Und dennoch trug auch diese Jubiläumsfeier in Anwesenheit von Bundespräsident, Bundeskanzlerin und weiterer Spitzen des Staates den Makel dreier historischer Mythen in sich. So, wenn Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) behauptet, die Wiedervereinigung Deutschlands sei in beiden Teilen des gespaltenes Landes kein Thema mehr gewesen, die Deutschen hätten sich damit im Laufe der Zeit abgefunden. Wenn das wirklich so gewesen wäre, wozu hat dann die DDR bis zu ihrem Untergang Mauer und Todesstreifen zum Erhalt ihrer Existenz benötigt? Warum auch haben hunderttausende Deutsche in der DDR ihre Ausreise in die Bundesrepublik unter Inkaufnahme schwerer Repressionen betrieben? Das Institut für Demoskopie Allensbach befragte über Jahrzehnte die Westdeutschen zum Wunsch nach Wiedervereinigung und stellte dabei eine bemerkenswert hohe Kontinuität in allen Bevölkerungsgruppen fest.
Allerdings ging der Glaube an ihre Realisierung nach dem Mauerbau 1961 ständig zurück. Ein interessanter Nebenbefund: Die Anzahl brieflicher Kontakte zwischen den nördlichen Regionen in Ost und West war dreimal höher als zwischen Bayern und Baden-Württemberg einerseits und den Ländern Niedersachsen und Schleswig-Holstein andererseits.
Mythos Nummer Zwei: Die unter dem Dach der Kirchen entstandene Bürgerrechts- und Friedensbewegung mit ihrem Wunsch nach demokratischen Reformen des DDR Sozialismus‘, ohne das System selbst in Frage zu stellen, habe die friedliche Revolution 1989 verursacht. Die linke Meinungsdominanz und Deutungshoheit in den westlichen Medien – vor allem bei ARD und ZDF – und weiten Teilen der Politik bis tief in die SPD hinein, erweckt bis heute diesen Eindruck. Damit seien im Verlaufe des Prozesses der Wiedervereinigung die „Revolutionäre der DDR“ um die Früchte ihres Mutes betrogen worden. Das ist im Inneren auch die gegenüber Dritten immer wieder geäußerte Meinung Angela Merkels, die auf ein Weiterbestehen der DDR noch während ihrer Mitgliedschaft im „demokratischen Aufbruch“ gehofft hatte. Bei aller Hochachtung vor dem Mut der Bürgerrechtler: Lichterketten und Friedensgebete hätten den Unrechts-Staat DDR nicht beeindruckt. Es waren die massenhafte Ausreisebewegung, die Bilder der Flüchtlinge in den Bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau, die die Stimmung in der DDR zum Siedepunkt brachte und die Menschen angesichts des drohenden Zusammenbruches massenhaft auf die Straßen trieb. Ein entscheidender Durchbruch war auch die Öffnung der Grenze von Ungarn nach Österreich. Es setzte sich die „Abstimmung mit den Füßen“ fort, wie sie seit 1949, dem Gründungsjahr des Sowjet-Produkts DDR ständiger Begleiter ihrer Geschichte war, und beweist deren Illegitimität. Auf jede Art von Sozialismus hatten die Menschen einfach keinen Bock mehr.
Wiederum Merkel war es auch, die gestern erneut den Einheitsmythos Nummer drei bemühte. Die Arroganz so vieler Westdeutscher gegenüber den „Ossis“, insbesondere in den ersten Jahren nach der Wende, hätte viele in den neuen Ländern zutiefst verletzt. Dies beträfe insbesondere die als Vorwurf verstandene Meinung nicht weniger Wessis, die neuen Bundesbürger hätten ihre DDR-Vergangenheit als Ballast in die Einheit eingebracht. Die Kanzlerin aus dem Osten spaltet damit bewusst die Deutschen in Ost und West, indem sie die Ursache für dieses tatsächlich vorhandene Urteil der Arroganz dem Westen in die Schuhe schiebt.
Freiheit will gelernt sein, war schon eine frühe Erkenntnis vieler Philosophen der Aufklärung. Häufig ist dies gerade für Menschen, die aus Zwangsgesellschaften kommen, ein längerer und konfliktreicher Weg. Die Mehrheit der sogenannten Ossis ist ihn aber mit Erfolg gegangen. Es bleibt das Geheimnis Angela Merkels und so manch anderer, warum sie den Deutschen in der DDR im Nachhinein so etwas wie eine DDR-Identität aufdrücken wollte, die jetzt vom Westen missachtet werde. Die Frage nach dem warum drängt sich noch bei einem anderen Aspekt von Merkels gestriger Ansprache auf. Mit großem Nachdruck beklagte die Kanzlerin das Wachsen rechtsextremistischer Strömungen und Gewalttaten im wiedervereinigten Deutschland. Über die Herausforderungen durch den linken oder islamischen Extremismus verlor sie hingegen kein Wort. Ob die so oft wegen ihrer Intelligenz Gelobte dabei vergisst, dass Einseitigkeit immer dem eigenen Argument die Glaubwürdigkeit nimmt?