Tichys Einblick
Am Vorabend des neuen Krisenjahrzehnts

Gestern standen wir noch am Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter

In Deutschland entwickelt sich eine allgemeine Kultur des Misstrauens gegenüber der Politik, wie sie in Ländern wie Italien und Frankreich schon seit langer Zeit gang und gäbe ist.

IMAGO / Ralph Peters

Auch wenn man wie der Schreiber dieser Zeilen eingefleischter Pessimist ist, ist man in diesen Tagen doch recht überrascht, wie ein Land, das nach dem Bekunden seiner politischen Klasse und der meisten Medien außer dem Klimawandel noch im vergangenen Jahr vermeintlich kaum ernsthafte Probleme hatte, plötzlich innerhalb von wenigen Monaten in eine wirkliche Existenzkrise geraten kann.

Wie ernst die Lage ist, merkt man daran, dass unsere ansonsten eher fröhliche Außenministerin plötzlich vor der Gefahr von „Volksaufständen“ warnt, falls Deutschland wirklich ganz ohne russisches Gas auskommen müsste. Sicher, man mag sich fragen, ob Deutschland wirklich das richtige Land für eine Art Gelbwestenbewegung wie in Frankreich ist; zu solchen Reaktionen neigen die Deutschen namentlich dann, wenn sie der Mittelschicht angehören, eher nicht. Dann gehen sie doch lieber leise unter.

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Andererseits stieß schon die Corona-Politik der letzten Jahre auf erstaunlich viel Widerstand. Man kann über diesen Widerstand denken, was man will – durchweg rational begründet war er nicht – aber er war ein Zeichen dafür, dass weite Teile der Bevölkerung einfach das Vertrauen in Politik und Staat verloren haben. Zu oft hat man ihnen vor allem während der Merkel-Jahre schöne Märchen erzählt, um sie ruhig zu stellen; irgendwann glauben die Menschen dann offizielle Verlautbarungen auch dann nicht mehr, wenn sie sich weniger weit von der Wahrheit entfernen als sonst gemeinhin üblich.

Es entwickelt sich eine allgemeine Kultur des Misstrauens gegenüber der Politik, wie sie in Ländern wie Italien und Frankreich schon seit langer Zeit gang und gebe ist. Dass auch in Deutschland in etwas anderer Form eine solche Misstrauenskultur heranwächst, zeichnet sich ab, denn so obrigkeitstreu viele Menschen auch sonst sind, wenn man plötzlich nicht mehr heizen kann oder das Heizen unbezahlbar teuer wird, und nur allzu deutlich ist, dass man das alles nicht nur einem Herrn Putin, sondern auch den gigantischen politischen Fehlern der letzten 10-15 Jahren verdankt, kann die Stimmung schon etwas ungemütlich werden.

Schwierig könnte es dann vielleicht auch für die Grünen werden, die in den letzten 10 bis 12 Jahren politische Diskussionen in Deutschland faktisch hegemonial bestimmt haben, da die CDU sich darauf konzentrierte, die letzten Reste eines eigenen programmatischen Profils wegzuschleifen und die SPD überwiegend damit beschäftigt war, ihren Niedergang zu organisieren. Mit dieser kulturellen Hegemonie der Grünen könnte es jetzt, wenn für viele normale Menschen massive Wohlstandsverluste unausweichlich werden, vielleicht doch vorbei sein, denn die Grünen sind eher eine Partei des linken Bürgertums, zum Teil auch derjenigen, die zu jung oder zu wirtschaftsfern sind, um über ökonomische Fragen ernsthaft nachzudenken.

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Sicher ist dieser Niedergang der Grünen freilich nicht, Politiker wie Habeck oder Baerbock können ja selektiv durchaus pragmatisch agieren, sind also anpassungsfähig, zum anderen wird man versuchen, unter Einsatz von Steuergeldern durch die Stärkung von ideologisch kompatiblen NGOs und politischen Vorfeldorganisationen aller Art die öffentliche Meinung entsprechend zu lenken. Wer sich dem widersetzt, etwa in kulturellen Fragen, könnte bald auf eine Liste derjenigen kommen, die sich nicht-strafbarer falscher Meinungsäußerungen „schuldig gemacht“ haben.

Mit entsprechenden Problemen im beruflichen Umfeld muss man dann natürlich rechnen; viele wird man so einschüchtern können. In NRW sind unter der schwarz-grünen Regierung Meldestellen für inkorrekte und unerwünschte politische oder sogar eher private Äußerungen bereits geplant, worin man – je nach Ausgestaltung in der Praxis – durchaus einen Angriff auf die Meinungsfreiheit sehen kann, auch wenn angeblich die auf diese Weise unter Mitwirkung von sicher sehr behutsam agierenden Aktivisten gesammelten Daten nicht gegen einzelne „Missetäter“ und „Falschdenker“ eingesetzt werden sollen, jedenfalls nicht fürs Erste.

Es ist vorstellbar, dass die Regierung, je größer die ökonomische Krise wird, umso stärker versuchen wird, Kritik an politischen Fehlern einzudämmen, etwa indem sie als rechtsradikal gebrandmarkt wird; erste Anzeichen dafür gibt es ja schon, z. B. in Äußerungen der Bundesinnenministerin, der großartigen und allseits bewunderten Frau Faeser. Die Zukunft Deutschlands könnte also durch eine Verbindung aus zunehmender Verarmung weiter Bevölkerungskreise, dirigistischer Wirtschaftspolitik (um Energiewende und Energiekrise zu bewältigen) und immer stärkerer Einschränkung der Möglichkeit zu offener Kritik gekennzeichnet sein. Unwahrscheinlich ist ein solches Szenario nicht. Allenfalls die FDP, die sich ja in der Theorie noch als liberale Partei sieht, könnte sich einer solchen Entwicklung in der Regierung entgegenstellen, aber solange ihr Kurs durch einen Justizminister Buschmann wesentlich mitbestimmt wird, ist das nicht übermäßig wahrscheinlich.

Eine neue Euro- und EU-Krise

Die weitere Entwicklung bleibt in dieser Hinsicht unberechenbar. Aber die elementare Krise, vor der Deutschland heute steht, ist keineswegs ausschließlich eine selbstverschuldete, obwohl das für die Energiepolitik natürlich im Wesentlichen gilt. Mitten im Wirtschaftskrieg mit Russland meldet sich die Eurokrise zurück. Obwohl Italien noch jüngst im Rahmen des sogenannten Corona-Wiederaufbaufonds extrem großzügig unterstützt wurde, gerät das Land durch die wieder ansteigenden (nominalen) Zinsen und durch die Energiekrise, die Italien fast so stark trifft wie Deutschland, fiskalisch immer mehr in eine Schieflage, oder zumindest schwindet das Vertrauen der Finanzmärkte in die Tragfähigkeit der italienischen Schulden.

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Die relativ guten Jahren zwischen 2012 und 2020 wurden kaum genutzt, um notwendige Strukturreformen durchzuführen. Wozu auch, die EZB hatte sich ja unter Draghis Regiment darauf festgelegt, die Zinsen für Staatsanleihen um fast jeden Preis nach unten zu drücken, so dass auch eine wachsende Verschuldung kein Problem zu sein schien. Als derselbe Draghi dann vor rund anderthalb Jahren italienischer Ministerpräsident wurde, war er freilich mit dem Erbe seiner eigenen Zeit als Präsident der EZB konfrontiert. Die bedingungslose Unterstützung für Italien – Portugal und Spanien hatten ja durchaus eine Reformphase erlebt – hat mit dazu beigetragen, die in Italien ohnehin starke Ablehnung von schmerzhaften Eingriffen in bestehende Privilegien aller Art noch einmal deutlich zu verfestigen.

Warum sollte man finanzielle Einschnitte hinnehmen oder Statusvorrechte aufgeben, wenn man so oder so mit einem Bailout durch die EZB rechnen kann? Der durchaus reformwillige Politiker Draghi wurde somit am Ende zum Opfer des EZB-Präsidenten Draghi, als die Parteien, die bislang seine Regierung gestützt hatten, ihm das Vertrauen entzogen.

Seine Politik an der Spitze der EZB hat die Zentralbank freilich in eine Sackgasse geführt; sie kann es sich jetzt eigentlich gar nicht mehr leisten, aus ihrer bisherigen Politik auszusteigen und wird Italien weiter stützen müssen. Wenn die EZB sich freilich darauf festlegt, im Bedarfsfall unbegrenzt italienische Anleihen zu kaufen, um die Zinsen zu senken, werden andere Länder, deren Lage einstweilen noch günstiger ist, wie Spanien und Portugal, demnächst ähnliche Interventionen fordern, um ihre Zinszahlungen auch zu begrenzen.

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Warum auch nicht? Die bislang eher implizite monetäre Staatsfinanzierung durch die EZB wird damit zu einem ganz offiziellen Instrument ihrer Politik werden, aber eben nur selektiv, denn deutsche oder niederländische Anleihen wird man eben nicht mehr kaufen; das wurde ja bereits angekündigt. Das Ziel ist es, die Zinssätze in der Eurozone für die Anleihen der unterschiedlichen Länder möglichst anzugleichen. Es geht im Grund genommen darum, auf synthetische Weise und durch die Hintertür Eurobonds zu schaffen mit dem gleichen Zinssatz für alle staatlichen Schuldner im Währungssystem des Euro.

Die Deutschen stehen damit erneut als die Deppen da, denn ihre relativ niedrige Staatsverschuldung nutzt ihnen wenig; sie zahlen dann dennoch genau so hohe Zinsen wie Italien, dafür wird die EZB ja sorgen. Sie wird auch die Einnahmen aus den Schulden der Länder, deren Bonds sie kauft, an die Finanzministerien zurücküberweisen und zwar u. U. (das lässt sich vermuten) nicht mehr nach Kapitalschlüssel (das wäre noch günstig für Deutschland, das den größten Anteil am Kapital der EZB hält) sondern proportional zum Anteil der Anleihen, die sie besitzt, so dass sichergestellt wäre, dass z. B. Italien für Anleihen im Besitz der EZB faktisch gar keine Zinsen mehr zahlen muss, was den italienischen Staatshaushalt natürlich entlasten würde.

Eine solche Politik der EZB wird die italienischen Politiker freilich in ihrer Neigung zur ewigen Klientel- und Gefälligkeitspolitik nur bestärken. Eine entsprechende Rentenerhöhung hat Berlusconi, dessen Partei vermutlich nach den Neuwahlen mit in der Regierung sitzen wird, schon angekündigt. Italien mag „too big to fail“ sein, aber es ist eben vermutlich auch zu groß, um es auf Dauer durch solche Manipulationen oder gar über direkte Transferzahlungen über Wasser zu halten. Irgendwann wird der Punkt kommen, an dem die EZB einer besonders abenteuerlustigen italienischen Regierung die Unterstützung dann eben doch wird entziehen müssen, wenn sie den völligen Absturz des Euro an den Devisenmärkten vermeiden will. Auch ist Inflationsbekämpfung mit dieser Form monetärer Staatsfinanzierung natürlich inkompatibel. Nur welche demokratische Legitimation hätte die EZB für eine solche politische Intervention? Gar keine. Entsprechend massiv würde in Italien die Revolte gegen einen Entzug der versprochenen Unterstützung ausfallen.

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Die Eurozone und die EU insgesamt geraten damit schrittweise in eine immer noch tiefere Legitimationskrise, die selbst in Friedenszeiten ein Problem wäre. Heute aber gilt es, einen harten und verlustreichen Wirtschaftskrieg gegen Russland durchzustehen, da kann man sich einen solchen Mangel an demokratischer Legitimation kaum leisten. Die scheinbare Einheit der EU wird dann rasch genug zerfallen. Das deutet sich übrigens auch schon an anderer Stelle an. Der von der EU-Kommission vorgeschlagene Energiesparplan wird von denjenigen Ländern, die nicht von russischem Gas abhängig sind, der Tendenz nach abgelehnt. Zur Unterstützung Deutschlands ist man weder in Spanien noch in Polen wirklich bereit. Ein Stück weit ist das verständlich, denn es war ja unsere Entscheidung, uns so komplett von Russland abhängig zu machen. Aus Warschau kamen schon vor vielen Jahren dagegen massive Warnungen, auf die nicht gehört wurde. Aber wenn Deutschland ohne russisches Gas mit einer schweren wirtschaftlichen Rezession konfrontiert ist – und das ist dann fast unvermeidlich – , wird hier die Begeisterung für die weitere Unterstützung der Ukraine eben vermutlich doch nachlassen und Kanzler Scholz könnte sich in seinem Kurs bestätigt fühlen, im Konflikt doch so etwas wie eine halbe Neutralität gegenüber Russland zu wahren, wie er das bisher ja auch immer wieder versucht hat.

Vor allem aber ist schwer absehbar, wie ein Deutschland im rasanten wirtschaftlichen Niedergang weiter den Rest der EU und eines Tages dann auch die Ukraine finanzieren soll. Sowohl Deutschland selbst wie auch die EU insgesamt haben sich durch die Politik der letzten 10-20 Jahre in eine Sackgasse manövriert, aus der es kaum noch einen Ausweg gibt. Die Fehlkonstruktion des Euro wird die EU in ihrer Konfrontation mit Russland genauso massiv schwächen, wie die verfehlte deutsche Energiepolitik der letzten 15-20 Jahre. Am Ende könnt es gut sein, dass Russland trotz aller Defizite und Probleme den Angriffskrieg gegen die Ukraine doch noch in einen halben Sieg verwandeln kann. Die Schuld dafür ist aber nicht nur bei deutschen Amtsträgern der Vergangenheit wie Schröder, Merkel und Steinmeier zu suchen, sondern auch bei jenen Politikern, allen voran aus Frankreich, die Europa gegen deutschen Widerstand ein währungspolitisches Korsett verpasst haben, das schlechterdings nicht krisentauglich ist und nur die Spannungen zwischen den einzelnen Ländern immer weiter eskalieren lässt, wie man jetzt erneut beobachten kann. A house divided can not stand, aber das war den Architekten des Euro wohl nicht bewusst.


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