In einer Podiumsdiskussion der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 7.4.2016 über den NSU-Komplex bemängelt der Moderator das Fragezeichen (s.o.) und möchte lieber ein Ausrufezeichen haben. Es geht um die Behinderungen der Aufklärung durch den Verfassungsschutz.
Der NSU-Prozess mit Beate Zschäpe als Hauptangeklagter und vier Mitangeklagten geht nach mehr als 4 Jahren schleppend dem Ende zu. Jetzt ist erst mal Sommerpause. Doch das Versprechen von Angela Merkel an die Opfer, die Taten rückhaltlos aufzuklären, scheint weit davon entfernt, eingelöst zu werden. Es ist fraglich, ob der NSU-Prozess noch in diesem Jahr beendet wird.
Der Prozess
Die dem NSU zugeordneten Taten enden nach fast 13 Jahren am 4. November 2011 mit dem Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. „So ist weiterhin ungeklärt, warum dieses Trio all die Jahre nicht entdeckt wurde. Bis hin zu dem ungeheuerlichen Verdacht, dass sie vielleicht gar nicht gefasst werden sollten. Und nach wie vor ist auch ungeklärt, ob der NSU tatsächlich nur aus drei Personen bestand.“ Mit diesen Worten leitete ZDF-Moderatorin Marietta Slomka am 14. Januar 2014 ihre Nachrichten ein.
Dennoch gilt im Prozess nach wie vor die These, der NSU sei lediglich ein singuläres Trio mit einigen wenigen Unterstützern gewesen – und zu keinem Zeitpunkt ein neonazistisches Netzwerk, das unerkannt unter den Augen der bundesdeutschen Behörden agierte, die die Täter lange Zeit im Umfeld der Opfer vermuteten. Ein Trio, das erst aufflog, als Mundlos und Böhnhardt in einem gemieteten Camper zu Tode kamen und Zschäpe sich der Polizei stellte.
Dokumentationen und Ungereimtheiten
Der NSU und sein Prozess wurden ausgiebig dokumentiert. Es gab mehrere Untersuchungsausschüsse, von denen der zweite NSU-Ausschuss des Bundestages gerade zu Ende gegangen ist. Es gab Dokumentationen und Filme im Fernsehen, unzählige kritische Zeitungsberichte, zahlreiche Podiumsdiskussionen und Interviews. Die Beschäftigung damit ist verwirrend: Akten wurden geschreddert oder geschwärzt. Handys und andere Beweismittel wurden „zu spät gefunden“, als „nicht verwertbar“ eingestuft oder „wegen Platzmangel“ vernichtet. Die von den zahlreichen Anwälten der Nebenkläger angeforderten Akteneinsichten und die Vorladung von Zeugen wurden nicht gewährt. Spuren werden für „nicht relevant“ erklärt und versanden. Beschuldigte setzen sich in die Schweiz ab, Zeugen kommen unvermittelt zu Tode. Unzählige Ungereimtheiten und Fragen über Fragen! Und immer wieder Auskunftsverweigerung aus Gründen der „Staatssicherheit“, des „Staatswohls“ und „zum Schutz der Bevölkerung“.
Ich lese, höre und sehe das alles, finde jedoch keinen roten Faden. Die Menge der Informationen wird immer unübersichtlicher. Bis ich vor kurzem auf das Buch „Der Rechtsstaat im Untergrund“ von Wolf Wetzel gestoßen bin, der diese Aufgabe, wie ich finde, sehr gut gelöst hat, indem er exemplarisch Schlaglichter auf einige signifikante und charakteristische Ereignisse wirft, die viele Fragen aufwerfen. Ich werde seinem Beispiel folgen.
Der Mord an Halit Yozgat in Kassel
Halit Yozgat wurde am 6.4.2006 in seinem Internetcafé mit derselben Waffe – einer Ceska Typ 83 – erschossen, mit der seit September 2000 acht Migranten in fünf deutschen Städten getötet wurden. Zur Zeit des Mordes war der damalige Mitarbeiter des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz und V-Mann-Führer Andreas Temme (einstmals „Klein Adolf“ gerufen) vor Ort und surfte auf einem Flirtportal. Er hatte eine Plastiktüte dabei, in dem sich nach Zeugenaussagen ein schwerer Gegenstand befunden haben soll. Er selber meldete sich zunächst nicht als Zeuge; man musste ihn ausfindig machen. Später leugnete er, überhaupt in dem Internetcafé gewesen zu sein. Dann behauptete er, er sei zufällig „der falsche Mann am falschen Ort“ gewesen. Schließlich will er trotz der Enge der Räumlichkeiten keinen Schuss gehört, keinen Toten gesehen und auch den Geruch von Schießpulver nicht wahrgenommen haben, als er beim Verlassen des Cafés 50 Cent auf den Empfangstresen legte, hinter dem Halit Yosgat lag.(Hier eine Rekonstruktion der Szene).
Nach Kassel hatten die rassistisch motivierten Morde ein Ende.
Polizistenmord in Heilbronn
Am 25. April 2007 wird die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn in ihrem Streifenwagen hinterrücks erschossen und ihr Kollege schwer verletzt. Die beiden Polizisten hatten das Auto kurz vor 14 Uhr im Schatten einer alten Pumpstation auf der Theresienwiese geparkt, wo hundert Meter entfernt gerade der Rummel für das Maifest aufgebaut wurde. Als Täter wird das NSU-Trio beschuldigt.
Einfach mal so gefragt: Ist es vorstellbar, dass die Angeklagten die Hunderte von Kilometern nach Heilbronn gefahren sind, um zwei Dienstwaffen zu rauben, obwohl sie schon ein ganzes Waffenarsenal zur Verfügung hatten und auch in ihrer Nähe hätten fündig werden können? Was spricht für ihre Täterschaft? Wenig, sagen auch Juristen und Experten. Noch heute ist ungeklärt, ob Frau Kiesewetter ein Zufallsopfer war, weil die Neonazis es auf ihre Waffe abgesehen hatten.
Clemens Binninger erklärte in dem oben bereits erwähnten Interview, „… dass wir in Heilbronn vier Zeugen haben, die alle unabhängig voneinander kurz nach der Tat blutverschmierte Männer gesehen haben, die in ein Fahrzeug springen. Wenn die Zeugenaussagen zutreffen, woran ich keine Zweifel habe, wären mindestens sechs Personen involviert gewesen. Diese Spur wurde vor 2011 vom LKA auch als sehr relevant eingestuft, dann aber, als der NSU aufflog, wieder verworfen. Ich fürchte, da hat man sich möglicherweise zu früh festgelegt.“
Ein ausführlicher Versuch einer Rekonstruktion der Geschehnisse ist im STERN nachzulesen.
Zeugensterben
Seit einigen Jahren sterben wichtige Zeugen aus der Naziszene. Florian Heilig, der in der Heilbronner Szene aktiv war offiziell durch Selbstverbrennung, Melisa Marijanovic offiziell an einer Lungenembolie als Folge einer Knieprellung und Thomas Richter (alias Corelli), offiziell an einer unerkannten Diabetes. Florian Heilig verbrennt acht Stunden vor seiner Zeugenvernehmung in seinem Auto – Suizid aus Liebeskummer, so die offizielle Version. Wolf Wetzel nimmt sich in seinem Buch dieses Falles näher an und beschreibt aufschlussreiche Details über den 21-Jährigen, der aus der Szene aussteigen wollte, und bringt damit viele Belege für seinen Zweifel an der Selbstmordthese. Florian Heilig hatte z.B. von einer weiteren neonazistischen Terrorgruppe (NSS – NeoSchutzStaffel) berichtet. Bei seinen Aussagen zum Mordanschlag auf die Polizisten in Heilbronn nannte er mehrere Personen, die beteiligt gewesen sein sollen. Inzwischen ist die Zahl der verstorbenen Zeugen noch weiter gestiegen.
Das Ende des NSU
Der Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am 4. November 2011 in einem Camper gibt nicht weniger Rätsel auf als die NSU-Morde. Hier der Hergang in Umrissen: Nach ihrem Überfall am Vormittag auf eine Bankfiliale in Eisenach (Beute 72000 Euro) flüchten sie auf Fahrrädern, werden kurz darauf von einem Zeugen in der Nähe eines Supermarktes beobachtet, wie sie die Räder in einem geparkten weißen Wohnmobil verstauen und losfahren. Die Polizei ist bereits alarmiert. Später wird der Camper in einer ruhigen Wohngegend in Eisenach-Stregda parkend entdeckt. Warum eigentlich hatten die Flüchtenden dort bereits eineinhalb Stunden gestanden, obwohl sie die Möglichkeit hatten, in dem Camper über Funk die Bewegungen von Polizei und Feuerwehr zu verfolgen? Zwei Polizisten nähern sich. Es fällt ein Schuss. Die Polizisten gehen in Deckung. Es fällt ein zweiter Schuss, dann ein dritter. Deckenverkleidung fliegt hoch – das Wohnmobil steht in Flammen. Inzwischen ist die Feuerwehr gekommen und löscht, macht die üblichen Fotos, die Einsatzleiter Michael Menzel jedoch gleich nach seinem Eintreffen beschlagnahmt. Die Speicherkarte wird gelöscht. Die Feuerwehrleute wollen später keine Waffen im Inneren gesehen haben, aber das kann ohne Fotos nicht mehr rekonstruiert werden. Menzel hat jedoch die beiden Leichen und etliche Waffen gesehen – nach seinen Aussagen war eine davon die Dienstwaffe von Michèle Kiesewetter. Anschließend wird der Wagen entgegen aller Gepflogenheiten über eine 30 bis 40 Grad schräge Rampe auf die Ladefläche eines Abschleppwagens einer privaten Firma gezogen, wobei alle Beweismittel – die Leichen, Gegenstände, Brandschutt und Asche, Löschwasser, Waffen usw. durcheinander fliegen und die ursprüngliche Spurenlage zerstört wird. In der Halle des Abschleppunternehmens wird der Camper dann ohne Sicherheitsvorkehrungen erst mal abgestellt. Menzel erklärt das unglaubliche Vorgehen im Prozess damit, dass man sich Sorgen um ein eventuelles Aufkommen einer Schlechtwetterfront gemacht habe.
Widersprüche und Ungereimtheiten zur These „erweiterter Selbstmord“
1) Nur wenige Sekunden – etwa 20 – sollen zwischen dem Schuss liegen, mit dem Mundlos Böhnhardt tötete, und dem Schuss, mit dem er sich dann selber umbrachte und dabei noch das Feuer im Wohnmobil legte. Ist das möglich? 2) Bei der Obduktion der Leichen am 5.11. wiesen ihre Lungen trotz des Brandes keine Rußpartikel auf, was jedoch nach Expertenmeinung für wissenschaftlich möglich gehalten wird. 3) Die tödlichen Schüsse sollen aus einer Pumpgun abgegeben worden sein. Also aus einem Repetiergewehr. D. h., die Hülsen werden erst ausgeworfen, wenn nachgeladen wird. Mundlos musste also wieder nachladen, nachdem er Böhnhardt umgebracht hatte, um sich selber zu töten. Da man jedoch zwei Hülsen am Boden fand, würde das bedeuten, dass Mundlos nach seinem Selbstmord noch einmal nachgeladen hat. Aber Menzel hatte auch dafür eine Erklärung: Durch ein Stauchen der Pumpgun, etwa durch den Aufprall auf dem Boden, könne die verbrauchte Munition auch ohne Nachladen aus dem Schacht gefallen sein.
Die Frage nach einem „dritten Mann“ drängt sich jedoch auf. Und es gab tatsächlich zahlreiche Hinweise auf eine dritte Person, denen jedoch nicht weiter nachgegangen wurde. Die offizielle Version hält sowohl am erweiterten Selbstmord als auch an der 2-Täter-Version fest. Hier der gesamte Vorgang dargestellt in der ZDFinfo-Doku „Tod im Wohnmobil„.
Am 11.11.2011 – mitten im Kölner Karnevalstrubel – läuft beim Bundesamt für Verfassungsschutz außerhalb der Dienstzeit die „Aktion Konfetti“ an: In großem Umfang werden Akten zu V-Leuten der Thüringen Neonaziszene in den Jahren 1997 bis 2003 geschreddert. Später hieß es, in den Akten sei kein brisantes Material gewesen.
Auf Widersprüche hinweisen!
13 Jahre haben die Mörder eine Blutspur im ganzen Land hinterlassen. 13 Jahre blieben sie bis zu ihrem Tod unerkannt, obwohl es – so kann man durch zahlreiche Medienveröffentlichungen erfahren – Möglichkeiten gegeben hätte, sie zu stellen. Immer wieder werden die Fragen laut: Waren die Dienste so unfähig? Oder waren sie involviert? Die belegbaren Widersprüche in der offiziellen Version der NSU-Mordserie sind zahlreich. Doch die Anwälte der NSU-Opfer sind sehr aktiv und weisen immer wieder auf die vielen Ungereimtheiten hin.
Wie viel inzwischen in unserem Staat geheim ist, zeigt sich gelegentlich, wenn sich eine kleine Spalte öffnet. Im Zusammenhang mit der Absage des Länderspiels in Hannover vier Tage nach den Terrorangriffen in Paris während des Spiels der DFB-Elf gegen Frankreich im November 2015, erklärte Innenminister de Maizière, er könne nicht alles offen legen, denn „ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“ Er bitte die Öffentlichkeit um einen Vertrauensvorschuss. Kann er dieses Vertrauen überhaupt noch einfordern?
Was den NSU betrifft, ist allzu vieles suspekt und im Dunkeln geblieben. Was wir brauchen ist Offenlegung und Aufklärung der Widersprüche. Fangen wir einmal mit dem in diesem Zusammenhang hoch interessanten Interview an, das ein Zeitzeuge mit Insiderwissen, Altkanzler Helmut Schmidt, 2007 dem ZEIT-Chef Giovanni di Lorenzo gab:
ZEIT: Gab es denn eine besondere Form des Terrorismus in Deutschland durch Baader, Meinhof und die anderen?
SCHMIDT: Ich habe den Verdacht, dass sich alle Terrorismen, egal, ob die deutsche RAF, die italienischen Brigate Rosse, die Franzosen, Iren, Spanier oder Araber in ihrer Menschenverachtung wenig nehmen. Sie werden übertroffen von bestimmten Formen des Staatsterrorismus.
ZEIT: Ist das Ihr Ernst? Wen meinen Sie?
SCHMIDT: Belassen wir es dabei. Aber ich meine wirklich, was ich sage.