Tichys Einblick
Nach der Mutlos-Rede

Deutschland ist so hilflos wie sein Präsident Frank-Walter Steinmeier

Die Rede von Präsident Frank-Walter Steinmeier war ein Armutszeugnis. Aber weniger für ihn, als für das Land, dessen Oberhaupt er ist. So bitter das ist: Die Deutschen haben den Präsidenten, den sie verdienen.

IMAGO/photothek

„Wir schaffen das moderne Deutschland.“ Mit diesem Slogan erobert Willy Brandt 1969 das Kanzleramt. In seiner Antrittsrede spricht er dann die historischen Worte: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Schaffen. Modern. Mehr. Wagen. Der Machtwechsel im Kanzleramt vollzog sich vor dem Hintergrund einer optimistischen Gesellschaft, der neue Kanzler brachte sie mit mutigen Worten zum Ausdruck. So war es auch 1998. Gerd Schröder (SPD) hatte den Wählern versprochen: „Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser.“ In beiden desaströsen Wahlkämpfen hatte die CDU auf „Sicherheit“ als Schlüsselwort gesetzt. Doch 1969 und 1998 waren optimistischere Jahre, Bremser wählten die Deutschen ab.

Dabei waren 1969 und 1998 nicht einmal die wirtschaftlich erfolgreichsten Jahre der Bundesrepublik. Doch die Menschen glaubten an die Zukunft. Beim ersten mal landeten sie gerade auf dem Mond, beim zweiten mal hatten sie (scheinbar) eine weltweite Friedensordnung geschaffen, in der Krieg und Diktatur bald überwunden sein würden. Es waren Zeiten, in denen optimistische SPD-Kandidaten die CDU aus dem Kanzleramt verjagen konnten.

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Olaf Scholz kam anders ins Kanzleramt. Sein Wahlkampf basierte auf dem Begriff „Respekt“. Es hätte auch „nett“ oder „sympathisch“ sein können. Aber „Respekt“ war gleichzeitig so herrlich hochtrabend wie nichtssagend. Und genau darum wählte es Scholz. Der Vizekanzler trat als der eigentliche Erbe von Angela Merkel (CDU) an, nicht ihr Parteifreund Armin Laschet. Also kopierte der SPD-Kandidat auch den Kommunikationsstil der Kanzlerin, die ihren Sessel drei mal mit der Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ verteidigt hatte: Die Anhänger der politischen Mitbewerber sollten von der Wahlurne ferngehalten werden. Zum einen, indem Merkel ihre Themen abräumte, also ihre Forderungen umsetzte. Zum anderen dadurch, dass sie keine Aufgabe anging, die hätte polarisieren können. Mit dem Ergebnis, dass Merkel dreimal wiedergewählt wurde, aber auch den gewaltigsten Reformstau in der Geschichte der Bundesrepublik hinterlassen hat.

Laschet verlor die Wahl, obwohl er der Kandidat war, der diesen Reformstau angehen wollte. Zumindest zaghaft: „Gemeinsam für ein modernes Deutschland“, lautete sein Slogan. Wobei: Er verlor nicht trotzdem – sondern deswegen. „Modern“ fürchteten die Deutschen 2021 und sie fürchten es gut ein Jahr später immer noch. Merkel haben sie einmal gewählt und dreimal wiedergewählt, weil sie den Deutschen das Versprechen abgab, dass sich möglichst nichts ändere. Alles soll möglich so bleiben, wie es ist. Asymmetrische Demobilisierung.

Gehandelt hat Merkel nur, wenn sie sich einer breiten Mehrheit sicher fühlte. Aber dann handelte sie abrupt und ohne Rücksicht auf die Folgen ihrer Politik: Bei Bankenrettung, Ausstieg aus der Atomkraft, faktischem Ende der Wehrpflicht oder Euro-Rettung ging das noch gut – für sie. Merkels Stern begann jedoch zu sinken, als nicht zu handeln erstmals zu negativen Ergebnissen führte: mit der Flüchtlingskrise 2015. Auch weil Merkel auf ihren eigenen PR-Apparat reinfiel. Der befeuerte die „Willkommenskultur“, was anfangs zu entsprechend positiven Meinungsumfragen führte, an denen sich die Kanzlerin orientierte. Doch schon bald kippte die Stimmung, aber Merkel war auf ihren Kurs festgelegt. Fortan ordnete sie alles dem egoistischen Ziel unter, das Gesicht in der Frage nicht zu verlieren.

Rede in den Wind
Bundespräsident Steinmeier redet und kaum jemand hört noch zu
Nun ist Olaf Scholz Kanzler. Und Frank-Walter Steinmeier Bundespräsident, dessen Präsidentschaft sie seiner Partei der SPD 2017 als Lockvogel anbot – und so sicherstellte, dass die Sozialdemokraten sie in ihrem letzten Wahlkampf nicht zu hart attackieren konnten. Er ist somit ein Produkt der überlangen großen Koalition, die zwölf von 16 Jahre regierte. Steinmeier. Ein politischer Apparatschik. Einer, der sich nur einmal als Kanzlerkandidat zur Wahl stellte. 2009. Was zum historisch größten Erdrutsch in der Geschichte der bundesrepublikanischen SPD führte. Einer der danach hätte gehen müssen, aber der so fest ins Parteienkartell gehört, dass sogar eine Niederlage noch zur Beförderung führt.

Die Bundespräsidenten verkörperten immer ihre Zeit: Theodor Heuss (FDP)vertrat das Deutschland, das sich selbst (zu seinem Wohl) in die Hand von Konrad Adenauer legte. Gustav Heinemann (SPD) war der Präsident, der für das modernere und friedlichere Deutschland der 70er Jahre stand. Richard von Weizsäcker (CDU) war der Präsident, mit dem Deutschland endlich lernte, mit seiner Vergangenheit umzugehen. Oder Roman Herzog (CDU), der die berühmte Ruckrede im Berliner Adlon hielt und so parteiübergreifend die Erkenntnis vorbereitete, dass sich in Deutschland etwas änderen müsse. Weil sich über Deutschland in den letzten Jahren der Kanzlerschaft Helmut Kohls (CDU) Mehltau gelegt hatte. Steinmeier steht für die Paralyse Deutschlands. Der Apparatschik verkörpert in sich die Mutlosigkeit, die Sprachlosigkeit und die Ideenlosigkeit eines Landes, das sich in sein Schicksal ergibt, „raue Jahre“ vor sich zu haben – und sich nicht dagegen wappnet, das zu verhindern. Letztlich hilflos ist.

„Die Welt wartet nicht auf Deutschland“, lautete ein Schlüsselsatz in Herzogs Ruck-Rede. Die Welt entwickele sich weiter. Deutschland müsse aufholen, aber dafür sei es noch nicht zu spät. 1997. Die unter Schröder folgenden Reformen waren und sind umstritten. Doch Deutschland stand danach besser als andere westliche Länder da, vor der Bankenkrise – und es ging stärker als andere aus dieser Krise hervor. Den Ruck, den Herzog einforderte, hat es tatsächlich gegeben. Doch sein Effekt ist längst verflogen.

Schon wieder wartet die Welt nicht auf Deutschland. Doch dieses mal ist Deutschland auf dem Weg. Allerdings nicht um aufzuholen. Deutschland bewegt sich in die andere Richtung. Zum Beispiel in der Dokumentation der Arbeitszeit. Arbeitsverhältnisse verändern sich. Weltweit. Firmen binden Kräfte mit besonderem Wissen fest an sich – weil sie wissen, dass sie diese nicht so ohne weiteres finden, wenn sie sie brauchen. Deswegen sitzen diese Kräfte mal zuhause und arbeiten weniger als fünf Stunden die Woche, weil ihr Wissen gerade nicht gefragt ist. Doch wenn sich das ändert, sind sie dann auch bereit, 50 Stunden und deutlich mehr die Woche zu arbeiten. Samstage und Sonntage inklusive. Die Arbeitnehmer freuen sich über die höhere Flexibilität. Manche sind sich ihrer Fähigkeiten so sicher, dass sie sich selbst auslagern, um sich als Freiberufler anzubieten – weil sie die so gewonnenen Freiheiten schätzen.

Neue Wortwahl des Bundespräsidenten
Die Lage muss katastrophal sein – der Bundespräsident entdeckt „die Deutschen“ wieder
Das neue Gesetz zur Erfassung der Arbeitszeit bedroht diese Arbeitsverhältnisse: Jedes Unternehmen muss genau erfassen, welcher Mitarbeiter wann was für den Betrieb getan hat. Und während sich die Welt digitalisiert, möchte der deutsche Staat die Daten ausgedruckt haben. Per Hand unterschrieben. Damit dann eine Sachbearbeiterin wieder alles eintippt. Doch so schlimm der bürokratische Aufwand ist, er ist nicht das Schlimmste daran. Denn das Gesetz erdrückt die Flexibilität. Zu viel Arbeit am Wochenende, zu viele Überstunden darf der Mitarbeiter an einem Tag nicht machen. Am besten sitzt der Arbeitnehmer auch vorm Computer, wenn nichts zu tun ist oder verlässt ihn, egal wie viel zu tun ist. 7 Uhr Stechkarte rein, 16 Uhr Stechkarte raus, dazwischen Mittagspause. Die Welt wartet nicht und Deutschland marschiert zurück in die 50er Jahre.

Will der Arbeitnehmer flexibel bleiben und erklärt sich zum Freiberufler, dann erklärt ihm der Staat schon am ersten Tag den Papierkrieg. Immerhin muss er sich dann nicht mehr darum sorgen, er könne beschäftigungslos vor dem Computer sitzen. Denn in Deutschland ist auch ein Freiberufler ohne einen Cent Umsatz in Vollzeit damit beschäftigt, Umsatzsteuervorerklärungen auszufüllen, mit der Kammer zu kommunizieren, in der er zwangsweise Mitglied ist oder Angaben über die Toiletten in sein Büro zu machen, in dem er alleine sitzt. Zur Krönung erklärt er seine Steuer über das Programm Elster. Danach druckt er sie dann zusätzlich aus und verschickt sie mit der Post. Die Welt 2022 ist digital, Deutschland druckt sie aus, locht sie und heftet sie ab.

Im Privaten rutscht die Welt zusammen. Menschen aus den USA, England und Indien tauschen sich jeden Sonntag auf Twitter über die aktuellen Football-Spiele aus. Zum Beispiel. Doch Deutschland fürchtet sich vor allem Neuen und verlässt Twitter, weil das mit Elon Musk einen neuen Besitzer hat. Die Leute wechseln zu Mastodon. Dort meldet sich der Berliner im Berliner Mastodon an. Will er mit seinem Freund aus Wiesbaden kommunizieren, muss er sich im hessischen Mastodon anmelden und dorthin wechseln. Entdeckt er in der Liste des Wiesbadener Freundes einen gemeinsamen Bekannten aus Köln, muss er sich für das Kölner Mastodon anmelden und so weiter. Die Welt wird digital zu einem großen Platz, Deutschland entdeckt die Kleinstaaterei wieder. DIe Welt wartet nicht und Deutschland marschiert ins 19. Jahrhundert zurück. Ins frühe 19. Jahrhundert.

Beispiele aus dem Kleinen. Doch ohne sie lassen sich die großen Veränderungen nicht verstehen, die geistige Haltung dahinter: Kneipen schließen. Die Bäcker warnen, bald nicht mehr weitermachen zu können. Die Industrie drosselt ihre Produktion. Und mit der BASF hat der erste börsennotierte Konzern angekündigt, auf Dauer ganz abwandern zu wollen. Die Inflation, vor allem die explodierenden Energiepreise und auch die fehlende Energiesicherheit sind offensichtliche Gründe für diese Absatzbewegungen. Gründe, die wahrgenommen werden. Doch die Bürokratie ist der andere Grund, über den die Öffentlichkeit aber gerne weggeht. Die BASF hat ihn ausdrücklich genannt. Auch Ford, als sich der Konzern gegen Saarlouis und für Valencia als Standort ausgesprochen hat.

Vielen Wirten ist nicht nur finanziell die Puste ausgegangen. Sie wurden auch zermürbt von einem Staat, der von ihnen verlangte, Listen zu führen, wann welcher Gast da war. Sich wie ein Zöllner vom eigentlich umworbenen Gast die Impfpapiere zeigen zu lassen. Millionen dieser Zettel sind letztlich im Müll gelandet. Die Verwaltung hatte gar nicht die Leute, das alles zu lesen. Gegen den Virus geholfen haben diese Listen entsprechend nicht. Sie waren da, um zu zeigen, dass der Staat etwas unternimmt. Die Arbeit für diese Symbolpolitik auf die Wirte abschieben zu können, kam dem Staat da gerade recht.

Genauso verfährt der Staat mit der Grundsteuer. Er erhebt dafür Daten, die er schon längst hat. Jeder digitale ABC-Schüler könnte sie zusammenfassen. Doch der deutsche Staat ist ein digitaler Analphabet. Zum Lernen nicht bereit. Also lässt er die Bürger die Daten noch mal erfassen und einreichen. In einem maximal komplizierten Verfahren. Kommunen zeigen sich damit überfordert, doch von 90 Jahren alten Privatleuten verlangt es der Staat. Scheitern sie, erhebt der Staat Bußgelder – doppelt gewonnen.

Wehren sich die Bürger gegen diesen übergriffigen Staat? Im Gegenteil. Je mehr der versagt, desto mehr schreien sie nach ihm. Die Deutschen sind der Verantwortung müde geworden. Die Zeit der Pandemie hat ihnen daher gefallen: Egal ob ich arbeite oder nicht, der Staat erhält mir meinen Lebensstandard? Meine eigene Regierung wirbt damit, dass ich zum „Helden“ werde, indem ich auf dem Sofa liegenbleibe? Da geh ich doch besser gar nicht mehr arbeiten. Mit dem deutlich erhöhten Bürgergeld ist das ohnehin bald attraktiver, als in einem ebenso schweren wie schlecht bezahlten Job zu buckeln. Staat kümmer dich weiter um mich! So denken immer mehr in diesem Land. Die Welt kämpft um ihren Reichtum, Deutschland verlangt Wohlstand frei Haus.

Rede des Bundespräsidenten
Mein Gott, (Frank) Walter! Wieder einmal eine Rede vergeigt
Der Staat soll sich um alles kümmern. Ich mag an Silvester kein Feuerwerk zünden? Dann soll der Staat es aber bitteschön allen verbieten. Das wünscht sich eine Mehrheit, wie eine Umfrage ergab, die in der Welt erschien. Was auch immer ich nicht mag, der Staat soll es verbieten. Egal wie überfordert er schon damit ist, gängiges Recht durchzusetzen. Etwa bei den Nötigungen und Sachbeschädigungen der Klima-Extremisten. Die können agieren, als gäbe es in diesem Land kein Gesetz mehr. Doch nicht nur der Staat ist wehrlos. Seine Bürger sind nicht mehr daran interessiert, sich für das Gesetz einzusetzen – also für die Ordnung, die sie sich als Souverän selbst gegeben haben: Jugendliche verschütten Milch im Supermarkt, zerstören unwiderbringbare Kunstwerke für immer. Und die Bürger stehen daneben, glotzen apathisch und lassen es geschehen. Als würden sie einem Film zusehen.

Deutschland ist ein Land der Schwachen geworden. Man selbst fährt guten Gewissens E-Auto, egal unter welchen Umständen es zustande kommt. Auch das Möbelhaus hat so eine schöne Kampagne für Klima und Diversität, da kann man guten Gewissens einkaufen. Ja, mit den Arbeitsbedingungen in den Hersteller-Ländern, das hat man mal gehört, aber die Kampagne für Klima und Diversität und außerdem haben wir ja auch gespendet – das muss dann irgendwann mal reichen. Der Bürger redet sich sein Verhalten schön. Vor allem der Bürger, der sich selbst als sozial engagiert definiert. Die Welt wartet nicht und Deutschland hofft, dass sie nicht auf einen selbst zurückfällt.

Talfahrt oder Absturz?
Eine Industrienation zwischen Realitätsverweigerung und Staatsversagen
Deutschland hat die Arbeit ausgelagert. Nicht nur wegen den Energiekosten. Oder der Verwaltung. Auch weil die Deutschen vieles nicht mehr machen wollen – und können. Weil sie selbst überempfindlich geworden sind. Weil eine Mehrheit angibt, dass schon die Zeitumstellung sie krank mache. Kinder mögen vielleicht in Gold-Minen arbeiten, Männer in schlecht geschützten Bergwerken und Frauen in Manufakturen zugrunde gehen. Weltweit. Doch das eigentlich harte Schicksal ist es, wenn es heute 16 Uhr ist, da es doch gestern zu der Zeit bereits 17 Uhr war. Schon daran zerbrechen manche Deutsche derzeit.

Es stimmt. Die Politik bietet derzeit keine Lösungen an. Oder untaugliche. Die Steinmeier-Rede war nur Ausdruck dessen, was jeder jeden Tag verfolgen kann. Etwa in der Energiepolitik: Wir verzichten auf alle Quellen außer auf Sonne und Wind. Und was, wenn keine Sonne scheint und kein Wind weht? Für den Fall bauen wir noch mehr Solaranlagen und Windräder. Da kann jeder BASF verstehen, wenn sich die Manager auf den Abschied vorbereiten. Die Welt wartet nicht und in Deutschland rettet sich, wer kann.

Aber die Politik ist das Symptom, nicht die Ursache. Die Deutschen sind so feige, so mut-, kraft- und ideenlos geworden, so hilflos, dass sie sich diese Regierung wählen, weil sie die schon kennen. Wie es weitergehen soll, wissen sie nicht mehr. Wenn dann der Bundespräsident kommt und sagt, es stehen „raue Zeiten“ bevor, nickt jeder nur, hört drüber hinweg, denkt sich: Wissen wir, kann man nix machen, soll sich der Staat drum kümmern. Am besten so, dass wir es verstehen. Und schon ist Kanzler Scholz da und sichert sich mit dem Wumms, der Bazooka und dem Doppelwumms seine nächste Wiederwahl. So bitter das ist: Deutschland hat den Kanzler und auch den Präsidenten, den es verdient.

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