Die Weltgeschichte startet manchmal auch in Gottmadingen. Von dort brach ein gewisser Wladimir Iljitsch Uljanow – besser bekannt als Lenin – 1917 nach Russland auf. In dem Weiler bei Konstanz begann nicht nur eine Zugfahrt, sondern letztlich auch die „Oktoberrevolution“, die in Russland zu einem erneuten Umsturz und letztlich zur ersten kommunistischen Machtergreifung führte. Die erzkonservative, monarchistische deutsche Militärführung hatte sich entschieden, dem Revolutionär zu helfen.
Die Idee dahinter: Eine Revolution würde den militärischen Gegner Russland schwächen und zu einem Friedensschluss zwingen. Dieser wiederum würde der deutschen Armee ermöglichen, Mensch und Maschine nach Westen zu verlegen, um dort Lücken an der Front zu schließen. Am kommenden Samstag jährt sich der Start der Zugfahrt zum 105. Mal.
Deutschland und Russland, fortan Sowjetunion, hatten nun eins gemeinsam: Sie waren die Paria der Weltgemeinschaft. Da Deutschland kapituliert hatte, konnten die Sieger ihm über ein Vertragswerk den Weltmachtstatus nehmen. Sie verpassten dafür dem besiegten Land strenge Auflagen über Truppenstärke und Bewaffnung seiner Armee. Die Sowjetunion schwächten sie, indem sie in einem Bürgerkrieg seine innenpolitischen Feinde unterstützten – auch militärisch. Unter diesen Umständen trafen sich die Staaten im April 1922 in Genua zu einer Konferenz. Die Sieger des Krieges setzten dort ihre harte Linie gegen die Paria-Staaten fort. Wofür sie in ihrer Arroganz blind waren, war der Gedanke: Wenn zwei Staaten von den anderen ausgestoßen werden, könnten sie sich zusammentun.
Genau das geschah. Die deutsche und die sowjetische Delegation trafen sich im Genua nahe gelegenen Rapallo und einigten sich auf eine Zusammenarbeit. Der Vertragsschluss jährt sich am Ostersamstag zum hundertsten Mal. Entscheidend war der militärische Teil: Die Deutschen umgingen das weltweite Embargo und lieferten der Sowjetunion Waffen. Dafür durften die deutschen Truppen auf sowjetischem Boden Waffen bauen lassen, lagern und mit ihnen üben. So konnte das Deutsche Reich die Auflagen des Versailler Vertrages umgehen.
Doch entscheidender als dieser militärische Aspekt wurde später ein Nebeneffekt: Deutsche Militärs knüpften außerordentlich gute Beziehungen zu Verantwortlichen der Kommunistischen Partei und der Roten Armee. Außerdem lernten sie das Land sehr gut kennen – seine Topographie, seine Verteidigungseinrichtungen, seine wirtschaftliche Schwäche –, in dem sie keine 20 Jahre später als Gegner in einem „Vernichtungskrieg“ auftauchen sollten.
Die Führung des „Dritten Reiches“ hatte immer darauf gesetzt, dass die Westmächte in der Sowjetunion den eigentlichen ideologischen Feind erkennen und sich daher mit Deutschland verbünden würden. Sie behielten nur teilweise Unrecht. Zwar besiegten die Westmächte zuerst Deutschland militärisch und das deutlich: Vier Jahre lang gab es gar keinen deutschen Staat, dann zwei von den Siegermächten dominierte Staaten. Doch die Westmächte bauten ihren deutschen Teilstaat wieder auf. Sie brauchten ihn im „Kalten Krieg“, der nun tatsächlich gegen die Sowjetunion ausgebrochen war. Auch wegen seines Knowhows im Bereich Geheimdienst brauchten sie den neuen Verbündeten.
Die USA waren bezüglich der Aufklärung in der Sowjetunion blind. Das fing schon damit an, ausreichend Kräfte zu gewinnen, die Russisch sprachen. Der amerikanische Historiker Tim Weiner hat die Dokumente der CIA und ihrer Vorgänger aus diesen Tagen ausgewertet. Er attestiert den Staaten einen Blindflug, wenn es um die Einschätzung des neuen Gegners ging. Genau diese wertvolle Ressource konnte der ehemalige, der besiegte Gegner den Amerikanern bieten. Der erste, der das erkannt hat, war Reinhard Gehlen. Gegen eine persönliche Amnestie überließ er den Amerikanern sein Wissen. Die erlaubten ihm später sogar, den westdeutschen Auslandsgeheimdienst, dann BND genannt, aufzubauen.
Tim Weiner schildert den Einfluss, den die deutschen Berater beim Aufbau des CIA hatten: Sie waren die Falken, sie hatten ein Eigeninteresse an der Eskalation des „Kalten Krieges“. Das wirkte sich nicht nur militärisch und außenpolitisch aus, etwa im Engagement im Koreakrieg, sondern auch innenpolitisch. Die Vergiftung des amerikanischen Klimas ging laut Weiner auch auf die deutschen Einflüsterer zurück. In der politischen Verfolgung der McCarthy-Ära vernichteten die Hardliner zahlreiche Existenzen. Sie prägten auch das politische Klima, das es einem demokratischen Präsidenten John F. Kennedy erschwerte, das Engagement in Vietnam zu beenden, und den demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson dazu brachte, dieses Engagement zu einem heißen Krieg eskalieren zu lassen – mit den entsprechenden politischen Verwerfungen als Folge: Johnsons Verzicht auf eine zweite Kandidatur, schwere innenpolitische Unruhen in der westlichen Welt vor allem in den USA und dort auch ein Vertrauensverlust in den Staat, der sich bis in die 80er Jahre auswirkte.
Bis Ronald Reagan kam. Er war der erste amerikanische Präsident, der eine klare Vorstellung von der Leistungsstärke der Sowjetunion hatte. Beziehungsweise von deren Fehlen. Als Reagan Präsident wurde, existierte die UdSSR bereits 63 Jahre, danach hatte sie keine zehn mehr. Er überwand die Weltmacht mit einer simplen Strategie: Er erhöhte die Ausgaben für die Rüstung und zwang den ideologischen Feind dazu, ihm das nachzumachen. Die starke kapitalistische Ordnung konnte sich das mühelos leisten, die schwache kommunistische Ordnung knickte nach wenigen Jahren ein.