Tichys Einblick
Recht ist Recht oder es ist keines

Der Rechtsstaat und seine Austrickser

Abschiebungsverhinderer sind Gutmenschen, und als solche tragen sie mit moralische Schuld an den Taten, welche ihre Schützlinge im Land ausüben – sollte ein wehrhafter Rechtsstaat sie nicht auch juristisch für die Taten ihrer Schützlinge haftbar machen?

© Adam Berry/Getty Images

Nein, Leo, du kannst nicht spanische Wurst bestellen. Nein, Leo, du kannst dir nicht die extra-scharfe Soße auf das Hühnchen gießen. Was willst du? Ja, du kannst eine Pizza haben, aber nein, du kannst keine Bananen auf die Pizza tun! – So ungefähr verlaufen die Debatten, wenn wir mit Herrn Leo Andreas Wegner im Restaurant das Abendessen bestellen.

Verstehen Sie mich nicht falsch! Niemand hat etwas dagegen, dass Leo dies und das probiert! Es ist eine gute Sache, seinen kulinarischen Horizont zu weiten. Herr Leo hat allerdings die Eigenschaft, alle möglichen Speisen zu bestellen, sie dann aber nach einem Bissen oder auch mal nur nach dem Draufschauen für doof zu befinden (»schmeckt leider nicht, kann man ja nicht wissen!«) – und dann doch wieder etwas vom Kindermenü zu fordern. Eine Zeit lang haben Elli und ich, manchmal auch die werte Tochter, uns Leos Erstbestellung geteilt. Solange es noch relative zahme Dinge wie überbackene Brokkoli oder Zwiebelringe waren, ging das ja noch. Seine Bestellungen wurden allerdings immer obskurer, und für Schweineohren (Sie denken, ich übertreibe?) finden sich bei den Wegners keine Abnehmer. Papa Wegner aber arbeitet zu hart fürs Geld, als dass er Bestellungen nur so zum Spaß aufgeben könnte. Inzwischen versagen wir ihm die Erstbestellungen. Leo listet noch immer die ungewöhnlicheren Sachen auf dem Menü auf, aus Freude am Komischen, aber übernimmt gleich auch den Widerspruch: »Ich bestelle die Knoblauchgarnelen! Nein, Leo, du kannst keine Knoblauchgarnelen haben, Knoblauch schmeckt dir nicht!« (Eigentlich hatte ich die Knoblauchgarnelen für mich selbst bestellen wollen, habe es dann aber sein lassen. Wenn es läuft, dann läuft es, und ich will keine Verwirrung riskieren.)

Rechtsstaat

Altes Theologen-Rätsel: Kann Gott einen Stein erschaffen, der so schwer ist, dass er selbst ihn nicht heben kann? – Das Paradox: Wenn ja, dann ist er nicht allmächtig (er kann ihn nicht heben) – wenn nein, dann auch nicht (er kann ihn nicht erschaffen).

Haben Sie eine Auflösung für dieses Paradox? Hier ist meine: Diese Frage klingt beim ersten Hören sinnvoll, doch sie versteckt einen logischen Fehler. Es hilft, einen Schritt zurück zu gehen und aus der Entfernung auf die »Meta-Ebene« zu schauen. Es wird gefragt, ob Gott etwas logisch unmögliches erschaffen kann. Genauso gut könnte man fragen, ob Gott machen kann, dass die Gleichung »1 + 1 = 3« richtig ist. Die Frage nach der Möglichkeit eines logischen Widerspruchs hat zwei Antworten: Entweder wir können nicht sinnvoll darüber reden (siehe Tugendhat und andere) – oder es ist schlicht falsch. (Gegenposition: Für Descartes kann ein allmächtiges Wesen auch Unlogisches erschaffen, siehe Allmachtsparadoxon bei Wikipedia.) Wenn sich Aspekte von Gott nicht nur dem Verständnis, sondern auch der Logik entziehen könnten, dann wäre es möglich, dass alles, was von Schriften und Gelehrten über ihn gesagt wird, auch zugleich falsch ist – womit Theologie abgeschafft wäre auf das Beschreiben von Gefühlen, also einer Art nonsemantischen Ausdruckstanzes ohne Gegenstand außer einem Gefühl, das kommt und geht und auch von einer Laune oder bloßem Magendrücken bestimmt sein kann.

Wenn wir über eine Instanz oder Angelegenheit reden wollen, muss immer davon ausgegangen werden, dass diese sich zumindest an die Regeln der Logik hält. Was außerhalb der Logik wäre, das wäre für Sprache und Denken unsichtbar – sprich: es existiert nicht. Selbst für Gott gelten die Regeln der Logik. – Womit wir den nächsten Schritt machen können, den Schritt zum Rechtsstaat!

Der erste Unterschied zwischen dem Rechtsstaat und anderen Zuständen wie Absolutismus oder Bürgerkrieg ist das Gelten von Regeln, denen alle und alles unterworfen ist, nicht zuletzt der Staat selbst. L’État, c’est moi, der Staat bin ich! – so soll der Sonnenkönig Ludwig XIV. vor dem französischen Parlament gesagt haben. Der Staat, das sind wir alle! – so sagt der Bürger in der Demokratie, doch richtig wäre wohl auch: Der Staat, das ist, wie wir uns organisiert haben. Sie könnten (und sollten es auch immer wieder!) in einem Rechtsstaat sämtliche politischen Personen austauschen, es wäre noch immer derselbe Rechtsstaat, solange die Regeln gleich bleiben.

Außerhalb der Logik gibt es nicht einmal Gott, außerhalb des geltenden, bekannten, vorhersagbaren und vom Staat durchgesetzten Rechts gibt es zumindest keinen Rechtsstaat.

Das Rechtsstaat-Rätsel wäre: Kann der Rechtsstaat solche Handlungen ermöglichen, die den Rechtsstaat selbst aushebeln? Anders als beim Allmachtsparadox lautet hier die Antwort: Ja, kann er. Und das ist ein Problem.

Menschengeschaffenes

Anders als die Logik sind Recht und Rechtsstaat keine von jeher gültigen, »göttlichen« Regeln. (Man könnte sogar sagen, im Gegenteil: »Gottesstaaten« entsprechen selten aufgeklärten Vorstellungen von einem Rechtsstaat.)

Im Rechtsstaat klopfen wir in demokratischer Debatte unser Verständnis von Gerechtigkeit und produktivem Umgang ab. Wir vergleichen unsere individuellen relevanten Strukturen (Familie, Wohnung, Arbeitsstelle) und versuchen, die Strukturen zu bestimmen, die uns gemeinsam relevant sind (Straßen, Bildungswesen, Grundrechte). Wir bestimmen Volksvertreter, die in demokratischer Wahl verschiedene Perspektiven auf Gerechtigkeit und relevante Strukturen aushandeln, um dann bei Regeln und Gesetzen anzukommen, die für uns alle gelten, die wir alle kennen und auf die wir alle uns verlassen können.

Ein demokratischer Rechtsstaat bietet jenseits vom Gerechtigkeitsgefühl ganz praktische, handfeste Vorteile für die »Teilnehmer«. Bürger können sich zu geregelten Unternehmen zusammenschließen, oder einzeln gründen, und ihr Geld in Unternehmungen investieren, die im Idealfall den Wohlstand des jeweiligen Rechtsstaats fördern. Unternehmen investieren nur ungern in ein Land, in dem willkürlich entschieden wird. Bürger haben die Chance, innerhalb eines zuverlässigen rechtlichen wie praktischen Rahmens ihr Leben zu gestalten und ihre Kreise nach ihrem Gusto zu ordnen – sprich: glücklich zu werden.

Die Austrickser

Es gibt verschiedene Gründe, warum ein Mensch, der doch Teil des Rechtsstaats ist, die gemeinsamen Regeln unterlaufen möchte.

Manche Menschen nehmen den Rechtsstaat in Anspruch, wollen aber selbst nicht als Teil des Rechtsstaats in Anspruch genommen werden. Wer viel Geld verdient, ob als Unternehmen oder als Individuum, könnte Wege suchen, auch weiterhin die Vorteile des Staates zu nutzen – von befahrbaren Straßen, den vielen zahlenden Kunden bis hin zum Rückgriff auf gut ausgebildete Ingenieure – aber selbst nicht den via Steuergesetz festgelegten Beitrag zu zahlen. Manchmal entzieht er sich auf illegale Weise, und wenn er erwischt wird, dann wird ihn der Rechtsstaat zur Rechenschaft ziehen.

Dann gibt es noch jene, die innerhalb der Regeln des Rechtsstaates nach Löchern suchen, mit deren Hilfe sich der Geist des Rechtsstaats aushebeln lässt. Wir kennen ja die Fälle von Unternehmen, die in einem Land viele Milliarden verdienen, aber kaum Steuern zahlen. Wenn der Bürger und der Rechtsstaat so richtig Pech hatten, spenden diese Unternehmen auch noch strategisch oder sind der Politik anders verbunden, so dass diese Regeln auch nicht so bald verändert werden.

Wir lesen in diesen Tagen von einem weiteren Fall von »Austricksern«. Es sind Menschen, die Lücken im Rechtsstaat suchen – Lücken in den Gesetzen und Lücken in der praktischen Durchsetzung des Rechts – um den Rechtsstaat selbst auszuhebeln.

Noch immer feiern westliche Gesinnungsethiker die Schwedin Elin Ersson, welche die Abschiebung eines 50-Jährigen Afghanen vorläufig verhinderte (er wird eben im nächsten Flugzeug ausgewiesen, siehe z.B. dw.com, 25.7.2018), indem sie sich weigerte, sich im Flugzeug hinzusetzen. Sie können ihr eigenes Video bei Facebook sehen. Wir kennen den Typus: jung, modische Brille, fanatisiert, zu Tränen gerührt von der eigenen Güte. Sie nennt sich »Aktivistin«. Sie hatte sich auch im Flugzeug vertan. Eigentlich wollte sie einen jungen, durchaus hübschen Afghanen vor der Abschiebung bewahren (siehe dw.com, 26.7.2018), als sie aber feststellte, dass der gar nicht an Bord war, beschloss sie einfach, so weit das heute klar scheint, einen anderen Afghanen durch Nicht-Hinsetzen freizupressen. Sie versuchte, den schwedischen Rechtsstaat mit seinen eigenen Mitteln auszutricksen. Sie ist der Meinung, dass niemand – möglicherweise selbst Verbrecher nicht – nach Afghanistan abgeschoben werden darf. Sie ist jung, sie stellt sich nicht der demokratischen Debatte, sie hat Emotionen statt Argumente, also versucht sie, an Recht und Ordnung vorbei ihre private Moral durchzusetzen. (Dass sie die finanziellen und sonstigen Folgen ihrer Aktionen nicht selbst tragen wird, sondern anderen Menschen und der Allgemeinheit aufbürdet, versteht sich hier fast schon von selbst.)

Wie so häufig, wenn es daran geht, den Rechtsstaat durch Empörungsmoral zu schwächen, finden sich linke Journalisten in der inoffiziellen PR-Abteilung der Rechtsstaats-Austrickser. Eine Journalistin der TAZ nimmt die (womöglich dann doch illegale und auf jeden Fall letztendlich nutzlose) Aktion der schwedischen Aktivistin zum Anlass, eine »Anleitung zum Ungehorsam« zu veröffentlichen. (Zuvor gab es diese Anleitungen vor allem auf schattigen Aktivisten-Websites.) In einfach verständlichen Punkten wird beschrieben, was man alles tun kann, um mit mehr-oder-weniger-legalen Mitteln die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber zu verhindern, vollständig unabhängig vom Grund für ihre Abschiebung. Es sind eben nicht nur brave Familien, die an ihrer Integration arbeiten, welche auf diesen Flügen abgeschoben werden (siehe z.B. welt.de, 30.11.2017; zeit.de, 3.7.2017).

Steueroptimierer und Abschiebungsverhinderer tricksen beide den Rechtsstaat zum Erreichen privater Ziele aus, und sie bürden die Folgen ihres Handelns der Allgemeinheit auf. Steueroptimierer schaffen aber noch immer Umsätze und oft Arbeitsplätze (die indirekt dann doch wieder Steuern aufbringen), während Abschiebungsverhinderer dazu führen, dass potentiell auch Kriminelle und Terroristen im Land bleiben. Abschiebungsverhinderer sind Gutmenschen, und als solche tragen sie mit moralische Schuld an den Taten, welche ihre Schützlinge im Land ausüben – sollte ein wehrhafter Rechtsstaat sie nicht auch juristisch für die Taten ihrer Schützlinge haftbar machen?

Alles Anarchisten

So wie unser Sohn Leo im Restaurant schon mal Dinge bestellt, von denen er nicht weiß, ob sie ihm schmecken werden (sie werden es nicht), so verlangt es linke Gutmenschen nach Anarchie und Herrschaft des Gefühls, doch sie wissen nicht, wovon sie reden.

Schauen Sie sich doch die linken Aktivisten mit ihren großen Brillen und schmalen Schultern an! Wie lange würden diese zarten Seelchen denn bestehen, wenn die Anarchie, von der sie zu träumen meinen, tatsächlich über sie käme? Sie sind wie kleine Kläffer, die super laut bellen und an der Leine zerren, aber nur solange sie fest an der Leine sind! Abschiebeverhinderer wollen den Rechtsstaat durch die Affektokratie ersetzen, eine Herrschaft der Empörten. Leute, die weinend zusammenbrechen, wenn man sie falsch »gendert«, meinen, in einer Anarchie mit jungen Männern aus den brutalsten Regionen der Welt bestehen zu können.

Es gibt keinen Gott außerhalb der Logik. Es gibt keinen Rechtsstaat außerhalb des Rechts. Diese Aktivisten, die de facto die schrittweise Abschaffung des Rechtsstaats und die Errichtung einer Herrschaft des großen Gefühls anstreben, wir sollten sie liebevoll an die Hand nehmen, und ihnen sagen: »Die Anarchie, von der du träumst, die ist in Wirklichkeit total schlimm. Ich verstehe, was du willst: du willst eine Welt ohne Streit und Ungerechtigkeit. Ich will das auch! Lass uns gemeinsam schauen, ob man das mit Nachdenken und konstruktiven Handlungen nicht besser erreichen könnte.«


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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