Am 14. Mai 1948 versammelte sich der Jüdische Nationalrat im Haus von Meir Dizengoff um 16 Uhr, um noch vor Sonnenuntergang, vor dem Beginn des Sabbats, „kraft des natürlichen und historischen Rechts des jüdischen Volkes und aufgrund des Beschlusses der UNO-Vollversammlung“ die Errichtung des Staates Israel zu verkünden. Elf Minuten später erkannten die USA den neuen Staat an, es folgten am 16. Mai die Sowjetunion und am 18. Mai die Tschechoslowakei. Kurz nach der Verkündung der Unabhängigkeit, noch in derselben Nacht erklärten Ägypten, Saudi-Arabien, Transjordanien, der Libanon, der Irak und Syrien dem neuen Staat den Krieg. Seit ihrer Unabhängigkeitserklärung müssen die Israelis ihr Leben, ihre Freiheit und die Demokratie gegen Terrorismus und militärische Angriffe verteidigen.
Raketen treffen Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, die diesen Namen verdient. In manchen Medien spricht man lieber von „militanten Palästinensern“ als von der Hamas, als seien ein paar Radikale dazu in der Lage, tausende Raketen abzuschießen. Inzwischen werden die „militanten Palästinenser“ vom Iran unterstützt, der wohl als Profiteur aus der US-Präsidentenwahl hervorgegangen zu sein scheint. So konnte Heiko Maas feststellen: „Ich glaube, von den Nahost-Initiativen Donald Trumps ist wenig bis gar nichts übriggeblieben.“
Joe Biden nimmt als US-Präsident die desaströse Nahost-Politik Barack Obamas wieder auf. Ob Bidens Gesandter Hady Amr, der im Libanon geboren wurde und eher Obamas Positionen in Bezug auf den Nahen Osten vertritt und sich mit einem sehr israelkritischen Artikel für die libanesische Zeitung The Daily Star hervortat, der richtige Mann für diese heikle Mission ist, darf zur Stunde noch bezweifelt werden, denn „israelkritisch“ ist im Übrigen noch sehr freundlich ausgedrückt. Amrs Artikel kann man auch als Masterplan lesen, wie man Israels Einfluss in Washington begrenzt und eine starke palästinensische Lobby in den USA schafft. In dem Artikel beschrieb Amr vor knapp zwanzig Jahren, am 2. Mai 2002, wie er in „den letzten Wochen zehn Bundesstaaten“ durchquert hatte, um mit „Studentengruppen, Anti-Besatzungs-Aktivisten und Freunden“ darüber zu sprechen, was in Amerika im Kampf gegen die Ungerechtigkeit im besetzten Palästina getan werden muss, gegen die „Schande, die ich zusammen mit Millionen von Palästinensern täglich durch das israelische Militär im besetzten Palästina erlitten habe“.
Man gibt sich überparteilich. Aber stellt angesichts des konzentrierten Angriffs auf Israel die Pose der Überparteilichkeit oder Neutralität nicht schon eine Parteinahme dar? So hatte auch der Bundesaußenminister zunächst beide Seiten zur Mäßigung aufgerufen. Das wirft die Frage auf, wie einer, der angegriffen wird, sich mäßigen soll. Indem er sich beschießen und ermorden lässt?
Obwohl Heiko Maas (SPD) angesichts der erdrückenden Fakten wohl nicht umhin kommt, die Schuld dort zu verorten, wo sie auch liegt, bei der Hamas, kann er dennoch nicht ganz vom Framing lassen, wenn er Bild gegenüber äußert: „Zumindest die jüngste Eskalation hat Hamas mutwillig herbeigeführt, indem sie inzwischen über zweitausend Raketen auf israelische Städte geschossen hat.“ „Zumindest“ diesmal ist die Hamas Schuld. Waren früher etwa die Israelis schuld, wenn sie aus dem Gaza-Streifen beschossen worden sind? Der Fragwürdigkeit seiner Äußerung bewusst, verkündet er sogleich scheinpragmatisch: „Aber was mich umtreibt, ist nicht die Schuldfrage, sondern die Konfliktlösung und daran arbeiten wir.“
Ist die Konfliktlösung von der Schuldfrage zu trennen, die doch eine Frage der Interessen und Ziele ist? Einerseits verkündet Maas, dass von Trumps Nahostlösung nichts übrig geblieben ist, in deren Zentrum die Zwei-Staaten-Lösung stand, andererseits meint er, dass „letztlich … nur eine verhandelte Zweistaaten-Lösung den fatalen Kreislauf der immer wiederkehrenden Gewalt durchbrechen“ kann. Wie kurz ist das Gedächtnis des Bundesaußenministers?
Doch mit der Relativierung der Schuld der Hamas liegt Maas ganz auf der Linie seines Genossen Rolf Mützenich, Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag, der „angesichts der antisemitischen Angriffe auf Synagogen in Deutschland auch auf die israelische Regierung einwirken“ will. Schickte nach Ansicht des Genossen Mützenich Israel den Mob nach Deutschland, der israelische Flaggen verbrannte und antisemitische Parolen grölte? Haben die Israelis tausende von Raketen auf den Gaza-Streifen abgefeuert?
Aber die lange Zeit in der Großen Koalition scheint abzufärben. Die außenpolitische Koryphäe der Union, Norbert Röttgen, kommt zu dem Schluss, dass „jüdische Gemeinden in Deutschland nichts mit dem Nahost-Konflikt zu tun hätten.“ Dass tausende von Raketen auf Israel abgeschossen wurden und weiterhin werden, dass israelische Araber in Israel Juden angreifen, dass zeitgleich in Deutschland vor Synagogen israelische Fahnen verbrannt und antisemitische Parolen gebrüllt werden, darin kann der außenpolitische Experte der CDU keinen Zusammenhang entdecken? Helfen wir ihm ein wenig.
Am 13. Mai forderte nach einem Bericht der WELT der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, Israel eine „Lektion zu erteilen“, mehr noch, nach türkischen Angaben sprach Erdogan mit Waldimir Putin am Mittwoch in einem Telefongespräch darüber, dass der Weltsicherheitsrat wegen der Gewalt im Nahen Osten schnell eingreifen und „entschlossene und klare Botschaften“ an Israel senden müsse. Aber natürlich verfügt Erdogan in Deutschland über keinerlei politischen Einfluss.
Der zeitliche Zusammenhang zwischen Erdogans Nahost-Initiative, deren Ziel darin besteht, eine internationale Schutztruppe für die Palästinenser in Israel zu stationieren, die wahrscheinlich die palästinensischen Raketenstellungen beschützen sollen, und den antiisraelischen und antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland sind natürlich reiner Zufall.
Wie Einschüchterung funktioniert, zeigt die Stadt Hagen. Auf Bitte der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft wurde vor dem Rathaus in Hagen die israelische Flagge gehisst, um der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland am 12. Mai 1965 zu gedenken. Die Polizei habe daraufhin die Stadtverwaltung darauf hingewiesen, dass das Hissen der Flagge zu Unmut in der muslimischen Gemeinschaft geführt habe und dass es zu einer „Eskalation kommen könne“.
Hätte man den unmütigen Bürgern seitens der Stadtverwaltung nicht ein paar mutige Fragen stellen müssen, die das Demokratieverständnis und die Haltung zum Grundgesetz betreffen? Hätte der Chef des Zentralrats der Muslime, Aiman Mayzek, statt wolkig und unkonkret zu sagen: „Wer Rassismus beklagt, selbst aber solch antisemitischen Hass verbreitet, hat alles verwirkt. Wer angeblich Israelkritik üben will, dann aber Synagogen und Juden angreift, greift uns alle an und wird meinen Widerstand bekommen“, nicht mit seinen Glaubensbrüdern in Hagen sprechen oder sich vor einer der betroffenen Synagogen begeben sollen, um deeskalierend zu wirken? Aber zuallererst hätte Mayzek benennen müssen, wer „wer“ ist, wen er in seinem Statement meint. „Schon zuvor hatte Mayzek den Zusammenhalt betont: Die Juden könnten sicher sein, dass wir es nicht zulassen, dass Extremisten versuchen diesen Konflikt im Nahen Osten dafür zu nutzen auf unserem Boden, hier in Deutschland, das weiter auszutragen‘“.
Allerdings hat Aiman Mazyek meines Wissens bisher noch nicht erklärt, was er unternehmen will, um das nicht zuzulassen, wer in diesem Fall „wir“ ist und in welchem Fall „wir“ „was“ zu tun gedenkt – all das bleibt bewusst im Nebulösen. Seinen wie auch den markigen Worten anderer Politiker, die sich zurecht empört zeigen über die Angriffe auf die Synagogen und Juden in Deutschland, über das Verbrennen von israelischen Fahnen und das Brüllen von antisemitischen, menschenverachtenden Parolen, fehlt, dass sie Ross und Reiter benennen, fehlt, dass sie der wohlfeilen Empörung Taten folgen lassen.
Die Situation für Israel ist gefährlich: Einerseits scheint sich eine zumindest informelle Koalition gegen Israel gebildet zu haben, zu der Hamas, Hisbollah, Iran und die Türkei gehören, von Russland, wie es bis jetzt aussieht, stillschweigend geduldet, andererseits zeigen sich Israels Verbündete wie die USA als zaudernd und Deutschland als wolkig. In Deutschland finden zeitgleich antisemitische Demonstrationen statt, die hohes Einschüchterungspotential besitzen.
Niemand hierzulande sollte vergessen, dass die Israelis auch unsere Demokratie verteidigen, auch unsere Freiheit. Deshalb gibt es für die uneingeschränkte Solidarität mit Israel zwei starke Gründe: Der eine liegt, wie jeder weiß, in der deutschen Geschichte begründet, der andere aber in der Verteidigung der Freiheit, der Demokratie und der Bürgerrechte in der Gegenwart. Tel Aviv liegt näher, als viele denken.