Wir scheitern gerade an Dingen, die so einfach sind, dass uns die fehlende Komplexität zu überfordern scheint. So etwa die Frage: Wer ist das deutsche Volk? Bevor man aber an diese Frage herantritt, schaudert der ein oder andere schon wegen der verwendeten Begrifflichkeit – „das deutsche Volk“. Einst Kampfbegriff in der wohl düstersten Zeit deutscher Geschichte, aber auch in anderen Kontexten negativ konnotiert, ist man geneigt, dem Fragesteller eine Formulierung ans Herz zu legen, die politisch korrekt und am besten noch „gegendert“ daher kommt – nur damit keine Gefühle verletzt und der Anstand gewahrt bleiben, versteht sich.
Was aber, wenn man den Finger doch in diese Wunde legen, wenn man die vermeintliche Achilles-Ferse der in Deutschland ganz besonders gearteten Political Correctness tangieren will? Dann läuft man Gefahr, dass einem von zahlreichen Lagern der öffentlichen Meinung ein scharfer Wind entgegenschlägt und die Frage, die einem so lodernd unter den Nägeln brennt, keine Beantwortung finden wird, weil man sogleich von tosenden Ermahnungen überschüttet wird, die am Ende womöglich dazu führen, dass man sich schämt, überhaupt gefragt zu haben.
Aber ist es nicht gerade wichtig, dass man in einer Demokratie den Finger auch einmal in eine Wunde legt, die nach common sense als unantastbar gilt? Ist es nicht wichtig, auch unbequeme Fragen zu stellen sowie Fragen, auf die eine Antwort manchmal schwierig, manchmal sogar unmöglich scheint?
Trotz der skizzierten Lage, die zugegeben sehr trist anmutet, wenn man der Idealvorstellung einer Demokratie als Schauplatz des argumentativen, teils strittigen, aber immer respektvollen Austauschs der diversen Meinungen und Positionen nachsinnt: Es gibt Hoffnung; es gibt sie, die „anstandslosen, dummen Querulanten“, die sich auch in einer Zeit wie dieser nicht scheuen, ihre Fragen mit der Öffentlichkeit zu diskutieren und nicht aus falsch verstandener Anständigkeit davor zurückschrecken, eine brisante Debatte zu entfachen.
Es überraschte nicht, dass es hier zu keiner nüchternen, sachlichen Debatte kommen konnte, sondern zu einer emotionsgeladenen Auseinandersetzung, in die sich nun auch noch die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen einmischte, indem sie schneidig bemerkte, dass es nicht ihr Deutschland sei, wenn eine AfD ihre Positionen verwirklichen würde und die – anknüpfend an den Wahlslogan „Hol’ dir dein Land zurück – wissen wollte, wem die Partei denn bitte welches Deutschland zurückholen wolle. Sie jedenfalls möchte sich von diesem Kollektiv, für das die AfD stehe, nicht erfasst wissen. (Vorher ließ sich die Dame noch für ihre Worte preisen, die sie beim Sprechen scheinbar nicht erinnern konnte: „Wir gehen immer davon aus, dass unser eigenes Wissen universell ist“)
Woher kommt den der Begriff deutsches Volk, der so schlicht wie prunkvoll, so glorios wie mahnend über dem Zentrum deutscher Demokratie, über dem Eingang des Reichstages in Stein gemeißelt ist? Er kommt vom grundkonzeptionellen Volksbegriff, der weder eine Erfindung der Nazis ist, noch von sonst einem Herrschaftssystem der letzten paar Jahrhunderte. Der Begriff des Volkes ist so alt wie die Geschichte der Menschheit selbst; er stammt aus der griechischen und römischen Antike und ist damit als Quelle für die Bezeichnung einer Vielzahl von Menschen zu verstehen, die sich auf einem flächenmäßig bestimmten Gebiet befinden und einen wie auch immer gearteten Bezug zum Kollektiv wie zum Gebiet aufweisen.
Es kann also festgehalten werden, dass der Begriff des Volkes in seiner nüchternsten Betrachtungsweise ganz schlicht und einfach für die Staatsangehörigkeit einer Vielzahl von Personen steht, die eben aus rechtlicher Sicht einem bestimmten Staat als dessen Bürger zugeordnet werden.
Leider hat dieser Begriff im Dritten Reich eine solche ideologische Aufladung erfahren, die seit Kriegsende dazu geführt hat, dass das Wort „Volk“ negativ belegt ist. Eine solch negative Konnotation erleben wir aber nicht nur beim Volksbegriff, sondern bei vielen weiteren Termini, die in den Köpfen den Menschen ein Schauderspiel der Synapsen befördern und uns dazu veranlassen, bestimmte Begriffe nicht mehr zu verwenden. Diese „Pfui-Mentalität“ wird aber bedauerlicherweise durch den öffentlichen Diskurs nicht zu beseitigen versucht; im Gegenteil hat man den Eindruck, dass die Agenda-Setter von heute sogar ein gesteigertes Interesse daran haben, sie zu perpetuieren.
Daher muss man, lieber Herr Lanz, eines sagen: Sie gehören als eingedeutschter Moderator zwar prima facie, aber aufgrund ihrer italienischen Staatsangehörigkeit nach der hier zugrunde gelegten Definition nicht zum deutschen Volk. Sondern zum italienischen. Sie sind Südtiroler mit einem engen Konnex zur Bundesrepublik, in der Sie herzlich willkommen, immer gern gesehen, aber rechtlich ganz eindeutig nicht zugehörig sind.
Zum Beitrag der Neurowissenschaftlerin sei angemerkt, dass wohl jeder, der eine parteipolitische Präferenz vorweisen kann, die Vorstellung konträrer Entwürfe ablehnen wird. Wenn ein eingefleischter Linke-Wähler an die Umsetzungen einer Schwarz-Gelb-Grünen Bundesregierung denkt, wird es wahrscheinlich die nächste Toilette aufsuchen.
Damit aber nicht die gesamte Bevölkerung im Bezug auf die Debatte um den Volksbegriff an Brech-Durchfall erkrankt, ist es unausweichlich und unbedingt erforderlich, dass der sich zusammenbrauende Brennpunkt von den demokratischen Kräften aufgegriffen und die Spielwiese nicht etwa einer AfD überlassen wird. Die Deutungshoheit über unseren Sprachschatz liegt in unserer Hand. Es ist die Entscheidung einer Gesellschaft wie sie mit ihrer Sprache umgehen möchte. In diesem Sinne wäre das Gebot der Stunde, mit alten Ideologien parteiübergreifend aufzuräumen und endlich dafür zu sorgen, den Volksbegriff aus seinem verstaubten Image zu befreien, salonfähig zu machen und nicht zu riskieren, dass eine Partei wie die AfD diesen Terminus zum neuen Kampfbegriff für den Transport rechter Ideologien etabliert.