Tichys Einblick
Schiefe Bahn

Der schleichende Rückzug des Rechtsstaats

Mit Wegsehen, mit Gleichgültigkeit beginnt stets die Schleifung des Rechts.

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Auf der diesjährigen Gedenkveranstaltung zur Befreiung von Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 sprachen vier Überlebende. Einer von ihnen war der 1925 in Lodz geborene Journalist Marian Turski. Er mochte nicht mehr von der eigenen Leidensgeschichte sprechen, sondern wandte sich mit einem Anliegen an die Jugend in aller Welt. An diejenigen, die nicht mehr nachempfinden könnten, was Krieg wirklich bedeute. Er habe Verständnis für junge Leute, sagte er, wenn sie sich manchmal gelangweilt zeigten von den sich wiederholenden Aussagen zur Shoa und möchte ihr Bewusstsein für eine andere Seite der Geschichte öffnen.

„Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen“

In Erinnerung an einen Ausspruch des österreichischen Bundespräsidenten Van der Bellen, Auschwitz sei nicht vom Himmel gefallen, versetzt er die Zuhörer gedanklich zurück ins Berliner Bayrische Viertel der frühen 1930er Jahre. Ein Stadtviertel nicht weit vom Zoo, in bevorzugter Wohnlage, in dem viele Intellektuelle, Schriftsteller und Wissenschaftler wie Albert Einstein, Erich Fromm, Gottfried Benn und Marcel Reich-Ranicki aufgewachsen sind. Da steht an einer Parkbank eines Tages das Schild „Für Juden verboten!“ Hier dürfen wir nicht mehr sitzen, erinnert sich Turski. Nun denn, dann setze ich mich eben auf eine andere Bank oder auf die Wiese. Aber eines Tages darf er auch nicht mehr ins Schwimmbad. Was soll’s, es gibt viele Seen im Umfeld von Berlin. Doch die Verbote werden mehr: Nichtarische Kinder dürfen nicht mehr mit arischen spielen, und beim Bäcker ist der Einkauf für Juden erst ab 17 Uhr gestattet. Doch die meisten Bürger sehen weg, merkt der Junge dann. Niemand protestiert.

Wer schweigt, stimmt zu

Mit Wegsehen, mit Gleichgültigkeit begann so die Schleifung des Rechts. Schritt für Schritt wagten sich die Wegbereiter der Naziherrschaft weiter vor. Als sie dann immer wieder beobachten konnten, dass kein wesentlicher Protest der Bürger zu befürchten war, konnten sie ihre Pläne sukzessive letztlich ungehindert durchführen – bis hin zur Errichtung der Todeslager.

Marian Turskis dringende Bitte an die Jugend lautet wie folgt: Schweigt nicht, wenn Gesetze missachtet werden; wenn Schritt für Schritt das Recht gebeugt wird! Wendet euch nicht gleichgültig ab, wenn Menschen wieder ausgegrenzt, zum Schweigen gebracht, stigmatisiert, verlacht und denunziert werden! Erhebt euch, wenn Gewalt nicht konsequent verfolgt wird und die Wahrheit verschleiert und verzerrt wird! Seid unbequem, seid Sand im Getriebe der Welt!

Die menschliche Natur ist so, wie sie nun mal ist. Wer von uns hat es in den letzten Jahren nicht wieder erlebt, dass Menschen sich gestört fühlen, wenn man sie auf Regelverletzungen und Gesetzesbrüche der Politik hinweist. Dass sie sich belästigt fühlen, das Gespräch abbrechen oder die Rechtsbrüche gegenüber den Kritikern sogar verteidigen, weil man ja doch auf der Seite der Humanität stehe.

Es ist schon weit gekommen: Bisher nie in Frage gestellte Gepflogenheiten werden inzwischen missachtet: Wenn z.B. die größte Oppositionspartei nun schon einen fünften Bewerber um das Amt des stellvertretenden Bundestagsvizepräsidenten, das jeder Partei zusteht, aufstellen musste, nachdem bereits vier in jeweils drei Wahlgängen abgelehnt wurden. Wenn andererseits die stellvertretende Bundestagsvizepräsidentin der Grünen, Claudia Roth, durch Feststellung der Beschlussfähigkeit des Parlaments bei weniger als hundert anwesenden Abgeordneten aufzeigt, welche Macht diesem Amt zusteht. Das geht von Beispielen wie diesen bis hin zu der Forderung von Staatssekretär Peter Tauber „Feinden der Demokratie“ die Grundrechte zu entziehen, und wenn Innenminister Seehofer sogleich ernsthaft prüfen will, ob die Verfassung das hergebe.

Besonders deutlich wurde die Verwundbarkeit und Aufweichung des Rechtsstaats bei der Grenzöffnung 2015. Noch mal zur Erinnerung: Horst Seehofer – damals noch Ministerpräsident von Bayern – sprach im Zusammenhang mit Angela Merkels Alleingang von einer „Herrschaft des Unrechts“ und beauftragte den renommierten Verfassungsrichter a.D. Udo di Fabio mit einem Gutachten, in dem der Jurist zu dem Schluss kam, die Bundesregierung habe mit ihrer Weigerung, die Grenzen nach einem kurzfristigen Notstand wieder umfassend zu kontrollieren, Verfassungsrecht gebrochen.

Auch der Verfassungsrechtler Professor Rupert Scholz wirft der Regierung erhebliche Rechtsverstöße bei Flüchtlingsentscheidungen vor: Missachtung des Abkommens von Dublin und des Vertrags von Schengen. Mit der Erlaubnis, dass alle Syrer in Deutschland Asyl bekämen, sei der Artikel 16 a des Grundgesetzes verletzt worden, denn das Asylrecht sei ein Individualrecht: Jede Person müsse individuell nachweisen, dass sie politisch verfolgt sei. Die Flüchtlinge kämen überdies alle aus sicheren Drittstaaten nach Deutschland und hätten aus diesem Grund gar keinen Anspruch auf Asyl. Grenzkontrollen seien nicht durchgeführt worden. Die Rechtsverstöße lägen auf der Hand.

Das alles steht auch in den Mainstream-Medien, aber wen kümmert’s? Parlament, Presse und vor allem auch der Souverän lassen die Regierung machen. Die Mehrheit schweigt genauso wie in den Zeiten, von denen Marian Turski gerade berichtet hat.

Moral über Recht

Die Kirche steht seit jeher an der Seite der Macht: Die Kanzlerin habe „sich sogar über das Gesetz hinweggesetzt. Das gehört auch zur politischen Führung“, lobte Kardinal Marx zu Beginn der Krise. Die Gründe dafür seien humanitärer Art, und demnach sei es legitim, moralische Prinzipien über das Grundprinzip der Judikative, die Abgrenzung von der Exekutive, zu setzen. Das heißt, die Unbestimmtheit und Situativität moralischer Prinzipien über die von Immanuel Kant überlieferten Rechtsnormen zu stellen.

Das Wissen darum, was „Rechtsstaat“ bedeutet, ist langsam verblasst. Man hat den Nachkommen der Aufklärung inzwischen von Kindheit an das Gefühl ihrer Überlegenheit durch Hochhalten von staatlich verordneter Gesinnung und Moral eingebläut. Vor unser aller Augen wird der Rechtsstaat mit Hilfe von Framing, Nudging und vielen anderen Manipulationstechniken abgebaut. „Sie machten es listig!“ wusste schon Friedrich Schiller. („Kabale und Liebe“, Akt 5, Szene 6)

Kein Platz für Andersdenkende

Man hätte es schon lange ahnen können, was jetzt für viele immer sichtbarer wird, denn immer wieder ließ die Kanzlerin ihre Absichten und Sympathien durchblicken. Spätestens als sie ihre Politik als „alternativlos“ bezeichnete, hätte jeder Bürger aufhorchen müssen. Auch von „Plänen“ hat sie wiederholt gesprochen. Schon kurz nach der Grenzöffnung, im Oktober 2015, antwortete Merkel auf eine entsprechende Frage von Anne Will: „Ja, ich habe einen Plan.“ Doch nie hat sie die Bürger für berechtigt empfunden, ihnen diesen ihren Plan vorzustellen.

In der am 13.11.2015 ausgestrahlten Sendung „Was nun, Frau Merkel? kämpfte sie für ihren „Plan, den ich habe, an den Fluchtursachen anzusetzen, aus Illegalität Legalität zu machen“. Deutschland habe keinen Rechtsanspruch auf Demokratie und soziale Marktwirtschaft für alle Ewigkeit, befand die damalige Kanzlerkandidatin schon 2005 in einer Grundsatzrede auf dem Festakt zum 60. Jahrestag der Gründung der CDU und kündigte grundlegende Veränderungen für Deutschland nach einem Wahlsieg der Union an. Damit hat sie bereits damals das Grundgesetz negiert und jeden ihrer späteren Amtseide zum politischen Meineid gemacht.

Richtungsänderungen im Alleingang

Je weniger Widerstand Merkel über die Jahre bei der Durchsetzung ihrer dubiosen „Pläne“ gespürt hat, umso weniger hält sie sich inzwischen zurück. Die Eurorettung („Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“), der Atomausstieg (das ferne Fukushima als simulierter „Notstand“) und die unkontrollierte Zuwanderung von hunderttausenden Migranten (getarnt als einzigartiger Akt zur Tilgung des deutschen Traumas) zog sie praktisch im Alleingang durch. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Artikel 20, GG) scheint im Bewusstsein der Bürger gar nicht mehr zu existieren.
Und nun das Versprechen, das Klima zu zähmen. Für ihre Zwecke benutzte junge Menschen, die sich – wohl einmalig in der Geschichte – nicht mehr wie früher gegen die Herrschenden stellen, sondern mit ihnen gleichziehen und von ihnen unterstützt werden, indem man ihnen z.B. offiziell zugesteht, die gesetzlich vorgeschriebene Schulpflicht zu missachten.

Angela Merkels Rede in Davos am 27. Januar dieses Jahres ist eine dringende Mahnung an alle Bürger, sich endlich bewusst zu machen, dass die Kanzlerin „Transformationen von gigantischem historischen Ausmaß“ plant. Dass sie gar nicht daran denkt, die Bürger zu fragen, ob sie „die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren verlassen“ und „zu völlig neuen Wertschöpfungsformen kommen“ wollen. Deutschland werde wieder ganz vorne mit dabei sein, den Herausforderungen der Digitalisierung und der Nutzung der Ressourcen auf der Erde, zu trotzen. Keiner kann mehr sagen, er habe nicht gewusst, was auf uns zukommt.

Chaos in Thüringen

Wie rücksichtlos die Kanzlerin ihre Herrschaft inzwischen ausübt, sollte jedem Bürger spätestens klar geworden sein, als sie aus 9.000 Kilometern Entfernung und gleich zu Beginn der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa erst mal – in aller Öffentlichkeit und gegen alle Regeln der Höflichkeit – ihre Order an ein kleines Bundesland in Deutschland loswerden musste. Wenn sie Wahlergebnisse für „unverzeihlich“ hält – in diesem Fall, weil die AfD dem FDP-Kandidaten ins Ministerpräsidentenamt geholfen hatte – müssen sie halt unverzüglich „rückgängig gemacht“ werden. Denn in ihren – und in den Augen aller anderen Parteien – sind die AfD-Abgeordneten – und dann naturgemäß auch deren Wähler – geschichtsvergessene Demokratiefeinde und Faschisten, die geistigen Erben aus den 30er Jahren (Markus Söder), die Millionen in Buchenwald und anderswo ermordet haben (ehemaliger Staatskanzleichef von Bodo Ramelow).

Man muss sich wirklich fragen, was mit unserem Rechtsstaat los ist, wie es möglich ist, dass die AfD im Parlament sitzt, die die anderen Parteien als Nazis, Faschisten und Täter bezeichnen. Wenn sie als Partei erlaubt ist und gewählt werden kann, ist sie eine demokratische Partei.

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