Tichys Einblick
18. Januar 1871

Deutschland ist sprachlos: 150 Jahre Reichsgründung

Zur Gründung des Deutschen Reiches vor 150 Jahren fällt deutschen Politikern der Gegenwart nichts ein. Ein Beitrag zur historischen Unterkellerung.

Anton von Werners Gemälde zur Kaiserproklamation 1871 im Bismarck-Museum in Friedrichsruh

imago images / Joerg Boethling

In diesen Tagen jährt sich die Gründung des Deutschen Reiches vom 18. Januar 1871 zum 150. Mal. Für ein Land, in dem der historische Analphabetismus bereits im Geschichtsunterricht der Schulen gefördert wird, in dem die Begriffe „Volk“, „Nation“, ja gar „deutsch“ als politisch inkorrekt gelten, und in dem „Bismarck“ bestenfalls als Heringsart oder als zu schleifendes Standbild gilt, ist dies offiziell ein offenbar belangloses Datum. Als sich „1871“ im Jahr 1971 zum 100. Mal jährte, gab es immerhin noch eine 30-Pfennig-Sondermarke der Deutschen Bundespost.

Heute begnügt sich das offizielle und semi-staatliche, das heißt mediale Deutschland in Sachen Reichsgründung mit ein paar Feuilletons in den Öffentlich-Rechtlichen und in den Printmedien. Dort fragt man: Was gibt es da zu feiern? Aber immerhin lädt der Bundespräsident am 13. Januar 2021 zu einer Gesprächsrunde von Historikern aus Deutschland, Frankreich und England ins Bellevue. Motto: Wenigstens haben wir mal darüber gesprochen. Der Rechtsnachfolgerin Otto von Bismarcks als Kanzlerin indes, Angela Merkel, fällt zu 1871 gar nichts ein.

Der weitgehend klischeehafte, korrekt-revisionistische Tenor scheint klar: Am 18. Januar 1871 als „ungebetenem Gedenktag“ sei ein deutscher „Macht- und Militärstaat“ mit „Pickelhaube“ entstanden, der eine Kontinuität von 1871 bis 1945 begründete, nach außen Muskeln zeigte und nach innen unterdrückte. Das sagen und schreiben diejenigen, die 2021 die globalistischen, humanitaristischen, pazifistischen Maßstäbe einer kuscheligen „Zivilgesellschaft“ des 21. Jahrhunderts an das 19. Jahrhundert anlegen. Nein, auch andere Nationen sind nicht gerade friedlich geboren worden, Italien nicht und die USA nicht.

Gewiss gab es 1871 auch Verlierer: die Liberalen und die Sozialisten, teilweise auch die Frauenbewegung, die allerdings mit der Etablierung von höheren Mädchenschulen voranschritt. Vor allem aber sahen sich die „großdeutschen“ Katholiken als Verlierer. Sie wurden zur Drittel-Minderheit in einem eher nationalprotestantischen Reich, wussten mit dem „Zentrum“ als zweitstärkster Reichstagsfraktion (bei jeweils rund 20 Prozent Stimmenanteilen) Bismarck aber das Leben gelegentlich schwer zu machen. Die Katholiken trauerten Habsburg nach. Der Deutsche Krieg von 1866 mit der Niederlage Österreichs gegen Preußen und die Gründung des Norddeutschen Bundes hatten dies freilich unmöglich gemacht.

Vergessen wir ein paar weitere wichtige Aspekte dennoch nicht:

Erstens: Das Deutsche Reich von 1871 war quasi eine kleindeutsche Lösung.

Darüber kann die imposante Präambel der neuen Verfassung und ihr Artikel 1 vom 16. April 1871 nicht hinwegtäuschen:
„Seine Majestät der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes, Seine Majestät der König von Bayern, Seine Majestät der König von Württemberg, Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Baden und Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen und bei Rhein für die südlich vom Main gelegenen Theile des Großherzogtums Hessen, schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes. Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich führen und wird nachstehende Verfassung haben … Artikel 1: Das Bundesgebiet besteht aus den Staaten Preußen mit Lauenburg, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß ältere Linie, Reuß jüngere Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen und Hamburg.“

Zweitens: Mit der Reichsgründung wurde Deutschland ein einheitlicher Rechtsstaat.

Das Deutsche Reich steht zudem für das Bürgerliche Gesetzbuch, für die Gleichberechtigung der zum Zeitpunkt der Reichsgründung rund 500.000 in Deutschland lebenden Juden, für die Zivilehe und für die Sozialgesetzgebung (mit der Krankenversicherung 1883, der Unfallversicherung 1884 und der Alters- und Invalidenversicherung 1889). Einen starken Reichstag als Parlament gab es freilich nicht; die Parteien waren relativ machtlos.

Drittens: Das Deutsche Reich erfuhr ab 1871 eine gewaltige, andere Nationen allerdings beängstigende Dynamik in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Kultur:

Im Eisenbahnwesen, im Automobilbau, im Maschinenbau, in der Elektrotechnik, in der Optik, im Bergbau, in der Pharmazie (Deutschland als „Apotheke der Welt“). Und es gab einen Gründerboom. Aus einem Agrarland mit 40 Millionen Bewohnern wurde ein führendes Industrieland mit 65 Millionen Menschen. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler sieht hier das „erste deutsche Wirtschaftswunder.“ Der Binnenmarkt blühte, weil es keine innerdeutschen Grenzen mehr gab. Basis für den Aufschwung und den Wandel waren auch Bildungsreformen: Neben den Gymnasien etablierten sich Realgymnasien, Oberrealschulen, Realschulen und Fachschulen sowie die Gründung von Forschungsgemeinschaften wie vor allem der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“ (der Vorgängerin der heutigen Max-Planck-Gesellschaft). Die universitäre Bildung verbreiterte sich allmählich: 1871 gab es rund 13.000, im Jahr 1900 etwa 56.000 Studenten. Folge unter anderem war: Vor 1914 ging jeder dritte naturwissenschaftliche Nobelpreis nach Deutschland.

Viertens: Frankreich war zu diesem Zeitpunkt (nicht nur zu Bonapartes Zeiten) die mit Abstand stärkste Militärmacht auf dem Kontinent.

Das vertrug sich nicht mit dem zersplitterten Land in der Mitte, das – anders als Frankreich oder England – keine natürlichen Grenzen hatte. Die Proklamation des Deutschen Reiches und die Kaiser-Proklamation im Schloss Versailles noch inmitten des Deutsch-Französischen Krieges, der offiziell erst am 10. Mai 1871 endete, waren zudem gezielt eine Demütigung Frankreichs, die eine „Erbfeindschaft“ vertiefte.

Fünftens schließlich: 1871 vollendete sich die Bildung einer deutschen Staatsnation.

Als Kulturnation, die weit über die Grenzen der Staatsnation von 1871 hinauswies, hatte Deutschland bereits eine lange Vergangenheit. Aber als Staatsnation hatte Deutschland eben noch keine Geschichte. 1813 war der 1806 von Napoleon inszenierte Rheinbund gescheitert. 1813 bis 1815 gab es die Deutschen Befreiungskriege als Auflehnung gegen die „Franzosenzeit“ – befördert durch die Niederlagen Napoleons bei Leipzig (1813) und Waterloo (1815). 1814/15 wurde mit dem Wiener Kongress der Deutsche Bund als Metternich’sches System gegründet.

Es war der Inbegriff der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten (Presse-, Meinungs-, Versammlungsfreiheit). 1817 trafen sich die deutschen Burschenschaften auf der Wartburg und rebellierten für einen Nationalstaat. Im Mai 1832 versammelten sich 20.000 Demonstranten auf dem Hambacher Schlossberg und forderten ein geeintes Deutschland und Volkssouveränität. Dann gab es 1848 die Zusammenkunft des Parlaments in der Frankfurter Paulskirche, 1849 das Scheitern der demokratischen und national-liberalen Bewegung mit deren Ziel der Einheit Deutschlands. Schwarz-rot-gold waren zwischen 1830 und 1848 ihre Farben.

Und dann die „verspätete“ Nation

Was ist der Grund für diese „Verspätung“? Fehlte es am Willen, eine Nation zu sein? Goethe und Schiller erkannten diesen Willen, aber sie desillusionierten die Deutschen in den „Xenien“: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche vergebens.“ Man begnügte sich vielmehr über Jahrhunderte mit Kleinstaaterei und Kirchturmspitze. Anders als Frankreich, wo alles zentripetal nach Paris drängte.

Schließlich war Deutschland bis zum Ende der „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ im Jahr 1806 in rund 300 Staaten zersplittert gewesen, die nach dem Dreißigjährigen Krieg hervorgegangen waren – mit einem spätestens ab 1701 übermächtigen Preußen. Das Attribut, ein „Volk der Dichter und Denker“ zu sein, machte noch keinen Nationalstaat aus. Madame Germaine de Staël (1766 – 1817) hatte dieses Etikett 1813 in ihrer mehrhundertseitigen Schrift „De l’Allemagne“ („Über Deutschland“) erfunden – übrigens sehr zum Missfallen Napoleons.

Und dann eben die Reichsgründung 1871. Dem frankophilen Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), dem eigentlich deutschesten aller deutschen Philosophen, passt sie gar nicht. Er sagte: Am Anfang des Deutschen Reiches stehe die „Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches“. Nur so ist Nietzsches Petitum zu verstehen: „Deutschsein heißt, sich entdeutschen!“

Deutschland somit als „Die verspätete Nation“? Diese Benennung hat sich seit Hellmut Plessners (1892 – 1985) gleichnamiger Schrift der Jahre 1935 und 1959 eingebürgert. Plessners Kernthesen waren: England und Frankreich hatten bereits ab dem 18. Jahrhundert ihre moderne Gestalt angenommen. Deutschland hinkte hinterher. Diese Erklärungen sind zutreffend, sie greifen aber zu kurz.

Denn die Deutschen waren in ihrer Nationwerdung auf lange Zeit bereits durch den Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) gehemmt. Während andere europäische Nationen im 17. Jahrhundert kulturell aufblühten, konnten die Deutschen weder die Früchte der Aufklärung und des Rationalismus ernten, noch einen Liberalismus wie den der Engländer entfalten. Schlicht und ergreifend: Die Deutschen verarmten in dieser Zeit – schier traumatisiert – kulturell für ein ganzes Jahrhundert.

All dies – und viel mehr – sollte man 150 Jahre nach der Reichsgründung mitbedenken. Aber dafür fehlt es den betont nationalallergischen Regierenden und ihren Adlati an historischer Unterkellerung.

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