Tichys Einblick
Parallele Migrationssysteme

Deutschland und seine Migrationsdebatte: Wer weiterzieht, wer bleibt

Eine deutliche Mehrheit der Deutschen sieht die Migrationspolitik der Ampel kritisch. Der klandestine Umbau zum Einwanderungsland soll trotzdem weitergehen. Dass das System dysfunktional bleibt, stört dabei (noch) nicht.

Nancy Faeser (Bundesministerin des Innern und für Heimat, SPD) und Hubertus Heil (Bundesminister für Arbeit und Soziales, SPD) am 30.11.2022 während des gemeinsamen Pressestatement zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz im Bundesinnenministerium in Berlin.

IMAGO / Christian Spicker

Wie kann ein und dasselbe Ding zugleich funktionieren und nicht funktionieren, einerseits wie geschmiert laufen und doch voller Stolpersteine sein? Dieses Paradoxon scheint mittlerweile auf die Zuwanderung nach Deutschland zuzutreffen. Denn inzwischen wird beides beklagt, manchmal von verschiedenen Seiten, doch beides nicht ganz zu Unrecht: Zum einen macht es Deutschland Zuwanderern viel zu leicht, die illegal über andere Schengenstaaten einreisen und hier Asyl verlangen; zum anderen gelingt es dem Land nicht, die eigenen Ziele zu erreichen. Vor allem scheint der Fach- und Arbeitskräftemangel nun schon seit Jahren ein unlösbares deutsches Problem zu sein.

Immer wieder – zuletzt von Außenministerin Baerbock – wird an dieser Stelle gesagt, dass das Land zum Funktionieren pro Jahr eine Nettozuwanderung von 400.000 oder mehr Menschen in den Arbeitsmarkt brauche. Doch eine seit 1990 um die Marke von einer Million schwankende Neuzuwanderung pro Jahr scheint nichts an diesem Problem geändert zu haben. Dabei glaubt knapp die Hälfte der Deutschen ohnehin, dass die derzeit geschehende Zuwanderung dem Land hauptsächlich schadet (YouGov für dpa: 47 Prozent; INSA für Bild: 48,4 Prozent). Die Gegenposition war in beiden Umfragen eher schwach (YouGov: 29 Prozent; INSA: 16,3 Prozent). 24 bzw. 31,4 Prozent waren unentschieden. Laut INSA finden es 46 Prozent der Deutschen eher schlecht, dass Menschen aus muslimischen Ländern nach Deutschland kommen. 44 Prozent denken laut YouGov, dass die Bundesregierung die Einwanderung erschweren sollte, 61 Prozent bewerten die Einwanderungspolitik der Ampel als schlecht. Eine knappe Mehrheit (52 Prozent, YouGov) ist aber für die Zuwanderung von Fachkräften offen. Aber ist das überhaupt ein realistisches Projekt?

Die kurze Antwort lautet: nein. Etwas ausführlicher kann man die Antwort so formulieren: Im Jahr 2021, für das bereits Zahlen vom Statistischen Bundesamt (Destatis) vorliegen, gab es eine Nettozuwanderung von 393.342 Ausländern. Tatsächlich kamen 2021 sogar 1,1 Millionen Nichtdeutsche nach Deutschland, also – so wie in allen Jahren seit 1991 – viel mehr als angeblich benötigt. Zugleich wanderten aber fast 750.000 Ausländer aus Deutschland ab. Das ist eine beachtliche Zahl, die praktisch in allen Jahren seit 2014 übertroffen wurden. Einer gewaltigen Einwanderung von einer Million Ausländer pro Jahr steht also eine nicht viel geringere Auswanderung gegenüber. Es wird sich aber dennoch nicht um dieselbe Personengruppe handeln.

Zuwanderer nach Deutschland gehören zu oft in die Sozialstaats-Kategorie

Eine andere Art Auswanderer stellten selbstredend die 64.179 Deutschen dar, die ihrem Land im Jahr 2021 den Rücken gekehrt haben. Diese Auswanderer mit dem Motto „Deutschland, ade“ darf man, einer generellen Intuition und Erfahrung folgend, für eher gut ausgebildete Angehörige der arbeitsfähigen Bevölkerung oder auch für Rentner halten, die eine Wohnung im warmen Süden vorziehen (davon gibt es inzwischen wohl 250.000). Der deutsche Wanderungssaldo wurde 2005 negativ (laut Destatis). Die nichtdeutschen Auswanderer dürften von ähnlichen Gründen geleitet sein. Die 700.000 Auswanderer, die wir seit 2014 jedes Jahr erreichen, haben vor allem mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU zu tun, verdanken sich also wahrgenommenen Chancen – erst in Deutschland, dann wieder anderswo.

Auf der anderen Seite bedeutet die Attraktivität des deutschen Sozialstaates mit einiger Sicherheit, dass Zuwanderer, die von deutschen Sozialleistungen abhängen, das Land nicht freiwillig wieder verlassen werden. Denn ein besseres Angebot an sehr vielfältigen, sozusagen für jeden passgenauen Sozialleistungen werden sie kaum irgendwo anders auf der Welt finden. Abgesehen davon könnten ihnen auch Mittel und Unternehmergeist für eine Ausreise fehlen. Es ist nichts Neues: Ein Einwanderungsstaat mit ausgebautem Sozialsystem für jedermann funktioniert eher nicht. Die Zuwanderer, die in den letzten Jahren in Deutschland geblieben sind, gehörten zu oft in diese Kategorie.

Diese Vermutung bestätigt auch Destatis, wenn es im vergangenen November erklärte, dass die „Fluchtmigration“ wesentlich zum Bevölkerungswachstum in Deutschland beitrage, und das relativ langfristig seit Beginn der Migrationskrise von 2015 gerechnet. Im Vergleich mit Anfang jenes Jahres lebten Mitte 2022 demnach 2,8 Millionen Menschen mehr in Deutschland. Dazu zählen inzwischen 867.585 Syrer (deren Zahl besonders stark stieg), aber auch mehr als 300.000 Afghanen und mindestens 277.000 Iraker. Rund die Hälfte des Zuwachses entstammt damit den drei wichtigste Herkunftsländern für Asylbewerber, die sich in Deutschland bekanntlich schwertun mit dem Ankommen – auch und vor allem wirtschaftlich.

Der Integrationseffekt lässt auf sich warten

2018 war man beim Deutschlandfunk noch froher Hoffnung, dass sich langfristig auch wirtschaftlich ein positiver Effekt aus der Fluchtmigration ergäbe. Möglich ist es, vor allem laut der Theorie eines Volkswirts bei der hessisch-thüringischen Landesbank Helaba: „Wir haben auf jeden Fall bei der Zuwanderung immer erst einmal einen positiven Konsumeffekt, das haben wir 2015 und 2016 gesehen. Und wir haben – mit Zeitverzug – einen Integrationseffekt; das heißt, diese Menschen werden sich eine Arbeitsstelle suchen und dann auch positive Effekte auf das Bruttoinlandsprodukt haben.“ Das heißt: Die 577.000 Syrer und 200.000 Afghanen, die damals in Deutschland lebten, mussten für den täglichen Bedarf einkaufen. Langfristig sollten sie zu Arbeitnehmern werden, was aber bis heute nur einer kleinen Minderheit gelang, zumal wenn man die sozialversicherungspflichtigen Jobs betrachtet.

Insgesamt waren im Jahr 2021 in Deutschland 34 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, darunter 4,5 Millionen Ausländer, deren Anteil stieg. Auch die Zahl der Beschäftigten aus den wichtigsten acht Asylherkunftsländern (Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien) nimmt zwar laut der Website Statista seit 2012 beständig zu, die Beschäftigungsrate dieser Zuwanderergruppe wächst damit nicht automatisch. Denn zugleich ist auch die Zahl der „Geflüchteten“ beständig gewachsen. Im Jahresdurchschnitt 2022 waren gerade einmal 489.354 Zuwanderer aus den Asyl-Top-8-Ländern sozialversicherungspflichtig und weitere 75.692 geringfügig beschäftigt. So lebten schon Ende 2021 mehr als 1,5 Millionen Menschen aus den Asyl-Top-3-Ländern Syrien, Afghanistan und Irak in Deutschland. Insgesamt mag es zwei Millionen „Geflüchtete“ aus den Top-8-Herkunftsstaaten in Deutschland geben, aber nur rund 500.000 davon scheinen zu arbeiten, obwohl junge Männer in dieser Gruppe notorisch überrepräsentiert sind. Ob es sich dabei um reguläre Stellen am ersten Arbeitsmarkt oder ABM im weiteren Sinne handelt, bleibt offen. Der Integrationseffekt lässt also zumindest sehr auf sich warten, wie auch die diversen Halloween-, Silvester- und anderen Party-Randalen zeigen. Der Premierminister des Iraks schloss aus diesem Anlass nun erzwungenen Abschiebungen aus.

Fußnote: Insgesamt lebten im Jahr 2021 etwa 2,7 Millionen zugewanderte Ausländer aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie 666.000 Zuwanderer aus Afrika in Privathaushalten in Deutschland, also insgesamt 3,4 Millionen Menschen aus Ländern, die vor allem für die sogenannte „Fluchtmigration“ in Frage kommen (laut Destatis). Man darf annehmen, dass auch diese Gesamtgruppe nicht viel besser in den Arbeitsmarkt integriert ist. Diese 3,4 Millionen mehr oder minder Armutsmigranten machen, beiläufig gesagt, relativ genau die Hälfte aller Nicht-EU-Ausländer aus (6,8 Millionen Ende 2021 laut Destatis).

Deutschland ist eines der attraktivsten Länder für die illegale Armutsmigration

Es bleibt festzuhalten: Die zentrifugale Mobilität von Deutschen wie Ausländern aus Deutschland heraus steigt, logisch betrachtet, mit dem Bildungsgrad. Das ist ein Grundsatz von legalen Migrationsbewegungen. Dagegen gehen die weniger qualifizierten illegalen „Armutsflüchtlinge“ dorthin, wo sie erstens ausnahmslos aufgenommen und zweitens kompromisslos gut versorgt werden.

Deutschland ist mit Sicherheit fähig, am Austausch gebildeter Migranten mit anderen Hochbildungsländern teilzunehmen. Das Einengende der deutschen Sprache wird an dieser Stelle ja gerade ziemlich ausgetrieben. Die Bundesrepublik ist aber daneben, und das ist kein Geheimnis, eines der attraktivsten Länder weltweit für die illegale Armutsmigration. Natürlich sind da noch ein paar Länder, die uns bei der illegalen Migration pro Kopf Konkurrenz machen, aber in Europa gibt es kein Land derselben Größenordnung, das an diesem Wettbewerb teilnimmt. Frankreich noch am ehesten, aber man hält die Tore dort schon deutlich geschlossener als hierzulande. In Schweden, das an der Spitze dieser Statistik steht, beginnt gerade die große Umkehr.

Aus all dem folgt, dass die knapp 400.000 nichtdeutschen Nettozuwanderer, die wir 2021 hinzugewannen, ebenso wie die 248.000 von 2020 und die 384.000 von 2019 eher nicht zu den Hochgebildeten gehören dürften. Vor allem wird diese Netto-Zuwanderung seit 2005 von einer Netto-Auswanderung der Deutschen geschmälert, die namentlich in den letzten Jahren seit 2015 bei durchschnittlich fast 60.000 Menschen pro Jahr lag und ausgerechnet im Post-Krisenjahr 2016 einen Spitzenverlustwert von 135.000 abgewanderten Deutschen (netto) erreichte. Die irregulären Grenzübertritte 2021 zeigen, durch wen diese Auswanderer langfristig ersetzt werden.

[Irreguläre 2021, Frontex ; Quelle: https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/promoting-our-european-way-life/statistics-migration-europe_de ]

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