Tichys Einblick
Baerbock versagt

Die vergessenen deutschen Geiseln der Hamas

Geiseln heimzuholen war einst ein wichtiges Thema für die deutsche Öffentlichkeit. Doch wenn es um die Geiseln in Hand der perversen Mörder der Hamas geht, herrscht Ruhe. Die ist im Sinn von Annalena Baerbock.

IMAGO

Die ARD unterbrach eigens ihr Programm. Am 9. November 1990 um 21.24 Uhr. Es lief das Dokuspiel „Das Politbüro erlebt die deutsche Revolution“. Da zeigte die ARD Bilder vom Frankfurter Flughafen. Altkanzler Willy Brandt (SPD) war gerade gelandet. Mit dabei hatte er 175 Menschen aus Deutschland und anderen Ländern. Saddam Hussein hatte sie als Geiseln genommen, nachdem der Irak in Kuwait eingefallen war und die Vereinten Nationen ihm mit Krieg drohten, falls er nicht den Rückzug antrete.

Brandts Flug in Richtung Irak galt als umstritten. Der Wahlkämpfer Helmut Kohl (CDU) sorgte sich, die Aktion könne auf das Konto der SPD einzahlen. Die EU meldete rechtliche und diplomatische Bedenken an. Nachdem er zurück war, kommentierte der Träger des Friedensnobelpreis die Debatte mit den Worten: „Ich hab’ keine Zeit gehabt, solchen Quatsch zu lesen.“ Wer Erfolg hat, hat immer recht.

Angriff auf Israel
Deutsche Hamas-Geisel Shani Louk ist tot
So ging es auch Kanzler Helmut Schmidt (SPD) 1977. Er weigerte sich, mit den Entführern der Lufthansa-Maschine Landshut zu verhandeln. Stattdessen setzte er auf die guten Beziehungen seines Mitarbeiters Hans-Jürgen „Ben Wisch“ Wischnewski in die islamische Welt – und auf die Elite-Einheit GSG9. Die holte in Mogadishu die Geiseln aus dem Flugzeug. Mit Erlaubnis des somalischen Diktators Siad Barre. Ernsthaft Verletzte gab es unter den Passagieren keine. Wären sie gestorben, wäre Helmut Schmidt zurückgetreten. Das entsprechende Schreiben hatte er schon vorbereitet. Doch stattdessen wurde er zum Helden des „Deutschen Herbstes“. Wer Erfolg hat, hat immer recht.

Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) haben keinen Erfolg. Seit drei Wochen sind deutsche Geiseln in der Hand der Kindermörder, Vergewaltiger und Leichenschänder der Hamas. Wir wissen als Öffentlichkeit wenig über diese Geiseln. Das Auswärtige Amt macht schon aus der Anzahl ein Staatsgeheimnis. Es sagt, es gebe acht „Vermisstenfälle“. Bei einigen dieser Fälle kann es sich aber auch um ganze Familien handeln.

Das Schicksal der Geisel Shani Louk war lange unklar. Eine traurige Berühmtheit erlangte sie, als ihre Entführer sie auf einem Pritschenwagen ausstellten. Schon auf diesen Bildern war nicht zu erkennen, ob die geschundene junge Frau noch am Leben war. Nur, dass ihr Buben in die Haare spuckten. In der Gedankenwelt der Hamas macht eine solche Niederträchtigkeit aus Jungen Männer. Dann wurde ein zertrümmerter Schädel gefunden. Es dauerte Tage, bis klar war, dass es Reste des Kopfes von Shani Louk waren. Sie war niedergemetzelt worden für das Verbrechen, eine Jüdin zu sein, die zum Feiern nach Israel gereist war.

„Ja, aber Israel…“ lautet seitdem der Leitsatz in der deutschen Presse. Umso linker das Medium, desto größer die Bereitschaft den Schluss zu ziehen, dass sich Israel den menschenverachtenden Terror ja auch irgendwie verdient habe. Der Deutschlandfunk ist fast schon eine bemerkenswerte Ausnahme. Der Sender hat sich auf eine deutliche Sprachregelung geeinigt, die selbst in kleinen Nachrichten über Israel an die perversen Morde der Hamas als Auslöser der Krise in Nahost erinnert. RBB24 Inforadio nuschelt solche Erinnerungen weg – wenn sie überhaupt noch in einer Nachricht vorkommen.

Die Süddeutsche Zeitung gibt sich kritisch: „Der bildgewaltige Massenmord vom 7. Oktober hatte wesentlich nur ein Ziel: die Empörung über die Gegenschläge Israels einzuheizen.“ Durchaus richtig in der Analyse. Aber wer heizt denn fleißig die „Empörung über die Gegenschläge Israels“ an? Mit Schlagzeilen wie: „Palästinensischer UN-Vertreter: ,Gaza ist die Hölle auf Erden`“, „Unicef: ,Gaza ist ein Friedhof für Kinder`“ oder „Trinkwasser in Gaza wird knapp“? Das ist eine kleine Auswahl von einem einzigen Dienstagmorgen. Diesem Dienstagmorgen.

Spoileralarm: Die Zeitung, die seit drei Wochen „die Empörung über die Gegenschläge Israels“ anheizt, indem sie sich mit Gaza-Meldungen überschlägt, ist die gleiche, die noch vor wenigen Wochen den stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger (Freie Wähler) stürzen wollte – weil er Antisemit sei. Die Zeitung, die schon mehrfach Karikaturen abdruckte, mit denen sie selber in den Vorwurf geriet, antisemitisch zu sein. Fans werden es längst erkannt haben: Es ist die Süddeutsche Zeitung, die „die Empörung über die Gegenschläge Israels“ anheizt. Ein Favoritensieg.

Über das Geiselthema berichtet die Süddeutsche Zeitung deutlich verhaltener. Es finden sich Beiträge über eine Soldatin, die Israel erfolgreich behandelt hat und über Shani Louks trauriges Schicksal. In letzter Zeit hat die Süddeutsche indes häufiger über den Mainzer Fußballer Anwar El Ghazi berichtet als über das Schicksal der deutschen Geiseln in Gaza. El Ghazi hat in den sozialen Netzwerken bewiesen, dass es zurecht der Fuß und kein anderes Körperteil ist, mit dem er Geld verdient.

Scholz übernimmt von Baerbock
Der Kanzler muss es regeln
Auch die anderen deutschen Medien halten sich erstaunlich zurück. In früheren Fällen gab es regelmäßige Berichterstattung: Als zum Beispiel 1987 Rudolf Cordes und Alfred Schmidt, Mitarbeiter von Hoechst und Siemens, im Libanon entführt wurden, berichtete RTL Aktuell nahezu täglich. Die Nachrichten waren immer mit einem Bild der Geiseln versehen, darunter die Anzahl der Tage, die sie schon in Geiselhaft verbrachten. Das hielt sie in Erinnerung, zwang die Regierung ihre Bürger nach Hause holen zu wollen.

Doch nicht jede Geisel wurde prominent. Als 1989, 1997, 1998 und 2003 mehrere Geiseln im Libanon, im Südostjemen, im Jemen und in Algerien genommen wurden, war das nahezu kein Thema in der Berichterstattung. Über die Familie Wallert berichtete die Tagesschau dafür durchgehend, als diese 2000 in Malaysia entführt und auf die Philippinen verschleppt wurde. Auch die Archäologin Susanne Osthoff erwarb sich 2005 eine traurige Berühmtheit, als sie im Irak entführt wurde.

Die Beispiele zeigen einen Grund dafür, warum über die einen Geiseln berichtet wird und über die anderen nicht. Einen banalen Grund: Sind deutsche Journalisten vor Ort oder nicht? Die ARD rühmt sich zwar gerne ihres Korrespondentennetzes. Doch die sitzen zum einen gerne dort, wo es bequem ist. So dürfen die Gebührenzahler gleich für einen ganzen Zug USA-Berichterstatter aufkommen. Und zum anderen geben sie gerne ein Selbstbild von sich weiter, in dem sie todesverachtende Helden sind, die aus der unmittelbaren Gefahrenzone berichten und dabei ihr Leben für Demokratie, Freiheit und Nachrichten opfern. In Wirklichkeit berichten sie aber von Gefahrenpunkten gerne aus sicherer Distanz. Für die Hamas mögen zwar einige deutsche Journalisten Verständnis haben – „Ja, aber Israel“ und so – aber sich in deren Obhut begeben, das wollen sie auch nicht.

Der andere Grund für die Entscheidung, ob über eine Geiselnahme berichtet wird, ist die politische Erwünschtheit. In Sachen Willy Brandt war die Sache eindeutig: Für den Krieg gegen Saddam Hussein wurde seinerzeit Stimmung gemacht von Washington über Bonn bis nach Moskau, da passte es perfekt, ihn als der Erpresser und Entführer zu zeigen, der er allerdings auch war. Im Fall Cordes und Schmidt war die Lage schon komplizierter. Aber dass der Nahe Osten militärisch nicht aufgegeben werden darf, war in der Endphase des Kalten Krieges durchaus noch ein Ziel, das sich mit der Staatsräson verbinden ließ – also passte eine tägliche Berichterstattung ins Bild.

Die deutschen Geiseln der Hamas sind indes eine Wunde. Noch eine der ohnehin schon waidwunden Ampel. Mit jeder Entführung kommt zwar grundsätzlich die Frage auf, wie man damit umgeht: Nicht verhandeln und sich entschlossen durchsetzen wie Helmut Schmidt? Oder verhandeln und Unschuldige retten so wie Willy Brandt? Wichtig aber ist, dass es Erfolg hat. Denn: Wer Erfolg hat, hat immer recht.

Chronologie eines Totalausfalls
Dokumentation: So verpatzte Annalena Baerbock die Evakuierung deutscher Staatsbürger
Scholz und Baerbock haben gleich nach den perversen Verbrechen der Hamas den Nahen Osten besucht. Ob sie Verhandlungen über die Geiseln aufgenommen haben und wie, wissen wir als Öffentlichkeit nicht. Das ist ok. Zum Wesen solcher Verhandlungen gehört, sie besser nicht im Fernsehen zu führen, sondern über diplomatische Kanäle. Wenn Olaf Scholz am Ende solcher Verhandlungen irgendwann da steht und hat acht, zehn, zwölf oder mehr deutsche Geiseln gerettet, dann wird er ähnlich gefeiert wie Konrad Adenauer (CDU), als der 1957 die deutschen Kriegsgefangenen nachhause holte.

Doch was ist bisher passiert? Olaf Scholz hat sich längst wieder vom Israel-Thema abgewandt. Seine Afrika-Besuche dienen dem Versuch, die deutsche Einwanderungsmisere in den Griff zu kriegen. Auch ein wichtiges Thema. Aber sollte der Kanzler – so wie es derzeit scheint – die deutschen Geiseln der Hamas aufgegeben haben, dann ist das eine weitere tiefe Kerbe auf seinem ohnehin üppig gefüllten Niederlagen-Brett.

Dann hätte Scholz die Aufgabe an seine Außenministerin delegiert. Ob sie Verhandlungen führt, wissen wir aus gutem Grund nicht. Wenn sie Geld zahlen würde, um die Geiseln frei zu bekommen, ließe sich darüber zwar moralisch diskutieren. Aber den Menschen wäre wenigstens geholfen. Doch Annalena Baerbock hat angekündigt, so schnell wie möglich 50 Millionen Euro in Richtung Gaza zu überweisen. Eine „Soforthilfe“, von der sie eben nicht sagen kann, ob das Geld nicht doch bei den perversen Mördern der Hamas landet. Ohne jede Gegenleistung.

Einen wichtigen Trumpf für Verhandlungen um die Geiseln hat sich Baerbock damit selbst aus der Hand geschlagen. Wenn die feministische Außenministerin denn überhaupt Verhandlungen führt oder das Thema genauso vernachlässigt wie anfangs die Heimholung der in Israel gestrandeten Deutschen. Aus diesem Vorgehen zeichnet sich auch der Grund dafür ab, warum die deutsche Öffentlichkeit gar nicht so genau Bescheid wissen soll über die Geiseln: Wer Erfolg hat, hat immer recht. Aber wer Politik macht wie Annalena Baerbock, der sollte wenigstens darüber schweigen.

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