Tichys Einblick

Deutschlands Ratspräsidentschaft: Merkels letzte große Schlacht

Pandemie-Schäden beheben, Europas Wirtschaft in Fahrt bringen, den Brexit moderieren, mit sperrigen Nachbarn im Dialog bleiben: Deutschland steht vor einer schwierigen EU-Ratspräsidentschaft.

imago Images/Belga

Ein wenig archaisch wirkt das System: Wie Kaiser Karl der Große einst regierend und Recht sprechend durch die Pfalzen seines Reiches zog, so wandert die EU-Ratspräsidentschaft alle sechs Monate von einem EU-Mitglied zum nächsten. Ein halbes Jahr hat die Regierung mit Ratsvorsitz jeweils Zeit, sich und ihr Land zu präsentieren oder zu blamieren – vor allem aber Mühe, sich als geschickter Moderator der 27 nationalen Regierungen zu bewähren.

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Anders als im Europäischen Parlament und in der EU-Kommission, den beiden gemeinschaftlichen (bundesstaatlichen) Institutionen der EU, geht es im staatenbündisch verfassten „Rat“ ausdrücklich darum, die nationalstaatlichen Sichtweisen und Interessen in Balance zu bringen. Der noch bis Ende dieses Monats amtierende kroatische Ratsvorsitz ging zu Jahresbeginn mit viel Schwung ans Werk. Bis die Corona-Krise der Regierung in Zagreb die Zügel aus der Hand riss. Zwar moderieren die Kroaten weiter souverän die Videokonferenzen der jeweiligen Ministerrunden, doch angesichts der ökonomischen Verwüstung Europas durch die Corona-Krise richten sich alle Blicke bangend und hoffend auf Brüssel und Berlin.

In Brüssel hat die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – nach einer anfänglichen Schreckstarre, in der Chaos und nationale Alleingänge dominierten – das Ruder in der Hand. In Berlin regiert ihre Freundin Angela Merkel, die – im Herbst ihrer Kanzlerschaft – ab 1. Juli noch ein letztes Mal die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Dieses Damen-Duo wird die Europäische Union durch die Turbulenzen der zweiten Jahreshälfte steuern.

Eine Nord-Süd-Spaltung Europas verhindern

Die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen haben die Tagesordnung der deutschen Ratspräsidentschaft unter dem Leitwort „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ völlig verändert. Nun stehen nicht mehr Asylreform, Klimaschutz oder Digitalisierung ganz oben auf der Agenda, sondern der wirtschaftliche Wiederaufbau Europas. Um es mit den Worten von Bundeskanzlerin Merkel zu sagen: „Den Binnenmarkt wieder aufblühen zu lassen, schwer von der Pandemie betroffenen Mitgliedstaaten solidarisch zu helfen, auch weil diese Hilfe in unserem eigenen Interesse ist, uns gemeinsam aus der Krise zu befreien.“

Das Dogma, die EU dürfe keinesfalls zur Schuldenunion werden, hat Merkel rechtzeitig im deutsch-französischen Gleichschritt mit Macron über Bord geworfen. Sicher auch, weil die exportorientierte deutsche Wirtschaft ihre Absatzmärkte braucht, vor allem aber, um eine Spaltung der EU in Nord-Süd zu verhindern. Die Ost-West-Spaltung ihrer Mitglieder in der Frage der Flüchtlingsquoten hat die EU lange gelähmt. Eine wirtschaftliche Nord-Süd-Spaltung hätte jetzt zusätzliche Zentrifugalkräfte freigesetzt. Merkel setzt stattdessen auf Zusammenhalt, auch wenn der Preis dafür beträchtlich ist.

Bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung legte Angela Merkel vor wenigen Tagen ihre Sicht offen: „Das Virus kennt keine Grenzen, und so darf auch unsere Antwort als Europäische Union nicht an nationalstaatlichen Grenzen haltmachen. Wir müssen einander helfen, wo immer dies möglich ist.“ Deutschland gehe es „auf Dauer nur dann gut, wenn es auch Europa gut geht“. Es brauche „eine außergewöhnliche Kraftanstrengung (…) wobei uns knappe Kassen und der Wiederaufbau unserer Volkswirtschaften vor schwierige Abwägungen stellen“.

Mit ihrem Ja zur gemeinschaftlichen Schuldenaufnahme über den EU-Haushalt hat Merkel sich jedenfalls die Sympathie der spanischen wie der italienischen Regierung gesichert, die so an billiges Geld kommen. Die Zustimmung der „sparsamen Vier“ (Österreich, Dänemark, Schweden, Niederlande) zu einem Programm, das nahe am Merkel-Macron-Plan oder an den noch teureren Vorschlägen der EU-Kommission ist, bekommt sie wohl nur unter zwei Bedingungen: Wenn gesichert ist, dass europäische Milliarden nicht zur Deckung alter Staatsschulden missbraucht werden, und wenn es eine plausible Gegenfinanzierung gibt. Tatsächlich spricht das Damen-Duo in Brüssel und Berlin stets vom Wiederaufbau der Wirtschaft, nicht der Staaten Europas. Merkel begründet ihren Optimismus ausdrücklich damit, dass die Eurozone vor der Pandemie „auf einem soliden wirtschaftlichen Wachstumskurs“ war.

Selbst wenn es Garantien geben sollte, dass die Milliarden an Zuschüssen und Krediten in die Wirtschaft, nicht in die Staatsbudgets fließen, bleibt die heikle Frage der Finanzierung. Höhere EU-Mitgliedsbeiträge lehnen viele Staaten ab, und eigene EU-Steuern gibt es bisher nur als Idee und Ziel.

London und Peking zeitgleich im Blick

Gleichzeitig gestalten sich die Verhandlungen mit Großbritannien wieder einmal unnötig schwer: Obwohl das Vereinigte Königreich von Corona tragisch gebeutelt wird und im Krisenmodus festhängt, weigert sich die Regierung in London, die am 31. Dezember endende Brexit-Übergangsperiode zu verlängern. Wenn aber ein neues bilaterales Abkommen zwischen Großbritannien und der EU nicht bis Oktober ausgehandelt ist, kommt es mit dem Jahreswechsel zu Chaos in handels- und zivilrechtlichen Fragen. Dabei geht es keineswegs nur um Fischfangquoten in der Nordsee. London will den Zugang zum EU-Binnenmarkt; Brüssel fordert dafür EU-Standards beim Verbraucher-, Arbeits- und Umweltschutz.

Während für die EU der Franzose Michel Barnier, wenngleich zunehmend genervt, auf eine ehrgeizige Zukunftspartnerschaft drängt, taktiert und zaudert Boris Johnsons Mannschaft, als gäbe es kein Morgen. Die deutsche Ratspräsidentschaft muss hier also aufs Tempo drücken, ohne dabei EU-Verhandler Barnier zu schwächen.

Zusammenarbeit mit China aktiv gestalten

Ein Höhepunkt des deutschen Halbjahres sollte der für 14. September in Leipzig anberaumte EU-China-Gipfel werden. Merkel selbst bezeichnete das europäische Verhältnis zu China als „außenpolitischen Schwerpunkt unserer EU-Ratspräsidentschaft“. Die EU habe ein strategisches Interesse daran, die Zusammenarbeit mit China aktiv zu gestalten. Das meint die Bundeskanzlerin durchaus kritisch: Die Europäer müssten erkennen, „mit welcher Entschlossenheit China einen führenden Platz in den existierenden Strukturen der internationalen Architektur beansprucht“, referierte sie vor wenigen Tagen. Nachsatz: „Wir sollten das aber nicht nur erkennen, sondern diese Herausforderung selbstbewusst annehmen.“

Auch da hat die von China ausgegangene Corona-Pandemie den Plänen der Kanzlerin einen Strich durch die Rechnung gemacht. In der Vorwoche teilte Berlin mit, dass der EU-China-Gipfel verschoben wird – wegen der Corona-Krise, nicht wegen Pekings Vorgehen in Hongkong. Ob der Gipfel noch vor Ende des Jahres stattfinden wird, ließ Außenminister Heiko Maas offen.

Dabei steht nicht nur ein angestrebtes Investitionsschutzabkommen auf dem Spiel. China ist, wie Merkel richtig sagt, „nicht irgendein Partner und Wettbewerber, sondern ein Land, mit dem es tiefgreifende Unterschiede in Fragen der Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gibt“. Über all dies brauche es einen kritisch-konstruktiven Dialog, „um unsere europäischen Werte und Interessen zu behaupten“.

Moskau schuf einen Gürtel ungelöster Konflikte

Um beides, um Interessen und Werte, geht es auch in der EU-Afrikapolitik. Bei einem EU-Afrika-Gipfel im Oktober soll das Vorgehen gegen die Pandemie, bei Migration, Wirtschaftsentwicklung und Friedenspolitik abgestimmt werden. Angespannt bleibt das Verhältnis der vereinten Europäer zu Russland, das „in seiner unmittelbaren Nachbarschaft einen Gürtel ungelöster Konflikte geschaffen“ habe, wie die Kanzlerin formuliert. Sie will die Sanktionen gegen Präsident Putin und sein Umfeld beibehalten, solange es in der Ostukraine keine Fortschritte gibt.


Dieser Beitrag von Stephan Baier erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.

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