Tichys Einblick

Der Zweck der EU ist die EU, nicht du

Die EU will Macht. – Macht über Staaten, Macht über unser Denken (kein »Hass«!), Macht über das, was wir im Internet hochladen – und nun auch Macht übers Gaspedal. Das kann man gut finden, doch man sollte zugeben, dass die EU so kein Freiheits-Projekt ist.

YVES HERMAN/AFP/Getty Images

Das System hatte die tanzbarste Musik des letzten Jahres gespielt; die Musikauswahl hielt die Erregung auf dem geplanten Niveau, mit steigender Intensität. Zwischendurch streute das System einige Lieder ein, die von den Algorithmen als die Sommerhits für 2030 vorhergesagt wurden.

Es war eine gute Party gewesen, bis er sich an der Bar gestritten hatte. Er wusste nicht einmal mehr worüber. Es ging um Politik. Er hatte etwas gesagt, woraufhin der Barmann schwieg und sein Gegenüber nervös von ihm wich.

Seine Kollegen tanzten noch. Das Implantat hatte ihm geraten, den Club zu verlassen. Er hatte vermutet, es sei um seine Gesundheit besorgt gewesen.

Er stand draußen, allein, und das Implantat fragte: »Möchten Sie nach Hause gefahren werden?«

Er nickte.

Ein leeres Auto hielt vor ihm.

Es war sauber.

Die Tür surrte auf. Er stieg ein. Die Tür surrte zu.

»Nach Hause!«, sagte er.

Das Auto legte ihm den Gurt an und sagte: »Wir fahren los.«

Er wägte ab, ob es ihm nachher besser oder schlechter gehen würde, wenn er auf der Fahrt etwas schliefe.

Das Auto bog ab, dann bald nochmal.

Er seufzte. Das Auto war falsch abgebogen. Es passierte selten, aber es passierte.

»Falscher Weg«, rief er, »gibt es eine Störung? Nach Hause!«

Das Auto sagte nichts.

»Falscher Weg!«, rief er, und er nannte seine Adresse, zur Sicherheit.

Das Auto sagte nichts, beschleunigte dafür.

Er lehnte sich vor, zögerte etwas, und drückte dann doch auf den Nothalt-Knopf.

Das Auto reagierte nicht.

Er drückte wieder.

Das Implantat sagte: »Bleiben Sie ruhig. Es ist laut Gesetz notwendig, dass Sie ruhig bleiben.«

Er hatte eine Ahnung.

›Ach Mist‹, dachte er, ›ich hätte den Mund halten sollen.‹ – Es war anderen schon passiert, er hatte davon gehört, aber noch nicht ihm.

Das Auto bog ab und fuhr in eine Einfahrt wie zu einer Tiefgarage, ein Tor wurde geöffnet, sie fuhren hinein und das Tor schloss sich hinter ihnen.

»Es ist laut Gesetz notwendig, dass Sie ruhig bleiben.«

Er fasste sich hinters Ohr, um das Implantat auszuschalten, doch da blieben sie schon stehen, und das Auto öffnete die Tür.

Zwei Herren in der Uniform der Haltungsbeamten erwarteten ihn. Man machte ihm ein Zeichen, dass er aussteigen solle.

Er fragte: »Waren es die Dinge, die ich im Club sagte?«

Einer der Haltungsbeamten zog nur die Augenbrauen hoch und schob ihn am Oberarm durch die Tür ins Gebäude.

»Ich habe es nicht so gemeint!«, beteuerte er, doch er wusste genau, dass nach dem neuen Nicht-nicht-so-gemeint-Gesetz jede politisch bewertbare Aussage als mit übler Intention zu bewerten sei, europaweit.

»Wir hoffen«, säuselte das Auto, »dass Ihre Fahrt angenehm war!«

Wenn Sie das bejahen

Während viele Bürger von schulstreikenden Kindern und anderem Vorübergehenden abgelenkt waren, hat die EU das eine oder andere interessante Gesetzesprojekt in trockene Brüsseler Tücher gebracht. Vom »Artikel 13« haben »wir im Netz« gehört. Es gab sogar Demonstrationen gegen die Uploadfilter, doch Demonstrationen kommen und gehen, buchstäblich. – Noch während den Bossen der Medienkonzerne die Ohren vom lauten Knallen der Champagnerkorken pfiffen, wurde bereits Druck ausgeübt, den Uploadfilter rasch auf »terrorististische« Inhalte auszuweiten (netzpolitik.org, 29.3.2019). – Eines der Probleme ist die Vagheit des Wortes »terroristisch«; wie definiert man »terroristisch«, so dass eine Maschine es im Vorfeld erkennen kann? (Test-Frage: Wären religiöse Schriften, die explizit sagen, dass sie nicht Frieden bringen wollen, sondern »das Schwert«, etwas, das ein automatischer Filter »terroristisch« nennen sollte? Wenn Sie das bejahen, haben Sie eben die Bibel verboten: »Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.«, Mt 10:34) – Ich weiß, ich weiß, alles nur metaphorisch gemeint, aber erklären Sie das mal einem Uploadfilter – oder einem EU-Bürokraten!) – (Cory Doctorow hat für eff.org, 9.10.2018 erklärt, wie die als »Artikel 13« bekannten Regelungen eine weltweite Zensur bedeuten könnten.)

Nicht nur was ins Netz darf, will man von Brüssel aus regeln, auch wer ans Auto-Steuer darf und wie schnell er fahren darf!

Während in Talkshows im Zeichen der kindlichen Öko-Prinzessinnen »diskutiert« wird, wie Deutschland aus allen Energieformen außer den unrealistischen aussteigt, einigten sich EU-Unterhändler in Brüssel darauf, dass ab 2022 alle Autos mit Tempobremsen und Alkohol-Wegfahrsperren ausgestattet sein sollen (laut welt.de, 31.3.2019). Dirk Maxeiner hatte es schon vor Jahren vorgesehen: Das Auto wird zum Einzelabteil einer Straßenbahn (achgut.com, 31.3.2019: »Der Sonntagsfahrer: Dein Auto als Staats-Trojaner«). Im Geist der Totalüberwachung soll eine »Blackbox« die Fahrtdaten mitschreiben und elektronische Systeme sollen überwachen, ob der Fahrer nicht etwa »abgelenkt« wird oder müde ist – nein, das ist keine Verschwörungstheorie (und kein Aprilscherz von EU-Kritikern, wie ich eine Zeit lang dachte), das ist denen ernst und Sie können es auf deren Website nachlesen: europa.eu, 26.3.2019.

Man hat das Gefühl, in Brüssel und Berlin steigern sich einige derzeit in einen Überwachungsrausch, sei es mit NetzDG, mit Artikel 13 und Uploadfiltern, oder eben mit Autoüberwachung. Anfang Februar dieses Jahres meldete die EU stolz (und selbstverständlich weitgehend unkritisiert von Staatsfunk und Haltungsjournalisten) einen »Erfolg« im Kampf gegen »Hate Speech«. Während man in den Sozialen Medien täglich mitbekommt, wie Kritiker und Abweichler abgeschaltet werden, feiert sich die EU, dass aktuell bei den großen Anbietern 89% der gemeldeten Inhalte innerhalb von 24h entfernt wurden, was doppelt so viel sei wie noch 2016 (dw.com, 24.2.2019). – Man muss es sich vergegenwärtigen: Unter dem Schlagwort »Hate speech crackdown« ist die EU stolz auf sich, dass sie besonders effektiv und ohne Gerichtsverfahren die Äußerungen ihrer Bürger in den Sozialen Medien löschen kann. – Und nein, es handelte sich nicht um allesamt »böse Leute«! Die Sperrungen, die nach Intervention von Anwälten wie Joachim Steinhöfel hin wieder aufgehoben wurden, sind ein Hinweis darauf, was für eine miserable Idee es ist, angelernte Hilfskräfte und Algorithmen über die Ausübung von Grundrechten entscheiden zu lassen.

EU verstehen

Man könnte die EU für ein ineffektives System halten, doch das wäre kurzsichtig.

Ein Elefant klettert bekanntlich schlecht auf Bäume, ein Affe tut sich beim Tragen schwerer Lasten schwer, und beide können nicht halb so gut schwimmen wie ein einfacher Fisch.

Die EU benimmt sich nicht viel anders als jedes andere System, das überleben und seinen Einfluss auf andere Teil- und Nachbarsysteme mehren will (wobei »will« ein unzulässiges Zuschreiben von Absicht ist, als redete man von einem Individuum).

Um das Handeln der EU zu verstehen, könnten wir als Hilfsthese anlegen: »Was die EU tut, tut sie, um ihre Macht und damit ihre Überlebenschancen zu mehren – sie stellt sich dabei aber nicht immer klügstmöglich an.«

Daraus ließe sich als weitere These ableiten: Wer als Bürokrat in Brüssel unterkommen will, der muss sich selbst aufgeben und sich ganz der Macht Brüssels hingeben. (Das würde manchen merkwürdigen Hurra-Wahlkampf zur EU-Wahl erklären.)

Weder Meinungsfreiheit noch Autofreiheit noch allzu große unternehmerische Freiheit sind im Interesse Brüsseler Macht, zumindest nicht kurzfristig.

Brüssel macht ja gar kein Geheimnis daraus, dass es die EU im Wettbewerb etwa mit China sieht – China aber sieht allzu große Freiheit seiner Bürger als direkte Gefahr für seine Macht an und reglementiert sie entsprechend. (Ähnlich wie Angela Merkel im Kanzleramt und wie es von der EU gefördert wurde, experimentiert auch China mit »Nudging«, also psychologischem Quasi-Zwang, der nicht als solcher wahrgenommen wird; Merkel: welt.de, 12.3.2015, EU: nudge-it.eu, eesc.europa.eu, 15.12.2016: »use of nudges in public policy-making« etc., China: en.wikipedia.org/wiki/Social_Credit_System. Das Ziel der Macht ist mehr Macht, und wenn es dabei »sympathisch« und ohne Zwang auftreten kann – und damit effektiver – um so besser!)

Wer die EU stärken will, der muss rein logisch die Macht Brüssels stärken – und damit die Freiheit des Bürgers beschneiden.

Wer mehr Macht für Brüssel fordert und die Freiheit des Bürgers hochzuhalten verspricht, der lügt entweder, oder er denkt nicht so gut, oder er hat ein geheime Logik in der Hinterhand, die er uns bitte dringend erklären soll. Freiheit bedeutet eben auch, das System selbst in Frage zu stellen – wie aber kann Macht bestehen, wenn Teile des Systems eben dieses in Frage stellen?

Wir erleben heutzutage manchen, der sich »Liberaler« nennt, doch de facto mehr Europa fordert – aber gut, wir erleben auch christliche Kirchenfunktionäre, die sich für den Islam starkmachen.

Die EU-Projekt begann einst als Zollunion, als Zweckverband; wenn man dubiose Aktionen wie etwa die quasireligiöse »No-Hate-Speech«-Propaganda des Europarates hinzunimmt, dann nimmt das politische Europa-Projekt immer mehr die Züge einer postreligiösen Sekte an, und Sekten neigen bekanntlich nicht dazu, den Beteiligten allzu viele Freiheiten zu gewähren.

Wie ist denn das Verhältnis der EU zur Freiheit der Bürger? So viel wie möglich oder so viel wie nötig? Aus freiheitlicher Sicht problematische EU-Beschlüsse, verbunden mit dem weisheitsfernen Auftreten ihrer lautesten Apologeten, lassen mich am »so viel Freiheit wie möglich« zweifeln.

Wer eine starke EU will, muss schwache Bürger in schwachen Mitgliedsstaaten wollen. Wer dagegen ein starkes Europa will, der sollte eine zweckgebundene EU fordern, die sich auf Zollregeln und von mir aus ein paar technische Standards beschränkt – doch wer statt EU-Zentralismus lieber ein wirklich starkes Europa möchte, den wird man heute einen »Europa-Feind« nennen – und bald wird ein Auto ihn vollautomatisch bei den Haltungsbeamten vorbeifahren.

Frag nicht, warum

Wer fragt, warum die EU die Freiheit der Bürger beschränken will, ist bereits hereingefallen, denn die Frage impliziert, dass es in den fernen Fluren Brüsseler Bürokratie irgendwelche Werte geben könnte, die über der Freiheit des Einzelnen stehen. Wenn wir als freie Bürger zum Schluss kommen, dass Brüssel kein Recht hat, uns unsere Freiheit zu nehmen, erübrigt sich die Frage, warum sie es wollen sollten.

Darf von Brüssel aus ins Gaspedal von Autos eingegriffen werden? Gegenfrage: Wann wurde jemals darüber abgestimmt, sei es in Lissabon oder in Berlin, in Rom oder in Warschau, ob die EU so tief in den Alltag jedes Bürgers eingreifen darf? Heute entscheidet man von Brüssel aus, dass du zu müde zum Autofahren bist, morgen beschließen die Roboter, dass du »voller Hass« bist und deshalb aus Sicherheitsgründen nicht Auto fahren darfst.

Wenigstens gute Musik

Der Brüsseler Machtapparat wird mehr Macht wollen – viele Apparatschiks, die sich für Brüssel bewerben, lassen nicht den Hauch eines Zweifels daran, dass sie Brüssel mehr Macht geben wollen.

Mancher Politiker scheint sich mehr beim Brüsseler Moloch als beim Bürger anzubiedern, in einem merkwürdig spirituellen Aberglauben, dass wenn Brüssel ihn liebe, die Kräfte-von-oben ihm schon noch die Wahl bescheren würden.

Leute, die man zu deren eigenem Schutz nicht ans Steuer lassen sollte, werden uns ab 200 km/h ins Autosteuer greifen, automatisch. Ich weiß nicht, wann wir darüber abgestimmt haben, doch wer ein guter Demokrat sein will, der fragt so was heute nicht.

Wenn sie uns schon in Steuer greifen, wenn sie uns schon die Bananenkrümmung und die richtige Meinung vorgeben, dann sollen sie uns wenigstens auch die Algorithmen liefern, mit den kommenden Sommerhits. Wenn das EU-gesteuerte Auto mich zu den Haltungsbeamten fährt, möchte ich dabei wenigstens gute Musik hören.


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

Die mobile Version verlassen