Tichys Einblick
Trägheit im Kanzleramt

Der träge Kanzler: Olaf Scholz agiert wie Angela Merkel

Die Ampel verkauft sich als "Fortschrittskoalition". Doch eigentlich setzt Kanzler Olaf Scholz die Trägheit der Merkel-Jahre einfach nur fort. Der Rücktritt von Christine Lambrecht zwingt ihn nun, Dinge selbst anzupacken.

Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Kabinettssitzung, 02.11.2022

IMAGO / IPON

Die Ampel hat einen Joker: Jedes mal, wenn die Koalition mit einem Thema nicht weiterkommt, verweist sie darauf, dass „in den letzten 16 Jahren“ unter Angela Merkel (CDU) ja nichts passiert sei. In den Medien kommt die Ampel damit durch. Zumindest in den deutschen Medien. Doch Olaf Scholz (SPD) weiß es besser. Der Kanzler hat 2021 erkannt, dass es in Deutschland keine Wechselstimmung gibt. Er ist nicht Kanzler geworden, weil die Deutschen die Kanzlerin nicht mehr wollten – sondern weil der Vizekanzler für mehr Kontinuität stand als der CDU-Kandidat Armin Laschet.

Nun hat Scholz Merkels Kanzleramt. Jetzt muss er was draus machen. Doch die Wirtschaftsdaten sprechen gegen ihn. Sein Koalitionspartner Christian Lindner (FDP) hat die Deutschen schon davor gewarnt, dass sie sich auf einen Wohlstandsverlust einstellen müssen – für den anderen Koalitionspartner, die Grünen, ist eben dieser Wohlstandsverlust seit über 40 Jahren ein politisches Ziel. Ihr eigentliches Überthema sogar.

Scholz ist ein brillanter Taktiker. Er hat zwei Optionen erkannt, die er trotz schwieriger Ausgangslage zum Thema seiner Kanzlerschaft machen kann. Das eine ist die soziale Abfederung des wirtschaftlichen Abstiegs. Mit diesem Thema hat die SPD in den 70er und 80er Jahren Nordrhein-Westfalen zur sozialdemokratischen Hochburg gemacht. Das andere Scholz-Thema hat sich aus der weltpolitischen Konstellation ergeben: die „Zeitenwende“, die er selbst kurz nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine ausgerufen hat. Ein geschickter Zug, der darüber hinwegtäuscht, dass es „in den letzten 16 Jahren“ auch an den Sozialdemokraten gelegen hat, dass aus der Bundeswehr eine nicht mehr wehrtüchtige Armee wurde. Stichwort bewaffnete Drohnen zum Beispiel.

Kriege und Katastrophen sind immer die Chance für Regierende, sich zu profilieren: Willy Brandt gewann sein Profil in den Monaten nach dem Mauerbau. Helmut Schmidt sah sich selbst zwar als großer Wirtschaftspolitiker, ist aber heute vor allem dadurch im Gedächtnis, dass er den RAF-Terror niedergeschlagen hat. Und wenn er nicht gerade Putin-Lobbyismus betreibt, denken die Deutschen gerne an Gerd Schröder als Krisenmanager während der Elbflut zurück. Auch Scholz gewann an Profil, als er die „Zeitenwende“ ausrief. Er war da auf dem Gipfel seiner Popularität – doch dann folgten die Mühen der Ebene.

Scholz‘ bisher größter Fehler war, dass er die „Zeitenwende“ nicht konsequent zur Chefsache gemacht hat. Stattdessen überließ er sie der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Sie verbockte es. Der Scheinwerfer ist auf die vielen Pannen der Verteidigungsministerin gerichtet: das Video in der Silvesternacht, der Helikopter-Flug ihres Sohns oder der Panzer, der kein Panzer sei, sondern ein Gerät, das mit einem langen Rohr in die Luft schießt.

Doch der entscheidende Grund für ihren Rücktritt war, dass Lambrecht nicht geliefert hat. Buchstäblich. Deutschland geriet in die Kritik seiner Partner, weil es der Ukraine nicht ausreichend wehrtüchtiges Material lieferte. Auch in der eigenen Aufrüstung kam Deutschland nicht voran: Das Statistische Bundesamt meldete zuletzt, dass der Bund noch kein Geld von dem „Sondervermögen“ abgerufen hat. Also die 100 Milliarden Euro Schulden, die das Kabinett Scholz für die Nachrüstung der Bundeswehr bereitgestellt hat. Die Ministerin geht, ihre Probleme bleiben.

Lambrecht war auch ohne Silvestervideo eine Wackelkandidatin. Allerdings nicht die einzige sozialdemokratische im Kabinett: Bauministerin Klara Geywitz kann die versprochenen 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr nicht liefern. Nancy Faeser wäre lieber hessische Ministerpräsidentin als Innenministerin im Bund. Und Karl Lauterbach ist nicht mehr der Corona-Star. Der Leverkusener ist nun der Gesundheitsminister, dem die Kosten weglaufen. Die Krankenhausreform, die eine „Revolution“ sein sollte, ist auf den August verschoben. Die Löcher in den Kassen der Pflege- und der Krankenversicherung hat Lauterbach mit Krediten gestopft und indem er Rücklagen aufgebraucht hat. Der Gesundheitsminister muss nun nachhaltige Reformen in einem Feld entwickeln, in dem er viele Handelnde einbinden muss. Doch Lauterbach macht lieber Alleingänge. Was 2023 zu einem großen Problem für den Minister werden könnte.

Und zum Problem für seinen Chef. Am liebsten wäre es Scholz gewesen, wenn Faeser im Herbst die Staatskanzlei in Wiesbaden erobert hätte. Dann wäre ein Kabinettsumbau in Berlin ohnehin nötig geworden und Scholz hätte mit dem Rückenwind eines Wahlsiegs auch Entscheidungen treffen können, die in der eigenen Partei unpopulär sind: etwa eine Ministerin durch einen Minister zu ersetzen. Oder einen Corona-Star nach der Pandemie in den Ruhestand zu schicken. Dass ihm der Lambrecht-Rücktritt diese Möglichkeit nimmt, zeigt nebenbei, wie dringend notwendig dieser geworden war.

Nun steht Scholz jedenfalls vor einer undankbaren Wahl: Er muss die Zeitenwende entweder dem neuen Verteidigungsminister Boris Pistorius überlassen, der in der Außen- und Verteidigungspolitik ein Novize ist. Oder der Kanzler muss den Umgang mit Bundeswehr und Ukraine-Krieg zur Chefsache machen. Das heißt aber auch, keinen anderen mehr vorzuschicken, sondern das Gesicht dieser Politik zu sein. Der Hanseat ist ein herausragender Stratege, aber kein Showmann, wie Schröder oder auch Brandt es waren. Zudem ist Scholz ein Zauderer. Das Abwarten Merkels liegt ihm deutlich näher als das Zupacken Schröders oder Schmidts.

Bliebe ihm das zweite Thema: das soziale Abfedern des deutschen Wirtschafts-Abstiegs. Da hat sich Scholz etwas Zeit gekauft: Die Hunderte von Milliarden Euro neuer Schulden befrieden zum einen Wähler. Zum anderen beleben sie die Konjunktur. Doch wie lange das trägt, ist offen. Selbst 350 Milliarden Euro neuer Schulden oder mehr heizen die Konjunktur nur zeitweise an, sodass der Effekt schon zur nächsten Bundestagswahl 2025 verpufft sein könnte.

Zumal Deutschland strukturelle Probleme hat, an die Scholz ran muss: Alterung der Gesellschaft, Arbeitskräftemangel, überlastete Rentenkassen, eine Einwanderungspolitik, die der Wirtschaft nicht hilft, marode Straßen, Brücken und Gleise, ein ungenügender Netzempfang… Anders als zu Merkels Zeiten ist Deutschland nicht mehr so gut aufgestellt, dass der Kanzler einfach 16 Jahre lang alles aussitzen kann. Deswegen versucht Scholz nun ein drittes Thema aufzutun: die Entbürokratisierung, das schnelle Erledigen von Problemen. Als Beispiel dafür nennt er die LNG-Terminals, die Deutschland vor einem Stromausfall in diesem und im nächsten Winter bewahren sollen. Das ist nahezu grotesk.

Weniger euphemistisch ausgedrückt, sind LNG-Terminals Schiffe, die zu Hafenanlagen ausgebaut wurden. Andere haben diese Schiffe gekauft, umgebaut, ausgerüstet und verdienen nun ein Heidengeld damit. Deutsches Geld. Deutschland selbst hat lediglich ein paar Rohre verlegt, um einen Anschluss für diese Schiffe zu schaffen. Viel Geld ausgeben und ein paar Rohre verlegen – das feiert das Kabinett Scholz als Ausdruck seiner Leistungsfähigkeit. Steht die Sonne tief, wirft ein Zwerg auch lange Schatten.

In anderen Bereichen zeigt es sich, wie langsam Deutschland tatsächlich agiert: Das 49-Euro-Ticket kommt. Wann es kommt, weiß Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) aber nicht. Die zügige Einführung scheitert an der Bürokratie. Pendler können das Ticket derzeit noch nicht kaufen, weil hinter den Kulissen Beamten streiten, welcher Beleg in welchem Ordner abgelegt werden muss. Und a propos träge Bürokratie. Das Innenministerium sollte Verwaltungsvorgänge digitalisieren: Ausweise online zu beantragen oder Unterlagen einzureichen sollte möglich werden. Doch diese Zeitvorgaben hat Faesers Ministerium in vier von fünf Fällen nicht einhalten können. Allerdings wird das Innenministerium künftig in der Digitalisierung keine Zeitvorgaben mehr verpassen – es nimmt sich einfach keine mehr vor. Die Digitalisierung der deutschen Bürokratie kommt. Irgendwann. Vielleicht.

Faesers Verschieben der Digitalisierung  der Verwaltung auf den St.-Nimmerleinstag steht symbolisch für die Ambitionslosigkeit der Scholz-Regierung. Zwar verkauft er sich gerne als Kanzler der „Fortschrittskoalition“, aber in Wirklichkeit ist Scholz der Erbe von Merkels Trägheit. Andererseits müssen sich die Deutschen sagen lassen: Genau das haben sie gewollt. Angesichts dessen und angesichts der schwachen CDU-Oppostion  kann es also durchaus sein, dass die Ampel sich noch nach 16 Jahren damit rausredet, dass „in den letzten 16 Jahren“ davor ja nichts passiert sei.


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