Mit allen Mitteln der Kunst wie etwa der Nutzer Twister auf Twitter:
Aber es ist ein grüner Rausch, an dessen Entzug die Pendler leiden. Wer einen Traum verspricht, wird es schwer haben, wenn er nur Realität zu bieten hat. Jürgen Klinsmann wusste das. Als Italien 2006 Deutschland im Halbfinale aus dem Sommertraum riss, trat der Teamchef alsbald zurück. Die Mühen der Ebene überließ das schwäbische Cleverle anderen.