Tichys Einblick
Deutungshoheit

Deutsche Einheit: Wer ist das Deutsche Volk?

Obwohl wir in einer Zeit leben, in der Bildung und Information zumindest dem Grunde nach jedermann zugänglich und großteils frei verfügbar ist, scheitern wir in unserer optimierten Industriegesellschaft heute an den einfachsten Dingen.

Wir scheitern gerade an Dingen, die so einfach sind, dass uns die fehlende Komplexität zu überfordern scheint. So etwa die Frage: Wer ist das deutsche Volk? Bevor man aber an diese Frage herantritt, schaudert der ein oder andere schon wegen der verwendeten Begrifflichkeit – „das deutsche Volk“. Einst Kampfbegriff in der wohl düstersten Zeit deutscher Geschichte, aber auch in anderen Kontexten negativ konnotiert, ist man geneigt, dem Fragesteller eine Formulierung ans Herz zu legen, die politisch korrekt und am besten noch „gegendert“ daher kommt – nur damit keine Gefühle verletzt und der Anstand gewahrt bleiben, versteht sich.

Was aber, wenn man den Finger doch in diese Wunde legen, wenn man die vermeintliche Achilles-Ferse der in Deutschland ganz besonders gearteten Political Correctness tangieren will? Dann läuft man Gefahr, dass einem von zahlreichen Lagern der öffentlichen Meinung ein scharfer Wind entgegenschlägt und die Frage, die einem so lodernd unter den Nägeln brennt, keine Beantwortung finden wird, weil man sogleich von tosenden Ermahnungen überschüttet wird, die am Ende womöglich dazu führen, dass man sich schämt, überhaupt gefragt zu haben.

Aber ist es nicht gerade wichtig, dass man in einer Demokratie den Finger auch einmal in eine Wunde legt, die nach common sense als unantastbar gilt? Ist es nicht wichtig, auch unbequeme Fragen zu stellen sowie Fragen, auf die eine Antwort manchmal schwierig, manchmal sogar unmöglich scheint?

Oben gegen unten
Mein Land, dein Land – Deutschland?
Wenn man von einem Kleinkind mit so niedlichen wie absurden Fragestellungen konfrontiert wird, ist man meist vor Verzückung so gerührt, dass man nur zu gern jede einzelne Frage des kleinen wissbegierigen Wesens beantworten möchte – wenn man aber als erwachsener Mensch eine Frage in den Raum des öffentlichen Diskurses einwirft, die sich als nicht unproblematisch erweisen kann, dann erwartet uns eine derartige Verzückung leider nicht, auch wenn die Frage hochinteressant und hochbrisant ist. Man könnte sagen, die Gesellschaft ist von den Agenda-Settern des öffentlichen Meinungsspektrums (also von Medien, Presse, Politikern etc.) schon in einem Maße konditioniert worden, dass man keine unbequemen Fragen mehr stellt, weil man ansonsten Gefahr liefe, als unanständig (man missachtet den „common sense“ über das Unsägliche), dumm (man kann sich nicht selbst aus seinen Informationsquellen bedienen und muss tatsächlich nachfragen) und zudem als Querulant (man schießt quer, weil man nicht brav der öffentlichen Meinung folgt und die Sätze der Agenda-Setter wiederkäut) angesehen zu werden.

Trotz der skizzierten Lage, die zugegeben sehr trist anmutet, wenn man der Idealvorstellung einer Demokratie als Schauplatz des argumentativen, teils strittigen, aber immer respektvollen Austauschs der diversen Meinungen und Positionen nachsinnt: Es gibt Hoffnung; es gibt sie, die „anstandslosen, dummen Querulanten“, die sich auch in einer Zeit wie dieser nicht scheuen, ihre Fragen mit der Öffentlichkeit zu diskutieren und nicht aus falsch verstandener Anständigkeit davor zurückschrecken, eine brisante Debatte zu entfachen.

Doch besser Menschland?
Deutschland - Raum ohne Volk
Daher sei nun die Frage: Wer ist das deutsche Volk für zulässig erklärt und zur Beantwortung freigegeben. Eine erste Annäherung versuchte man Anfang der Woche bei Markus Lanz, nämlich als dieser seinen Gast Alexander Gauland fragte, wem dieses Land „gehöre“. Interessanterweise erlebte man einen Gauland, der sich beim Versuch einer Antwort sichtlich in Bedrängnis und Erklärungsnot befand. Denn gerade die Partei, die von sich behauptet, die letzte Verfechterin der Werte und Ideale des deutschen Volkes zu sein, die den Deutschen ihr Land zurückholen, die für die Deutschen eine Frau Merkel jagen und wieder für Anstand, Sitte und Ordnung in diesem Land sorgen will – gerade die weiß sich keine vernünftige Erklärung einer scheinbar so einfachen Begrifflichkeit. Die Not von Gauland wusste Lanz schließlich noch damit auf die Spitze zu treiben, indem er sich selbst als Mann mit italienischem Pass exemplarisch anführte und wissen wollte, ob denn auch er zum deutschen Volk gehören könnte.

Es überraschte nicht, dass es hier zu keiner nüchternen, sachlichen Debatte kommen konnte, sondern zu einer emotionsgeladenen Auseinandersetzung, in die sich nun auch noch die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen einmischte, indem sie schneidig bemerkte, dass es nicht ihr Deutschland sei, wenn eine AfD ihre Positionen verwirklichen würde und die – anknüpfend an den Wahlslogan „Hol’ dir dein Land zurück – wissen wollte, wem die Partei denn bitte welches Deutschland zurückholen wolle. Sie jedenfalls möchte sich von diesem Kollektiv, für das die AfD stehe, nicht erfasst wissen. (Vorher ließ sich die Dame noch für ihre Worte preisen, die sie beim Sprechen scheinbar nicht erinnern konnte: „Wir gehen immer davon aus, dass unser eigenes Wissen universell ist“)

Identität ist nicht austauschbar
Deutschland und Identität
Was stellt man fest? Die Beantwortung der Frage nach dem „deutschen Volk“ scheint ziemlich schwierig zu sein. Deshalb spart man auch den Begriff der „Deutschen“ am liebsten aus dem öffentlichen Sprachschatz, dem politischen Jargon und dem Diskurs aus und ersetzt ihn durch neutrale Begriffe wie „die Menschen in unserem Land“, die „Bürgerinnen und Bürgen“, „die Wählerinnen und Wähler“. Aber sind wir nicht mehr als nur das? Sind wird nicht mehr als ein Zusammenschluss von Personen auf einem grenzmäßig umrissenen Staatsgebiet, mehr als nur kleine Grüppchen, die sich fernab vom gesamtgesellschaftlichen Kontext organisiert haben und ihr Dasein allein um der Selbstverwirklichung willen fristen?

Woher kommt den der Begriff deutsches Volk, der so schlicht wie prunkvoll, so glorios wie mahnend über dem Zentrum deutscher Demokratie, über dem Eingang des Reichstages in Stein gemeißelt ist? Er kommt vom grundkonzeptionellen Volksbegriff, der weder eine Erfindung der Nazis ist, noch von sonst einem Herrschaftssystem der letzten paar Jahrhunderte. Der Begriff des Volkes ist so alt wie die Geschichte der Menschheit selbst; er stammt aus der griechischen und römischen Antike und ist damit als Quelle für die Bezeichnung einer Vielzahl von Menschen zu verstehen, die sich auf einem flächenmäßig bestimmten Gebiet befinden und einen wie auch immer gearteten Bezug zum Kollektiv wie zum Gebiet aufweisen.

Es wächst zusammen, was zueinander passt
Entgrenzung - kein Volk, kein Staat, keine Nation
Die Vorstellung und die Idee eines Volkes waren Wegbereiter für nationale Identität, für die Kreation der Nationalstaaten. Nähert man sich dem Begriff aus einer rechtlichen Perspektive, so kann man ausgehend vom Völkerrecht sagen, dass Volk im Sinne von Staats-Volk schlicht die Zuordnung des Individuums zu einem Staat im Gefüge der Staatengemeinschaft bezeichnen will. Dabei ist von der sehr abstrakten Begriffsbestimmung auszugehen, das heißt, es erfolgt zunächst keine Anreicherung des Begriffs etwa mit kulturellen oder ethnischen Aspekten. Denn das sog. „ius gentium“ (lat. Recht der Völker) war ein Fremdenrecht, das den Umgang mit Ausländern regelte. Demgegenüber stand das „ius civile“ (nationales Zivilrecht), dem die Angehörigen des Römischen Reichs unterfielen.

Es kann also festgehalten werden, dass der Begriff des Volkes in seiner nüchternsten Betrachtungsweise ganz schlicht und einfach für die Staatsangehörigkeit einer Vielzahl von Personen steht, die eben aus rechtlicher Sicht einem bestimmten Staat als dessen Bürger zugeordnet werden.

Leider hat dieser Begriff im Dritten Reich eine solche ideologische Aufladung erfahren, die seit Kriegsende dazu geführt hat, dass das Wort „Volk“ negativ belegt ist. Eine solch negative Konnotation erleben wir aber nicht nur beim Volksbegriff, sondern bei vielen weiteren Termini, die in den Köpfen den Menschen ein Schauderspiel der Synapsen befördern und uns dazu veranlassen, bestimmte Begriffe nicht mehr zu verwenden. Diese „Pfui-Mentalität“ wird aber bedauerlicherweise durch den öffentlichen Diskurs nicht zu beseitigen versucht; im Gegenteil hat man den Eindruck, dass die Agenda-Setter von heute sogar ein gesteigertes Interesse daran haben, sie zu perpetuieren.

Naive Selbstüberschätzung damals wie heute
Erster Weltkrieg: Interessen und Kriegsschuld – Ursachen und Folgen
Weg von einer Bundesrepublik Deutschland hin zum „Menschenland“, zum „Bürgerinnen- und Bürgerland“. In seiner Präambel heißt es, das Grundgesetz gelte „für das gesamte Deutsche Volk“. Es handelt sich dabei auch nicht um einen Tippfehler jemandes, der die Groß-/Kleinschreibung nicht beherrscht, denn die Großschreibung des „Deutschen Volkes“ ist beabsichtigt. Sicherlich ist es angesichts des stetig schwindenden Ansehensverlustes der Nationalstaaten nachvollziehbar, dass man auch den Volksbegriff zurückzudrängen versucht, da er doch gerade für das genaue Gegenteil von etwas wie der europäischen Integration steht. Deutsches Volk ist unsexy. Der Trend soll doch weg vom Deutschen, vom Franzosen, vom Italiener hin zum Europäer gehen. Aber dabei droht uns etwas, das in noch viel größerem Maße unsexy ist: Einheitsbrei. Wir sind keine homogene Masse von europäischen Bürgern auf einem Kontinent, in einer Wirtschaft- und Währungsgemeinschaft, in einem historisch verbundenen Kulturkreis. Wir sind (bio-divers) ausgeprägte, unterschiedliche Kollektive, die sich in bestimmten Bereichen zu teils rechtlichen, teils wirtschaftlichen, teils kulturellen und ethnischen Einheiten verbunden haben, die aber immer auch an einem bestimmten Punkt trennbar sind.

Daher muss man, lieber Herr Lanz, eines sagen: Sie gehören als eingedeutschter Moderator zwar prima facie, aber aufgrund ihrer italienischen Staatsangehörigkeit nach der hier zugrunde gelegten Definition nicht zum deutschen Volk. Sondern zum italienischen. Sie sind Südtiroler mit einem engen Konnex zur Bundesrepublik, in der Sie herzlich willkommen, immer gern gesehen, aber rechtlich ganz eindeutig nicht zugehörig sind.

Identität findet ihren Weg
Föderation Europäischer Nationen statt Tribalismus
Ein letzter Blick zurück auf Alexander Gauland, der inzwischen wie ein Häufchen Elend in seinem Stuhl eingesunken ist und bei seinen Ausführungen nur noch auf den Boden blickt (was er ohnehin fast immer tut): Gauland kann einem fast leid tun – denn er schwimmt beim Volksbegriff, weil seine Partei ideologisch immer wieder gern in die Nazi-Ecke gestellt und leider nicht nur ein Höcke oder Poggenburg, sondern gleich das gesamte Konsortium über denselben Kamm wie die schwarzen Schafe geschoren wird.

Zum Beitrag der Neurowissenschaftlerin sei angemerkt, dass wohl jeder, der eine parteipolitische Präferenz vorweisen kann, die Vorstellung konträrer Entwürfe ablehnen wird. Wenn ein eingefleischter Linke-Wähler an die Umsetzungen einer Schwarz-Gelb-Grünen Bundesregierung denkt, wird es wahrscheinlich die nächste Toilette aufsuchen.

Damit aber nicht die gesamte Bevölkerung im Bezug auf die Debatte um den Volksbegriff an Brech-Durchfall erkrankt, ist es unausweichlich und unbedingt erforderlich, dass der sich zusammenbrauende Brennpunkt von den demokratischen Kräften aufgegriffen und die Spielwiese nicht etwa einer AfD überlassen wird. Die Deutungshoheit über unseren Sprachschatz liegt in unserer Hand. Es ist die Entscheidung einer Gesellschaft wie sie mit ihrer Sprache umgehen möchte. In diesem Sinne wäre das Gebot der Stunde, mit alten Ideologien parteiübergreifend aufzuräumen und endlich dafür zu sorgen, den Volksbegriff aus seinem verstaubten Image zu befreien, salonfähig zu machen und nicht zu riskieren, dass eine Partei wie die AfD diesen Terminus zum neuen Kampfbegriff für den Transport rechter Ideologien etabliert.

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