Man soll Texte nicht mit sich selbst beginnen, aber ich mache das jetzt dennoch, aus Gründen. Also: Ich bin Anhänger einer radikalen Idee von Meinungsfreiheit.
Es ist meine Überzeugung und entspricht auch meiner Lebenserfahrung, dass die freie Gesellschaft buchstäblich nahezu jede Meinungsäußerung aushalten kann und auch aushalten muss. In Deutschland verbieten wir viel zu viel. Damit schaden wir dem demokratischen Diskurs wesentlich mehr, als wir ihm nutzen. Wir machen uns nur oberflächlich ein gutes Gewissen, lösen dadurch aber kein einziges Problem, im Gegenteil.
Kein einziger Gedanke verschwindet dadurch, dass man irgendein geschriebenes oder gesprochenes Wort verbietet. Nicht einer, weder jetzt noch in Zukunft. All jene (und allen voran der seit Jahren schärfste Feind der Meinungsfreiheit in Deutschland, Heiko Maas, mit seinem „Netzwerkdurchsetzungsgesetz), die sich publikumswirksam den Kampf gegen „Hassrede“ auf die politischen Fahnen geschrieben haben, erreichen dadurch genau: nichts.
Dafür demontieren sie das wichtigste Grundrecht der Demokratie.
Es respektiert auch niemand jemand anderen plötzlich, nur weil er ihn öffentlich nicht mehr beleidigen darf. Kein Rede- und Schreibverbot führt zu mehr Liebe unter den Menschen. Abgesehen davon gibt es sowieso kein Menschenrecht darauf, nicht beleidigt oder gar in den eigenen Gefühlen nicht verletzt zu werden. Wer so etwas behauptet und dann auch noch mit den Mitteln des Strafrechts durchsetzen will, hat eine durchweg lächerliche, naive und alberne Vorstellung von den Menschen und von der Welt. Und eine totalitäre.
Gegen Überzeugungen – gerade auch gegen absurde, faktenfreie und gefährliche – helfen keine Gesetze. Wer einen mentalen Zustand erreicht hat, in dem er den Holocaust leugnen will, lässt sich davon durch Paragrafen nicht abhalten. Und wer andere hasst, lässt sich davon ganz sicher nicht durch das NetzDG abbringen.
Das Einzige, was wir durch unseren Hang zum Verbot unliebsamer Äußerungen erreichen, ist, dass wir das Handwerkszeug verlieren, um mit den unliebsamen Gedanken hinter den unliebsamen Äußerungen umzugehen. Das zeigt sich in der ernüchternden Unfähigkeit gerade auch von Politikern und von Journalisten vorzugsweise bei Facebook oder auf Twitter, sich mit anderen als den eigenen Überzeugungen überhaupt noch zu befassen. Statt zu argumentieren, wird blockiert.
Debattenverbote führen zu Debattenunfähigkeit, und die führt zu Debattenverweigerung.
Natürlich kann man das anders sehen, doch ich sehe es so. Deshalb werde ich mich hier auch nicht darüber aufregen, dass seit Tagen Menschenhorden auf deutschen Straßen antisemitische Parolen skandieren und israelische Fahnen verbrennen.
Persönlich finde ich das widerlich und bin entgeistert über die peinliche Abfolge von langem, dröhnenden Schweigen einerseits und späten gestanzten Routinereflexen andererseits, mit denen deutsche Politiker ihre angebliche „Betroffenheit“ geradezu karikieren und als das entlarven, was sie ist: Heuchelei. Die Reaktionen von Steinmeier, Merkel und Maas kamen einem insgeheimen Wohlwollen gegenüber dem Mob wesentlich näher als einer wirklichen Missbilligung.
Obwohl mich das politisch schwer anekelt, finde ich es richtig, dass die Polizei – solange es nicht zu offener Gewalt kam – bei den Demos nicht eingegriffen hat. Wie gesagt: Ich bin Anhänger einer radikalen Idee von Meinungsfreiheit. (Allerdings hätte ich mich gefreut, wenn sich unsere Ordnungshüter bei völlig friedlichen „Querdenker“-Protesten ähnlich konsequent zurückgehalten hätten, aber das ist ein anderes Thema.)
Was meine Journalistenkollegen machen, steht auf einem anderen Blatt.
Was den Nahen Osten angeht, bin ich persönlich, also ethnisch, kulturell und religiös gänzlich unbeteiligt.
Trotzdem bin ich in inzwischen knapp 35 Jahren als Journalist in deutschen Redaktionen – und auch in einigen Jahren als Lehrbeauftragter für Journalismus an einer renommierten deutschen Universität – zu der festen Erkenntnis gelangt, dass eine Mehrheit des deutschen Medienbetriebs zwischen echter Israelkritik, versteckter Israelfeindlichkeit und offenem Antisemitismus oszilliert.
Es sollen hier keine einzelnen Namen genannt und auch keine einzelnen Redaktionen angeprangert werden. Ansonsten könnte der Eindruck entstehen, als handele es sich nur um Einzelfälle. Das wäre falsch. Tatsächlich sind es Beispiele für einen weit verbreiteten – mal unterschwelligen, mal recht offenen – Antisemitismus in der deutschen Medienbranche insgesamt (mit Ausnahme des Axel-Springer-Verlags).
Da steht ein Fernsehreporter in Berlin-Neukölln und berichtet von der großen, am Ende gewalttätigen Anti-Israel-Demonstration. Er zitiert die Bundeskanzlerin: In Deutschland sei „kein Platz für Antisemitismus“.
Aber hinter dem Reporter war sehr viel Platz für sehr viel Antisemitismus.
Trotzdem bezeichnen sowohl der Reporter als auch die überwältigende Mehrheit seiner Kollegen die Demonstration als „pro-palästinensisch“. Das hat sich eingebürgert: als die offenbar leichter bekömmliche Version von „anti-israelisch“.
Tatsächlich kann eine Demonstration, auf der massenhaft Parolen wie „Kindermörder Israel“ gerufen werden und auf der ein Hauptredner von einer Organisation, die Israel-Boykotts organisiert, für die Textzeile „zionistische Besatzer“ bejubelt wird, nur mit einer galaktischen Portion Realitätsverweigerung als „Solidaritätskundgebung für Palästinenser“ bezeichnet werden.
In Wahrheit ist das schlicht antisemitisch.
Nicht genug damit, wie bizarr es ist, wenn eine deutsche Journalistin aus einem klimatisierten TV-Studio in Washington den Menschen in den Luftschutzbunkern von Tel Aviv erklärt, welche Art von Selbstverteidigung gegen den tödlichen Raketenteppich einer Terrororganisation denn wohl „verhältnismäßig“ wäre: Die Kollegin nennt als Beispiel für die angeblich „vielen“ Israel-Kritiker in den USA dann ausgerechnet auch noch die schon öfter antisemitisch auffällige Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez vom linksextremen Flügel der Demokratischen Partei.
Ein deutscher Israel-Korrespondent erklärt, das Land habe es versäumt, die „Araber zu integrieren“. Der Mann verschweigt geflissentlich, dass in der Charta der militanten Palästinenser-Organisation „Hamas“ der Dschihad (also der Heilige Krieg) als „einzige Lösung der palästinensischen Frage“ bezeichnet wird. Er verschweigt auch, dass am 10. Mai 2021 der Hamas-Führer Fathi Hammad öffentlich alle in Jerusalem lebenden Palästinenser dazu aufrief, sich preiswerte Ein-Euro-Messer zu kaufen und damit Juden den Kopf abzuschneiden.
Könnte das – nur vielleicht, möglicherweise – nicht sogar für deutsche Medien auch Fragen nach der Integrationsbereitschaft gewisser Araber aufwerfen?
Dieselben Journalisten, die sich in Dauerschleife über „Zigeunersoße“ und „Mohrenstraße“ aufregen und diese Begriffe als „rassistisch“ geißeln, ducken sich entschlossen weg, wenn gewaltbereite Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan sich vor einer Synagoge zusammenrotten und in Sprechchören auf die „Scheiß-Juden“ schimpfen. Da bleiben die Kollegen bei „pro-palästinensisch“ oder allenfalls „israelkritisch“. Die Bewertung „antisemitisch“ fällt ihnen irgendwie nicht ein.
Es sind Abgründe an Doppelmoral.
Dasselbe Bild beim Deutschen Journalisten-Verband: Nach jeder „Querdenker“-Demo, auf der eine Handvoll Bekloppter ein paar Journalisten beschimpft, warnt der DJV vor dem vermeintlich nahen Ende der Pressefreiheit und fordert schärfere Gesetze sowie mehr Polizeischutz für Berichterstatter.
Am 15. Mai 2021 gab es in Deutschland die größten öffentlichen Bekundungen von Antisemitismus seit dem 9. November 1938. Aber in den deutschen Medien weiß offenbar niemand, wer da eigentlich auf die Straße gegangen ist.
Oder besser: Man will es nicht wissen. Man stellt sich dumm.
Frage: Wie viele Anti-Israel-Demonstrationen von deutschen Rechtsradikalen gab es denn in diesen Tagen? Wie viele Fälle sind bekannt, in denen deutsche Neonazis Israel-Flaggen öffentlich verbrannt hätten?
Eben.
Frage: Wie plausibel ist es, dass deutsche Rechte zwar angeblich durchweg islamophob sind – dass dann aber trotzdem viele bei Demonstrationen mitmarschieren, auf denen tausende Türkei- und Palästinenser-Flaggen geschwenkt werden?
Eben.
Frage: Wie wahrscheinlich ist es also bei gesundem Menschenverstand, dass der antisemitische, israelfeindliche Mob auf deutschen Straßen, den jetzt alle so beklagen, kaum aus deutschen Rechtsradikalen, sondern aus hier lebenden Islamisten besteht?
Eben.
Wir wollen ja angeblich immer Fluchtgründe da bekämpfen, wo sie entstehen. Fangen wir doch damit an, bei uns die Gründe dafür zu bekämpfen, dass immer mehr Juden aus Deutschland flüchten.
Dazu müssten wir allerdings unsere grotesk absurde und naive Sicht auf den Islam, wie er sich mehrheitlich heute weltweit präsentiert, deutlich ändern. Das wäre eine sicher unwillkommene, aber vermutlich heilsame Konfrontationstherapie gegen die Realitätsallergie, unter der so viele deutsche Journalisten so offensichtlich leiden.
Und wir müssten uns von ein paar Selbstlügen verabschieden. Zum Beispiel von dem bequemen Irrglauben, dass Antisemitismus vor allem rechts zu suchen ist. Denn das ist er nicht.
Links gibt es inzwischen mehr Antisemiten als rechts.
Der Unterschied ist: Um die linken Antisemiten zu finden, muss man nicht ansatzweise so weit nach Linksaußen gehen, wie man nach Rechtsaußen gehen muss, um die rechten Antisemiten zu finden. Rechts ist es ein ziemlich weiter Weg bis zu tatsächlich extremen Zirkeln. Links fängt das Elend schon beim SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag an, der Antisemitismus kurzerhand zum Problem der israelischen Politik erklärt.
Oder eben bei der endlosen Heerschaar der linken Journalisten.
Manche setzen sich dabei selbst einer schier unfassbaren kognitiven Dissonanz aus. Eine bekennend homosexuelle Kollegin belehrte mich erst kürzlich darüber, was für ein rassistischer, kolonialistischer, Minderheiten unterdrückender Anti-Staat Israel doch sei.
Ja, wer kennt sie nicht – die farbenfrohen Paraden der LGBTQ-Community am Christopher-Street-Day in Ramallah oder in Gaza-Stadt …
Wissen deutsche Journalisten wirklich nicht, wie viele homosexuelle Palästinenser ins weltoffene und tolerante Tel Aviv geflohen sind, weil sie da – anders als in den Palästinensergebieten – wegen ihrer sexuellen Orientierung weder Stigmatisierung noch Verfolgung fürchten müssen und als ganz normale Bürger leben können?
„Man muss sie kritisieren dürfen – sonst könnten sie machen, was sie wollen.“
(Ein deutscher Journalist über Israel, im Gespräch mit mir am 16. Mai 2021)
„Sie“. Nein, damit waren nicht „die Mitglieder und Anhänger der israelischen Regierung“ gemeint. Glauben Sie mir bitte, das war glasklar: Damit waren „die Juden“ gemeint.
„Israelkritik“ ist nur ein Codewort für „Antisemitismus“.
Man soll Texte nicht mit sich selbst beenden, aber ich mache das jetzt dennoch, aus Gründen. Also noch einmal: Ich bin Anhänger einer radikalen Idee von Meinungsfreiheit. Tatsächlich sollte die aus meiner Sicht auch für Esoteriker und für Verschwörungstheoretiker gelten, für Stalinisten und Maoisten, für Kommunisten und Internationalisten, für Zionisten und Islamisten.
Wer sich allerdings mit seiner antisemitischen Grundierung nun so gar nicht beherrschen kann und die unbedingt auch publizistisch verbreiten will, der sollte dann aber zumindest den Anstand haben, sich wahrheitsgemäß als Propagandist zu bezeichnen oder als Demagoge.
Aber bitte nicht als Journalist.