Tichys Einblick
Fortschritt oder Ancien Regime?

Deutschland und Europa müssen ihren Wandel selbst bestimmen

Die Demokratie verteidigt sich, indem sie lebt, und sie lebt, wenn sie demokratisch ist, das heißt, wenn sich alle in einem fairen Wettstreit der Ideen und Konzepte einbringen können und die Mehrheit des Demos, des Volkes am Ende entscheidet.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Masamine Kawaguchi

Europa benötigt neue Eliten, vor allem politische Bewegungen, die die Interessen einer Mehrheit von Bürgern vertreten. Die Frage lautet, ob Europa neue Eliten und politische Bewegungen hervorzubringen vermag oder ob der gute, alte Kontinent weltpolitisch ausgespielt hat. Es geht um Besinnung und Erneuerung. Macron, Habeck, Mélenchon, Baerbock, von der Leyen, Tusk, wohl auch die Herren Günther und Wüst, Saskia Esken und Olaf Scholz auf alle Fälle gehören der Welt von gestern an.

Die Zumutung für die wirklich Liberalen und die Konservativen lautet: Avantgarde zu werden. Die Welt befindet sich in einem grundlegenden Wandel und Europa in einer Zeit der Wirren. Dieser Wandel ist objektiv, und Deutschland muss sich ihm stellen, wenn dieses Land den Wandel selbst bestimmen will und nicht verwandelt werden möchte.

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Wer sich mit der Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR beschäftigt, erlebt in diesen Tagen so manches Déjà-vu, vor allem, dass diejenigen, die am lautesten die Demokratie beschwören, sich als Verächter der Demokratie erweisen, dass sie in Verbotsphantasien schwelgen.

Nannten die Kommunisten ihre höchste Form der Demokratie noch Diktatur des Proletariats, lautet der zeitgemäße Name für Diktatur anscheinend wehrhafte Demokratie. Denn gegen wen soll sich die Demokratie wehren? Etwa gegen die, die einige als Feinde der Demokratie markieren, weil sie einen Verbrenner fahren wollen oder es ablehnen, sich zum Vegetarismus zwingen zu lassen oder die biologische Tatsache weiter vertreten, dass es biologisch nur zwei Geschlechter gibt? Heißt die wehrhafte Demokratie wehrhafte Demokratie, weil sie sich mit allen Mitteln gegen die Wirklichkeit wehrt? Wird Obskurantismus in der wehrhaften Demokratie Pflicht? Wehrhafte Demokratie ist eine Contradictio in Adjecto. Die Demokratie verteidigt sich, indem sie lebt, und sie lebt, wenn sie demokratisch ist, das heißt, wenn sich alle in einem fairen Wettstreit der Ideen und Konzepte einbringen können und die Mehrheit des Demos, des Volkes am Ende entscheidet.

Für Baerbock und Habeck, für Faeser und Scholz, für Paus und Schulze, für die Chefs des öffentlich finanzierten, grünen Rundfunks, für die Chefredaktionen eines weitgehend grünaffinen Medienkomplexes, für die teils staatlich finanzierte Mehrheit der Streamer, die man Mainstream nennt, geht es um die Verteidigung ihrer Herrschaft, um die Herrschaft des Brandmauerkomplexes, eines Establishments, dessen Fähigkeit einzig und allein darin besteht, skrupellos seine Posten und Pöstchen zu verteidigen, auch wenn es dafür das Recht biegen und hemmungslos die Leute nach dem alten römischen Grundsatz divide et impera gegeneinander aufbringen muss. Dass es dieses Establishment ist, das statt Lösungen nur Probleme hervorbringt, das Land spaltet, beweist die einfache Tatsache: Wer Mauern errichtet, spaltet, denn Mauern trennen.

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Der Brandmauerkomplex kennt sogar schon seine neuen Blockparteien. Und da sie alle auf einer weltanschaulich schmalen Landspitze links vom Fluss der Weltgeschichte biwakieren, und eben jene Brandmauer als Schutz vor der Flut der Wirklichkeit errichtet haben, nehmen sie die Welt nur noch durch deren Schießscharten wahr. Für das Land und für die Union wäre es essentiell, dass sie den Brandmauerkomplex verlässt, doch fürchte ich, dass ihr dazu die politische, die intellektuelle und die moralische Kraft fehlt. Sie paktiert mit dem politischen Gegner gegen eine immer größer werdende Zahl von Bürgern.

Spätestens seit dem Ausgang der französischen Parlamentswahlen und dem Wanken von Frankreichs politischem System, seit der Gründung der Fraktion Patrioten für Europa durch Viktor Orbán, den Ausfällen der deutschen Postmodernen und den fragwürdigen Aktivitäten eines Inlandsgeheimdienstes, der sich immer stärker zu einer Mischung aus politischer Polizei und Propagandaabteilung entwickelt, und einer Justiz, die wie in Halle Zweifel an ihrer Unabhängigkeit erregt, wird deutlich, dass ein Establishment, ein Ancien Regime den Kampf ums eigene Überleben eröffnet hat – und das sogar, bevor es angegriffen wurde. Aber das stimmt natürlich nicht, dieses Establishment wird ja tagtäglich mehr und mehr angegriffen, nicht von einer Opposition, sondern von der Wirklichkeit, weil sich von Tag zu Tag stärker die Realität, die Resultate seiner Herrschaft gegen dieses Establishment selbst wenden. Es sind immer mehr Bürger, die sehr genau wahrnehmen, dass sie täglich weniger Rechte, weniger Freiheit haben, dass der Wohlstand sinkt und die Wertschöpfung vernichtet wird, dass der Westen verliert, in der Ukraine, auf der Welt.

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Doch das sind nur die subjektiven Auswirkungen eines objektiven Vorgangs, denn der Westen, denn Europa und die USA sind in eine schwere Krise geraten. In dem Augenblick, in dem neue Kräfte in der Welt Machtansprüche stellen, aufsteigen, verliert Europa Durchsetzungsvermögen, täuscht es sich aus einer geradezu unbegreiflichen Arroganz und Borniertheit über die eigenen Möglichkeiten, in der Welt etwas zu bewirken, sträflich hinweg. Die Lehre, die Putin dem Westen erteilt hatte, wurde bis heute nicht begriffen – am wenigsten in Deutschland, wo man immer noch glaubt, dass es irgendjemanden in der Welt interessiert, ob Annalena Baerbock oder Robert Habeck auf den Tisch hauen, was nicht einmal den Tisch beeindruckt, oder Olaf Scholz flüsternd in die Welt hinein wummst und doppelwummst, ob er allein geht oder nicht. Oder ob Deutschland dekarbonisiert, deindustrialisiert, klimaneutral, wirtschaftsneutral oder wissenschaftsneutral wird. Die Welt dreht sich weiter, nur in Deutschland bekommt man davon nicht viel mit – an Deutschland vorbei. Unsere Wirtschaftspartner beginnen ihre Wirtschaften von der deutschen zu entflechten – und selbst deutsche Unternehmen suchen zunehmend ihr Heil und ihre Wertschöpfung im Ausland, gern auch in China.

Der Wohlstand der westlichen Welt, das sozialdemokratische Zeitalter hat Europa träge gemacht. Geistige und politische Strömungen wie der Postmodernismus, der aus dem Marxismus, dem Poststrukturalismus und dem Dekonstruktivismus hervorgegangen ist und nach 1968 wie eine fortschreitende Autoimmunerkrankung Kultur, Medien, Wissenschaften und schließlich das politische Establishment ergriffen hat, das besonders seit den 2000er Jahren sich heftig nach links bewegte, erlangten die Herrschaft. Nach dem Platzen der Subprime-Blase, mit der Weltfinanzkrise im Jahr 2009 verbündete sich das Finanzkapital mit den sogenannten emanzipatorischen Parteien und Bewegungen, mit den Grünen, den LGBTQ sowie postkolonialen und genderistischen Zirkeln.

Während die Industrie, vor allem die Finanzindustrie und die Tech- und Unterhaltungskonzerne von den sogenannten emanzipatorischen Parteien und Bewegungen symbolisches Kapital erhielten, verfügen spätestens seit 2010 die sogenannten emanzipatorischen Parteien und Bewegungen über märchenhafte Finanzmittel, auch von Stiftungen, die gegen die Demokratie und die Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger mit Milliardensummen wie die Open Society von Georges Soros operieren. Für die Finanzindustrie wirkt sich zudem die Große Transformation als die Große Umverteilung von den Bürgern zu ihnen aus. Sie profitieren von hohen Energiepreisen, von der Förderung der erneuerbaren Energien. Grün ist die neue Blase, ist die bisher einträglichste Blase in der Geschichte der westlichen Welt. Wenn sie platzt – und sie wird platzen –, stehen die Bürger im Bankrott, während BlackRock und Co das größte Geschäft gemacht haben werden, das überhaupt auch nur erträumbar ist. Deshalb haben sich Prinz John, der Sheriff von Nottingham und Robin Hood zusammengeschlossen im großen Fischzug gegen die Bürger. Und auch im Ukraine-Krieg wird verdient, ein Aspekt, der in einer hochemotional aufgeladenen Diskussion selten Erwähnung findet.

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Europa ist schwach. Die Russen beeindruckt nur Stärke. Putin hat die Ukraine angegriffen, als die USA und als Europa sich als schwach erwiesen. Die heillose Flucht aus Afghanistan dürfte die Planung für den Überfall auf die Ukraine beschleunigt haben. In den USA hatte Joe Biden Donald Trump abgelöst, die Präsidentschaftswahlen haben das Land in ungekannter Weise gespalten zurückgelassen. In Europa fiel Deutschland mit der Regierungsübernahme der Ampel als ernstzunehmender geopolitischer Akteur aus. Zumal die Linken, die sich Linksliberal-Nennenden, die Woken, die Postmodernen, die Grünen über die Ideologisierung nach 1968 Deutschland jegliche Fähigkeit, geopolitisch zu denken, ausgetrieben haben. Baerbocks feministische oder wertegeleitete Außenpolitik ruft in der Welt nur Hohn, Spott und Mitleid hervor. Eine nüchterne Analyse zeigt, dass Europa, insbesondere Deutschland im Ukrainekrieg täglich an Einflussmöglichkeiten in der Welt verliert und nur die Konkurrenten auf der weltpolitischen Bühne stärkt. Putin steht leider nicht isoliert da, wie deutsche Medien gern den Eindruck erwecken.

Zur Probe aufs Exempel: Wann haben deutsche Medien eigentlich einmal über die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ, Shanghai Cooperation Organisation) berichtet? Der Organisation, in der sich Staaten in Wirtschafts-, Sicherheits- und Handelsfragen abstimmen, mit Sitz in Peking, gehören Belarus, China, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan an. Das Bündnis hat auch eine nicht zu vernachlässigende verteidigungspolitische Komponente, erhebt den Anspruch, 40 Prozent der Weltbevölkerung zu vertreten, und besitzt seit 2004 einen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen. Aber das ist noch nicht alles. Offizielle Dialogpartner des Bündnisses sind Staaten wie Armenien, Aserbaidschan, Kambodscha, Nepal, Sri Lanka, die Türkei, Ägypten, Saudi-Arabien, Katar, Bahrain, Malediven, Myanmar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait. Von den 14 Dialogpartnern kamen erst nach 2022, nach Russlands Überfall auf die Ukraine, der überwiegende Teil, nämlich acht Staaten hinzu. Übrigens auch Katar, wo Robert Habeck 2022 den wirkungslosen Bückling vollführte. Der Kreis der BRICS-Staaten hat sich erweitert, der Organisation gehören nun Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, Iran, Ägypten, Äthiopien und die Vereinigten Arabischen Emirate an. Ägypten, Äthiopien, der Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate traten dem Block übrigens am 1. Januar 2024, auch erst nach Russlands Angriff auf die Ukraine, bei.

Im Mai erreichten laut Economist die Beziehungen zwischen den Ländern der Sahel-Zone und dem Westen „einen Tiefpunkt“, „als Niger den USA befahl, ihre Truppen bis September abzuziehen – nachdem man bereits eine französische Anti-Terror-Mission hinausgeworfen hatte – und russische Militärberater willkommen hieß“. Man muss dazu wissen, dass Niger ein Viertel des europäischen Urans liefert. Im Juni hat Niger den Franzosen die Abbaulizenz von Uran entzogen und sie stattdessen den Russen übergeben. Der Economist fasst zusammen: „Nigers Abkehr vom Westen erfolgt inmitten dessen, was viele im französischsprachigen Westafrika als zweite ‚Unabhängigkeit‘ bezeichnen. Sie wird von einer neuen Generation von Nationalisten vorangetrieben, die in den ehemaligen französischen Kolonien von Senegal bis Tschad und in den drei Kernländern der Sahelzone Burkina Faso, Mali und Niger die Macht übernommen haben.“ Niger, Mali und Burkina Faso haben überdies ein Abkommen über militärische Zusammenarbeit mit Russland abgeschlossen. China und der Iran sind ebenfalls in der Region unterwegs.

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Mit Blick auf die Veränderungen in der Welt, aber auch in Wissenschaft, Technik, Technologie und Wirtschaft wird es immer erforderlicher, die über Jahrzehnte gewachsene Suprematie linker und postmoderner Ideen und Vertreter in den Institutionen der Bildung, der Kultur, der Medien und der Politik zu brechen. Europa, Deutschland zumal, muss sich neu erfinden. Wir benötigen einen neuen Aufbruch, und zwar in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Technologie. War in den letzten dreißig Jahren die Globalisierung, der Handel der Treiber des Wohlstandes, ist diese Entwicklung an ihr Ende gekommen. Wohlstand und Wertschöpfung werden in den nächsten Jahrzehnten von Technologie getrieben. Dazu bedarf es statt Ideologen Technologen, Techniker, Erfinder, Wissenschaftler statt Gender-Schlafnasen, leistungsverliebte Leute, die nicht nach der Work-Life-Balance, sondern nach der Work-Success-Balance fragen. Deutschland braucht Techniker und Erfinder und keine Diversity- oder Antidiskriminierungsbeauftragte.

Deutschland und Europa stehen vor grundsätzlichen Auseinandersetzungen. Die eigentliche Frage lautet: Siegt die Reaktion, die Linke und die Grünen, oder gewinnt der Fortschritt? Der setzt voraus, dass man die Wirklichkeit der Welt des 21. Jahrhunderts analysiert und davon ausgehend ein rationales Konzept entwickelt, dessen Einzelheiten man nicht in die Welt hinausposaunen sollte, sondern das man stattdessen nur klug und konsequent zu verwirklichen hat – und das von den Interessen der Nationen in Europa und für Deutschland von deutschen Interessen ausgeht.

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