Hat uns die jüngste Debatte über mögliche Zurückweisungen von Immigranten an der deutschen Grenze weitergebracht? Daran sind Zweifel angebracht. Der letzte EU-Gipfel hat ein Bekenntnis zu einem besseren Schutz der EU-Außengrenzen abgegeben, das möglicherweise Konsequenzen haben wird, weil eine Mehrheit von Staaten wirklich hinter dieser Absichtserklärung steht; von Italien angefangen über Frankreich bis hin sogar zu Deutschland. Sicher ist das aber nicht. Wie das in weiten Teilen zusammengebrochene System von Dublin III zur Regelung der Zuständigkeiten bei Asylverfahren innerhalb der EU neu geordnet werden könnte, darüber besteht jedoch nicht die geringste Einigkeit. Man kann umgekehrt durchaus bezweifeln, ob die Schließung einzelner deutscher Grenzübergänge für illegale Immigranten irgend einen Effekt hätte. Man müsste dann schon alle Grenzen Deutschlands vollständig sichern. Hier handelt es sich immerhin um mehr als 3.700 km. Vielfach verläuft die Grenze durch offene Felder oder durch unübersichtliche Wälder, wie gegenüber Tschechien. Hier überall Zäune und Bewegungsmelder zu errichten und alle 500 m einen Doppelposten der Bundespolizei aufzustellen, erscheint als weitgehend unrealistisch.
Dennoch nimmt die Diskussion darüber, ob Deutschland überhaupt das Recht hat, Personen die aus anderen EU-Staaten einreisen und die Asyl beanspruchen (vielleicht sogar zum zweiten oder dritten Mal nach früheren Ablehnungen) an der Grenze zurückzuweisen – oder vielleicht auch einfach nur von einem Asylverfahren auszuschließen, was allerdings sehr viel einfacher wäre – , zum Teil recht seltsame Züge an. Es ist natürlich richtig, wenn Experten darauf verweisen, dass Deutschland gerade wegen seiner langen Landgrenzen immer auf Kooperation mit seinen Nachbarn angewiesen ist, und daher allzu provozierende nationale Alleingänge riskant seien. Irritierender ist jedoch die Meinung einer Reihe jüngerer Juristen, auch dann, wenn das Dublin-System ganz zusammenbreche, müsse sich Deutschland immer noch an diese Regeln halten, denn es handele sich eben um EU-Recht und anders als Völkerrecht, gelte dieses auch dann weiter, wenn viele EU-Staaten es ignorierten oder heimlich unterliefen.[1]
Der Konflikt der Rechtskulturen
Man muss einräumen, dass nicht alle Juristen so denken. Der frühere Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier sieht das in einem Gutachten für die FDP-Fraktion im Bundestag offenbar anders.[2]Ähnlich haben sich jüngst der Konstanzer Emeritus Kay Hailbronner – der als exzellenter Kenner des Asylrechtes gilt – und der Göttinger Ordinarius Frank Schorkopf geäußert.[3] Insgesamt herrscht aber namentlich unter jüngeren Juristen doch die Tendenz vor, dem EU-Recht einen uneingeschränkten Vorrang vor dem nationalen Recht, auch dem Verfassungsrecht, einzuräumen und vor allem in Fragen, die Asyl und Immigranten betreffen, zu glauben, dass sich nationale Interessen immer und überall bis in den letzten Halbsatz des Verwaltungsrechtes dem Ideal einer perfekten europäischen Rechtsordnung, sowie einem sehr extensiv ausgelegten Völkerrecht, unterzuordnen haben. Kein geringerer als der amtierende Verfassungsrichter Peter Huber hat in einem öffentlichen Vortrag am 21. Juni dieses Jahres vor der Steuben-Schurz-Gesellschaft, eindrücklich vor dieser Haltung gewarnt (FAZ 23. Juni 2018, S. 4) und darauf aufmerksam gemacht, dass man in anderen europäischen Ländern sehr viel pragmatischer mit EU-Recht umgehe als bei uns. Das zeigte sich in der Tat nicht nur in der Eurokrise, in der unter der Führung Frankreichs alle vorher beschworenen Regeln bei Seite geschoben wurden, um die falsch konzipierte Währung überhaupt noch irgendwie zu retten, sondern eben auch im Asylrecht. Es wurde ja bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Frankreich weiterhin Immigranten, die Asyl beanspruchen könnten, an seiner Grenze zu Italien abweist, obwohl das nach Auffassung vieler Juristen zumindest in Deutschland an sich illegal ist. In Frankreich hat jedoch am Ende die demokratische Willensbildung den Vorrang vor der Meinung von Juristen. Gerichte können der Politik und Verwaltung zwar auch hier Grenzen setzen, aber kaum je explizit zu einer bestimmten Maßnahme oder Politik zwingen, wie das bei uns das Verfassungsgericht durchaus vermag, aber auf der administrativen Ebene auch nachgeordnete Gerichte. Dieser Unterschied verschafft den Bürgern Deutschlands sicherlich ein besonders hohes Maß an Rechtssicherheit – jedenfalls solange die Justiz halbwegs funktionsfähig bleibt, was bei der Strafgerichtsbarkeit freilich schon zum Teil nicht mehr durchgehend der Fall ist. Umgekehrt droht eine Selbstlähmung des gesamten Staates, wenn er bis in die kleinsten Details an ein europäisches Recht gebunden bleibt, das so von vielen anderen Staaten gar nicht angewandt wird, oder sich als hochgradig dysfunktional erwiesen hat. Hier offenbart sich eine der Schattenseiten des spezifisch deutschen Glaubens an das Recht: man setzt darauf, dass sich Probleme entpolitisieren lassen, indem man sie zu rein juristischen Fragen umdefiniert und der Deutung jenes Standes überlässt, der Verwaltung und Politik in Deutschland tatsächlich in einer Weise dominiert wie in kaum einem anderen europäischen Land, der Juristen.
Die Gefahren der Juristenherrschaft in Deutschland
Dass nach 1945 die Kontrollfunktion der dritten Gewalt, der Judikative, gegenüber Regierung und Parlament massiv gestärkt wurde, war natürlich auch eine gut nachvollziehbare Reaktion auf das barbarische Unrechtsregime des Nationalsozialismus. Aber die Richter- und Juristenherrschaft hat in Deutschland sehr viele tiefere Wurzeln. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das 1806 sein Ende fand, war vor allem eine Rechtsgemeinschaft, die zusammengehalten wurde durch die Rechtsprechung der Reichsgerichte, des Reichkammergerichtes in Speyer respektive Wetzlar und des Reichshofrates in Wien. Die Prozesse mochten oft unendlich lange dauern und zum Teil auch im Sande verlaufen, aber sie stellten dennoch eine wichtige Alternative zum gewaltsamen Austrag von Streitigkeiten dar. Vor 1618 misslang der Versuch, die konfessionellen Konflikte im Reich auf den Weg der Rechtsprechung zu verweisen, am Ende dennoch, aber nach 1648 unternahm man einen weiteren Anlauf, der sich diesmal als erfolgreicher erwies, denn ein weiterer Religionskrieg blieb dem Reich nach 1648 erspart, weil man entsprechende Konflikte nun eben juristisch austragen konnte. Zwar stieg Preußen als mächtigster protestantischer Reichsstand nach 1740 weitgehend aus dem Rechtssystem des Reiches aus, schuf aber gerade deshalb eigene Grundlagen für Rechtsstaatlichkeit, zu denen etwa die große Zivilrechtskodifikation des Allgemeinen Landrechtes von 1794 gehörte.
In Frankreich lief die Entwicklung in eine ganz andere Richtung, denn eine umfassende, den Einzelnen auch dezidiert gegen den Staat schützende Rechtsstaatlichkeit gehörte gerade nicht zu den wichtigsten Anliegen der Französischen Revolution, die vielmehr die Standesprivilegien der Juristen des Ancien Régime, die jede echte Reform des Staates fast ein Jahrhundert lang verhindert hatten, radikal beseitigte. Die doch sehr ausgeprägten Unterschiede der politischen Kulturen Deutschlands und Frankreichs sind daher keineswegs nur ein Produkt der Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern in einer langen historischen Entwicklung angelegt. Die Frage ist nur, ob Deutschland mit seiner von Gerichten und Juristen eingehegten demokratischen Willensbildung in einer EU überleben kann, in der sich in den letzten Jahren ganz andere Rechtskulturen durchgesetzt haben, für die es kein Tabu ist, sich auf einen Ausnahmezustand zu berufen, der die normalen rechtlichen Regeln außer Kraft setzt. In der Eurokrise ist das ja schon in exzessiver Weise geschehen, aber Länder wie Frankreich argumentieren auch in der Einwanderungspolitik mittlerweile oft ähnlich. Der Vizepräsident des obersten Verwaltungsgerichtes (Staatsrat / Conseil d’État) in Frankreich, Jean-Marc Sauvé, brachte 2016 unmissverständlich zum Ausdruck: „Als Richter des Conseil d’Etat ist es nicht unsere Aufgabe, über die mögliche Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrags durch die französische Verfassung zu entscheiden. Vielmehr sind wir zunächst einmal Diener der französischen Verfassung. Auf ihr beruht unsere Legitimität.“[4] Würde ein deutscher Jurist das auch so deutlich formulieren? Wohl eher nicht.
In vielen Ländern Europas ist die Chance eines einzelnen Bürgers, Rechtsansprüche gegenüber dem Staat einzuklagen, ohnehin oft recht begrenzt, sehr viel mehr gilt das dann natürlich für Immigranten. Das mag man beklagen, aber es stellt sich doch die Frage, ob Deutschland mit seinem juristischen Perfektionismus als Staat unter den Bedingungen des europäischen Einigungsprozesses, der mittlerweile ganz anderen Prinzipien als denen des deutschen juristischen Denkens folgt, überhaupt noch überlebensfähig ist. Aber auch in Deutschland selber scheitert zunehmend der Versuch diesen Perfektionismus in der Praxis zur Anwendung zu bringen, etwa an den unzureichenden Ressourcen der Verwaltung und der Gerichte, wie man beim BAMF und generell beim Umgang mit dem Phänomen der Massenimmigration, ja sehr deutlich sehen kann.
Wenn der ausgeprägte Anti-Pragmatismus in Verbindung mit einer Ablehnung nationaler Eigeninteressen, der viele jüngere deutsche Juristen auszeichnet, das letzte Wort bleibt, dann könnten sie sich eines Tages mit der Situation konfrontiert finden, dass sie zwar noch ein großartiges EU- und deutsches Rechtssystem in ihren Schriften verteidigen, es aber keinen funktionsfähigen Staat mehr gibt, der dieses Rechtssystem durchsetzen könnte, nicht zuletzt auch deshalb, weil diesem Staat die Bürger abhanden gekommen sind, die Regierung, Verwaltung und Justiz wirklich noch vertrauen, und sie daher loyal unterstützen. Aber ohne Staat nützt einem auch das schönste Rechtssystem nicht, das kann man schon bei Thomas Hobbes, dem großen Staatsphilosophen des 17. Jahrhunderts nachlesen. Im Zustand der staatenlosen Anarchie ist das Leben dann am Ende nur noch nasty, brutish and short, hässlich, brutal und kurz. So weit sind wir noch lange nicht, aber die Entwicklung der letzten Jahre in Deutschland hat gezeigt, dass aus einem relativ wohlgeordneten Staatswesen eben doch relativ schnell ein eher fragiles Gebilde mit wachsenden Schwächen – nicht zuletzt am Ende auch mit gravierenden Legitimationsdefiziten – werden kann.
[1] Siehe etwa https://verfassungsblog.de/weshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann/
[2] https://rp-online.de/politik/eu/verfassungsrechtler-hans-juergen-papier-stuetzt-seehofer_aid-23723335
[3] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus178173960/Asyl-Streit-Deutschland-darf-Schutzsuchende-an-der-Grenze-zurueckweisen.html und https://www.cicero.de/innenpolitik/asylrecht-dublin-asylstreit-cdu-csu-bayern/plus
[4] https://verfassungsblog.de/deutsche-und-franzoesische-verwaltungsgerichtsbarkeit-im-europaeischen-mehrebenensystem-ein-interview-mit-jean-marc-sauve-und-klaus-rennert/ (10. Mai 2016)