Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu dem mehr als zwei Billionen Euro schweren EZB-Staatsanleihekaufprogramm PSPP sorgte für einige Verblüffung. Erstmals bescheinigten die Verfassungsrichter der EZB und obendrein dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), nicht im Rahmen ihrer jeweiligen Mandate gehandelt zu haben. Die EZB habe „mangels hinreichender Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit“ jenseits der ihr „eingeräumten Kompetenzen gehandelt“. Dieses Vorgehen sei vom EuGH gedeckt worden. Der EuGH selbst habe also sein Mandat überschritten, denn er gestehe der EZB sogar eine „selbstbestimmte, schleichende Kompetenzerweiterung zu“.
Damit übertraten die deutschen Richter eine rote Linie. Denn bisher haben die Organe demokratischer Gewaltenteilung, also Bundesregierung, Bundestag und das Verfassungsgericht wie auch die supranationalen EU-Institutionen eisern darauf hingearbeitet, jeden Zweifel an der Legitimität des EZB-Handelns zu zerstreuen. Dass die Verfassungsrichter nun von ihrer bisherigen Linie abgewichen sind, kam keinesfalls überraschend, sondern war, wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) treffend formulierte, „unausweichlich“.
Rückzug der Demokratie
Es war unausweichlich, weil die Geldpolitik seit der Finanzkrise 2008 und verstärkt durch die Eurokrise 2012 so enorm aufgeblasen wurde, dass sich die Grenzen zwischen Geld-, Wirtschafts- und Fiskalpolitik vollkommen aufgelöst haben und die EZB zur zentralen Entscheidungsgewalt geworden ist. Die EZB hat sich im komplexen Gefüge der EU als die handlungsfähige supranationale Institution erwiesen und in zunehmendem Maß politische Verantwortung übernommen. Das zeigte sich in aller Deutlichkeit bei der Rettung des Euro durch den damaligen Präsidenten Mario Draghi, indem er auf dem Höhepunkt der Eurokrise sagte, die EZB werde „alles tun“, um den Euro zu retten. Das gelang, weil er damit deutlich machte, dass die Euroländer über die EZB gemeinsam für ihre Schulden einstehen, und dies anschließend von keiner Regierung zurückgewiesen wurde. Die Politik war damals nicht in der Lage, die politische Verantwortung für den Zusammenhalt der EU zu übernehmen, und überließ diese Aufgabe der EZB.
Überladung der EZB
Dadurch ist die EZB in den letzten Jahren immer mehr in die Schusslinie geraten und nun auch zum Gegenstand der Überprüfung durch die Verfassungsrichter. Die problematischen Nebenwirkungen des von ihr verantworteten, wirtschaftspolitischen Krisenmanagements zeigen sich immer deutlicher. Die Erosion des Vertrauens geht sogar von ihrem eigenen obersten Entscheidungsgremium aus. Vor seinem Abtritt als EZB-Präsident gelang es Mario Draghi nicht mehr, konsensuale Entscheidungen im Rat der EZB herbeizuführen. Der Dissens wurde – ungewöhnlich für das Organ – sogar öffentlich, als der EZB-Rat in Anbetracht der herannahenden Rezession im September 2019 entschied, die Zinsen für Einlagen der Banken von -0,4 auf -0,5 Prozent weiter abzusenken und das 2,6 Billionen Euro schwere Anleihekaufprogramm um 20 Milliarden Euro pro Monat aufzustocken. Die EZB sei über „das Ziel hinausgeschossen“, kommentierte nicht nur Bundesbankpräsident Jens Weidmann öffentlich. Aber auch bereits davor rumorte es. Ohne Weidmann namentlich zu nennen, hatte Draghi den Bundesbankpräsidenten kurz zuvor für öffentliche Kommentierungen von EZB-Entscheidungen kritisiert, da er sie auf diese Weise politisiere.
Nebenwirkungen der Geldpolitik
Da die EZB ihre magische Fähigkeit, zu wirtschaftlicher Belebung beizutragen, schon seit Jahren eingebüßt hat, gerieten die erkennbaren Nebenwirkungen der Geldpolitik stärker in die Diskussion. Diesen Faden haben nun die Verfassungsrichter aufgenommen und sogar aufnehmen müssen, um nicht sich nicht selbst dem Vorwurf auszusetzen, die öffentlich stärker problematisierte Rolle der EZB zu ignorieren.
Sie führen eine ganze Latte von Folgen des PSPP auf. Es verbessere die Finanzierungsbedingungen der Staaten sowie die Bonität der Banken. Es habe Auswirkungen auf Aktionäre, Mieter, Immobilieneigentümer, Sparer und Versicherungsnehmer. Zudem würden „wirtschaftlich an sich nicht mehr lebensfähige Unternehmen“ aufgrund des abgesenkten Zinsniveaus dennoch überleben. Die negativen Effekte nähmen mit wachsendem Umfang und fortschreitender Dauer der Anleihekäufe zu, so dass das Anleihekaufprogramm „immer weniger ohne Gefährdung der Stabilität der Währungsunion“ beendet und zurückgeführt werden könne. Das Anleihekaufprogramm fährt sich also nach Auffassung der Verfassungsrichter in einer wirtschaftspolitischen Sackgasse fest.
Stabilisierung und Sklerose
Die wirtschaftlich und sozial entscheidende Nebenwirkung der Niedrigzinspolitik liegt in der von den Verfassungsrichtern erwähnten Problematik, dass dadurch unprofitable Unternehmen dauerhaft am Leben erhalten werden. Die Geldpolitik der EZB ist darauf ausgerichtet, die schwächsten Unternehmen vor dem Untergang zu bewahren. Sie setzt damit in sehr ausgeprägter Form die seit Jahrzehnten dominierende Stabilitätsorientierung staatlicher und supranationaler EU-Institutionen um. Das Ziel ist es, eine aus dem Untergang von Unternehmen herrührende wirtschaftliche Destabilisierung möglichst zu unterbinden und somit größtmögliche wirtschaftliche, soziale und auch politische Stabilität zu gewährleisten.
Indem jedoch bestehende Unternehmen und noch dazu die schwächsten unter staatlichem und geldpolitischem Schutz stehen, können sich neue Wettbewerber kaum durchsetzen, eine zunehmende Anzahl unprofitabler Unternehmen kann sich halten. Die Wirtschaft leidet an insgesamt niedriger Profitabilität was ihre Fähigkeit schwächt, risikoreiche und teure disruptive Technologien einzuführen und so für Arbeitsproduktivitätssteigerungen und gutbezahlte Jobs zu sorgen. Es ist ein Teufelskreis entstanden, in dem der Schutz der schwächsten Unternehmen Priorität genießt, dies die Wirtschaft insgesamt schwächt und anschließend noch mehr stabilisierende und schützende Maßnahmen nach sich zieht. Die Folge dieses Teufelskreises ist ein seit Jahrzehnten rückläufiges Wachstum der Arbeitsproduktivität. Inzwischen erreichen die europäischen wie auch die deutschen Unternehmen keine Produktivitätsfortschritte mehr, die wirtschaftliche Quelle für steigende Reallöhne ist somit versiegt.
Unbeirrt weiter wie bisher
Es ist bezeichnend, dass die Bundesregierung und die sie stützenden Abgeordneten der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion von dieser im Urteil angesprochenen Demokratie- und Wohlstandsaushöhlung nichts wissen wollen. Schnell gab Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) die Interpretationslinie vor. Er hob hervor, wie sehr das Urteil die Position der Bundesregierung stütze und die Richtigkeit der EZB-Programme belege. Zudem stellte er heraus, dass die EZB im Einklang mit dem Grundgesetz handele. Das Verfassungsgericht habe ja in seinem Urteil festgestellt, dass die Anleihekäufe „keine monetäre Staatsfinanzierung“ darstellten. Die von den Richtern geforderte Verhältnismäßigkeitsprüfung auch des aktuellen Kaufprogramms werde sicherlich in der gesetzten Frist erfolgen, so dass der Beteiligung der Bundesbank jetzt und in Zukunft nichts entgegenstehe.
Die Bundestagsabgeordneten von CDU/CSU und SPD pflichteten ihm in einer von der AfD beantragten aktuellen Stunde des Bundestags bei. So fand Heribert Hirte (CDU) im Urteil das bisherige parlamentarische Handeln als richtig bestätigt. Dessen „wesentlicher Punkt“ sei, dass es keinen „Verstoß gegen das geldpolitische Mandat gebe“. Das BVG habe lediglich bemängelt, „dass die Begründungszusammenhänge nicht so sind […], dass das nachvollziehbar ist, was in der Europäischen Zentralbank gemacht wird“. Auch Andreas Schwarz (SPD) betonte, er sei sich „sicher, dass es der EZB gelingt, die Verhältnismäßigkeit zufriedenstellend zu begründen“.
Diese Interpretation des Urteils zeigt, dass CDU/CSU und SPD die immer offensichtlicher werdenden und spürbaren Nebenwirkungen des EZB-Handels einfach abtun. Das liegt im Wesentlichen daran, dass sich die Handlungsorientierung der EZB mit den eigenen Auffassungen deckt. Wirtschaftliche und politische Stabilisierung ist die oberste Prämisse, selbst wenn die Aushöhlung von Wohlstand und Demokratie voranschreiten.
Das Handeln der EZB ist für die politisch Verantwortlichen besonders attraktiv, weil eine der Hauptwirkungen darin besteht, eine allgemeine Wohlstandsillusion zu schaffen. Das viele billige Geld sorgt dafür, dass die Vermögenspreise steigen, die Sozialstaaten finanzierbar bleiben, die Verschuldung steigt und dies zusätzlichen Konsum und Nachfrage ermöglicht. Obendrein werden die Unternehmen entlastet, die sich billiger oder – trotz mangelhafter Profitabilität – überhaupt noch finanzieren können. Der EZB gelingt es zwar nicht, die zugrundeliegenden wirtschaftlichen Probleme zu lösen, sie vermag diese aber zu verwalten und sie zuverlässig in die Zukunft zu verschieben.
Die Corona-Krise ist sozusagen der ideale Feind, mit dem es die Politik wohl auch weiterhin vermeiden kann, sich einem längst fälligen Realitätscheck zu stellen. Erneut wird die EZB nun zur maßgeblichen Retterin einer geschwächten Wirtschaft in höchster Not, so dass alle Nebenwirkungen vernachlässigbar werden. Das hat die Regierungskoalition mit ihrer Bewertung des Verfassungsgerichtsurteils sehr deutlich gemacht.
Lieber unterstützen sie nun die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die die geöffnete Büchse der Pandora schnellstmöglich schließen will, indem sie versucht, mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegenüber Deutschland die Politisierung der Wirtschaftspolitik wieder einmal zu unterbinden. Dann wird es erstmal so weitergehen wie bisher. Das ließ die EZB-Präsidentin Christine Lagarde gleich nach dem Urteilsspruch verlauten. Die EZB sei eine unabhängige Institution mit einem klaren Mandat. Sie sei nicht etwa deutschen Institutionen, sondern nur dem Europäischen Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig und unterliege der Rechtsprechung des EuGH. Daher werde die Zentralbank „unbeirrt“ auch „weiterhin tun, was immer nötig ist, um dieses Mandat zu erfüllen“. Wie die FAZ berichtet, sehe Lagarde zudem die Vertragsdetails, die Gegenstand des BVG-Urteils waren, als inzwischen ohnehin überholt an. Die Politik der EZB habe sich weiterentwickelt. Stimmt: Schließlich hatte Lagarde letztes Jahr bereit angekündigt, dass sie zukünftig auch Klimapolitik machen werde.
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