Auch knapp vier Jahre nach der Zuwanderung von Millionen Menschen aus dem arabischen und afrikanischen Sprachraum, darunter die meisten Muslime, muss sich Deutschland von Seiten der Behörden und Verwaltungen immer wieder neu justieren. Die Verwaltungsvorschriften und Rechtsordnungen haben in unserem Rechtssystem weiterhin Bestand, die Zugewanderten sollten sich hier integrieren und unsere Rechtslage kennenlernen, sowie nach den hier herrschenden Gesetzen und Pflichten leben. Nichtsdestotrotz, werden alle Verwaltungen und auch Amtsgerichte immer wieder mit interkulturellen sowie islamischen Gesetzeslagen und daraus resultierenden Problemen und Weltanschauungen konfrontiert. Einige Informationsveranstaltungen hierzu laufen immer wieder an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen, in Ludwigsburg. Mit Professor Christian F. Majer sprach Giovanni Deriu.
Giovanni Deriu: Professor Majer, wir leben momentan in einer schnelllebigen Zeit, nicht nur wegen der vielfältigen Social Media, sondern auch wegen der ständigen Veränderungen in der Arbeitswelt und auch in den einzelnen Kulturen. Juristische Rahmenbedingungen regeln das Leben, den Alltag. Welches Projekt steht bei Ihnen momentan ganz oben?
Prof. Christian F. Majer: Derzeit arbeite ich an einer Publikation zum Thema „Polygamie in Deutschland“. Diese baut auf der Rechtsgrundlage im Freistaat Bayern auf und soll eingedämmt werden, auch, weil die Polygamie der Gleichberechtigung von Mann und Frau widerspricht. Daneben befinde ich mich in Planung einer Neuaflage unsers Projekts „Rechtskurse für Geflüchtete“, das wir mit den Gemeinden und Landkreisen zusammen anbieten und auch im nächsten Jahr wieder auflegen wollen, dann erweitert um die Themen „Staat, Geschichte, Kultur“. Die nächste Tagung zu Migration und Integration im Januar muss ebenfalls in den nächsten Monaten geplant werden.
Das Thema der Tagung war, der Umgang mit dem Islam in der Gesellschaft, im Recht und in der Verwaltung. Stehen diese Debatten und Diskussionen gerade verstärkt am Anfang, oder laufen diese Forschungen und Analysen bereits seit Jahren, nur eben nicht so sehr im Mittelpunkt, wie, vielleicht seit der Zuwanderung seit 2015? Denn eine moslemische „Community“ gibt und gab es ja bereits mit der ersten Gastarbeiterwelle in den 60ern und 70er-Jahren – da verlief nur alles unaufgeregter, bzw. wer bekam schon Rechtsurteile mit, in denen auch das islamische Recht herangezogen wurde?
Schwer zu sagen. Die Gastarbeiter kamen mehrheitlich aus Ländern, die ein dem deutschen sehr ähnliches Rechtssystem haben. Das gilt auch für die Türkei, deren Rechtssystem im wesentlichen europäischen entspricht und sich darin von den meisten anderen muslimisch geprägten Staaten unterscheidet. Das gilt insbesondere für das Familienrecht. Nun haben wir eine starke Zuwanderung aus Staaten, deren Rechtssystem viel stärker vom klassischen islamischen Recht geprägt ist, weshalb diese Fälle nun deutlich häufiger sind.
Konkret gefragt, was hat sich seit der Flüchtlingszuwanderung 2015, bei der viele Männer aus dem arabischen Raum und Nahen Osten zu uns kamen, im Rechtssystem verändert? Mussten und müssen sich deutsche Richter und Staatsanwälte nun selbst interkulturell fortbilden, oder eben auf Fachleute wie sie beide zurückgreifen, um bis in die kleinsten Kommunen am Amtsgericht, das islamische Recht, die Kultur von straffälligen Syrern, Irakern oder Afghanen, nachvollziehen und gegebenenfalls in ihre Urteilsbegründung, einfließen zu lassen?
Die Kenntnis der kulturellen Hintergründe ist sicherlich ein Vorteil und ein wichtiger Aspekt. Eine völlig andere Frage ist es, ob man sie bei der Rechtsanwendung berücksichtigen soll. Die Kenntnis aber derjenigen Rechtsgrundsätze, die sich im Privatrecht mit der Anwendung ausländischen Rechts befassen (man nennt sie internationales Privatrecht) wird tatsächlich immer wichtiger. Was früher eine Materie für Exoten war, ist heute in der Praxis vieler Standesämter und Amtsrichter Alltag.
Wann genau passiert das? Und, wir liegen doch richtig, wenn wir behaupten, unsere Gesetze, unser Rechtssystem, das ja auf dem Grundgesetz basiert, wird für andere ausländische Rechtssysteme nicht aufgeweicht?
Definitiv, und darauf müssen wir verstärkt achten: unsere Grundwerte gelten in jedem Fall, die Toleranz für fremde Kulturen endet hier. Leider wird das im Alltag häufig missachtet. Es ist unsere Aufgabe, die Grundwerte der Rechtsordnung, insbesondere die Grundrechte, auch und gerade für Menschen mit Migrationshintergrund durchzusetzen, nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber der eigenen Familie. Insbesondere die Eheschließungsfreiheit und die sexuelle Selbstbestimmung müssen nicht nur vom Staat respektiert, sondern vor allem auch gegenüber diese missachtenden Dritten durchgesetzt werden. Das gilt nicht nur für rechtliche Bedrohungen, sondern auch für faktische. Es kostet Mühe und Kraft, die Widerstände sind teilweise massiv. Es ist aber gefährlich, wegen Bequemlichkeit oder falsch verstandener Toleranz Abstriche vom Grundrechtsschutz zu machen.
Verstehen Sie die diffusen Ängste vieler Bürger, der Islam wolle sich seine Rechte in Europa passend machen, oder sind das „unbegründete“ Ängste? Eine „Lobby“, Politiker, möchte ja auch immer Dinge für ihre Klienten, erreichen. Dass ausländische Rechtssysteme aber innerhalb der EU oder am Europäischen Gerichtshof (EuGH) bereits zur Rechtswahl offen sind, ist doch richtig? Gilt das auch für muslimisches, oder afghanisches Recht genauso wie für Länder der EU?
Ich kann die Sorgen dieser Bürger gut verstehen und teile sie, sofern es um den politischen Islam („Islamismus“) geht, welcher den freiheitlich-säkularen Staat nicht respektiert und mit unseren Grundwerten unvereinbare Vorstellungen hat; er ist weltweit stark vertreten. Wir sollten aber nicht den Fehler begehen, das auf den Islam insgesamt zu beziehen. Es gibt gerade in Deutschland auch viele Muslime, die unsere Grundwerte akzeptieren und sie im Alltag leben. Diese Muslime sollten wir unterstützen.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage: tatsächlich entspricht es einer aktuellen Tendenz in der europäischen Gesetzgebung, Rechtswahl verstärkt zuzulassen. Das kann auch das afghanische Recht betreffen. Allerdings darf auch hier das Ergebnis nicht gegen unsere Grundwerte verstoßen („ordre public“). Vereinbaren die Parteien ein Recht, das eine Zustimmungspflicht des Mannes zum Scheidungsbegehren der Frau vorsieht, ist das unbeachtlich: die Frau kann sich trotzdem ohne Zustimmung scheiden lassen. Das Problem besteht darin, dieses Recht faktisch durchzusetzen, darauf müssen unsere Bemühungen gerichtet sein.
Verkompliziert dies Vieles in der akkuraten Rechtsprechung, oder vereinfacht es die Sachlage?
Diese Tendenz vereinfacht eher die Sachlage, da bisher überwiegend auf die Staatsangehörigkeit abgestellt wurde; jetzt gilt bei fehlender Rechtswahl (diese dürfte selten sein) der gewöhnliche Aufenthalt. Die Fälle, in denen tatsächlich ausländisches Recht ermittelt werden muss, sind also weniger als bei Fortbestehen des alten Rechts.
Herr Majer, Sie sind interkulturell auch bewandert, kennen sich aus, zudem kommt Ihre Frau aus dem lateinamerikanischen Raum. Kann man von Kulturen sprechen, die sich doch mehr gleichen, im so genannten Werte- und Rechte-Kanon?
Für Kulturen insgesamt kann ich nicht sprechen, aber für Rechtsordnungen. Und hier bestehen tatsächlich erhebliche Unterschiede vor allem zu denjenigen Rechtsordnungen, die durch das klassische islamische Recht geprägt sind. Das betrifft vor allem die Ungleichbehandlung von Mann und Frau sowie der von Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit. Die Ungleichbehandlung von Mann und Frau ist allerdings kein spezifisches Problem des klassischen islamischen Rechts, sie kommt auch in anderen recht patriarchalisch geprägten Kulturen vor.
Sie haben in Ihrem Vortrag von islamischer Scheidung gesprochen, davon, dass wir diese in bestimmten Fällen akzeptieren sollten. Das müssen Sie näher erläutern.
Ich meine natürlich nicht, dass sich Muslime in Deutschland islamisch scheiden lassen und wir dies dann akzeptieren. In Deutschland gilt das Scheidungsmonopol der deutschen Gerichte auch für Muslime.
Anderes gilt aber für im Ausland vollzogene Scheidungen. Wenn ein Muslim oder eine Muslimin in Deutschland heiraten möchte, schon einmal verheiratet war und die Ehe durch eine islamische Scheidung aufgelöst wurde, sollten wir das in der Regel akzeptieren, sofern die Ehegatten schon lange getrennt leben.
Das problematische an der islamischen Scheidung ist nicht, dass sich ein Ehemann ohne Grund von seiner Ehefrau trennen kann, sondern dass diese genau das nicht kann. Ersteres kann ein Mann – nach Ablauf einer gewissen Zeit – auch in Deutschland. Er verstößt sie zwar nicht durch Ausspruch einer Scheidungsformel, kann sich aber von ihr trennen und normalerweise nach Ablauf von einem Jahr scheiden lassen. Das Problem ist, dass Frauen dieses Recht in vielen Rechtsordnungen nicht haben (und wenn, dann nur verbunden mit erheblichen Nachteilen vermögensrechtlicher und kindschaftsrechtlicher Art). Das bekommen wir aber nicht dadurch in den Griff, dass wir diese Scheidungen pauschal nicht anerkennen.
Sie haben das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit erwähnt. Was hat es damit auf sich?
Im klassischen islamischen Recht, dem in diesem Punkt nahezu alle islamisch geprägten Staaten folgen, darf eine Muslimin keinen Nichtmuslim heiraten; der Muslim hingegen darf eine Christin, Jüdin oder Zoroastrierin heiraten. Das ist ein eklatanter Widerspruch zu unseren Grundwerten, nämlich zu unserem absoluten Diskriminierungsverbot der Religionszugehörigkeit nach Art.3 III GG. Die Lösung unserer Rechtsordnung ist hier klar und einfach: wir wenden diesen Grundsatz nicht an. In Deutschland darf eine Muslimin jeden Mann oder jede Frau unabhängig von ihrer Religion auch dann heiraten, wenn ihr Heimatrecht ihr das nicht gestattet.
Die Probleme liegen auch hier wieder im Tatsächlichen: nach einer Umfrage der Universität Tübingen halten eine solche Heirat fast alle der befragten Muslime hinsichtlich ihres Umfeldes für problematisch, d.h. glauben, dass ihr Umfeld damit Schwierigkeiten habe. Man muss also diese Diskriminierung in faktischer Hinsicht beseitigen und die Eheschließungsfreiheit schützen. Vor allem dürfte das einen wesentlichen Störfaktor im Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen darstellen und eine Quelle von Aversionen gegen den Islam. Letztlich ist es auch ein guter Gradmesser dafür, zu sehen, ob eine bestimmte Strömung im Islam tatsächlich unsere Grundwerte respektiert.
Was wünschen Sie sich zum Thema Islam? Wie sollen wir mit diesem Phänomen umgehen?
Speziell zum Thema Islam wünsche ich mir eine sachliche und differenzierte Debatte jenseits von pauschaler Verteufelung und unkritischem Appeasement. Wir müssen stärker zwischen den Strömungen im Islam unterscheiden, welche mit unseren Werten vereinbar sind, und solchen, die das nicht tun. Erstere haben Respekt und Anerkennung, letztere Bekämpfung verdient. Unsere Tagungen dienen der Aufklärung allgemein.
Christian F. Majer, 39, verheiratet, war vor seiner Tätigkeit als Professor an der Hochschule in Ludwigsburg als akademischer Mitarbeiter und Rechtsanwalt tätig. Professor Majer firmiert als Direktor des Instituts für internationales und ausländisches Privat- und Verfahrensrecht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen, Ludwigsburg. Außerdem ist der passionierte Wanderer mit seinem Institut dafür bekannt, fakultätsübergreifende Tagungen und Seminare mit seinen Kollegen zu organisieren. Gefragt ist Christian F. Majer besonders bei Rechtsfragen zur Anwendung ausländischen Rechts. Professor Majer hat zudem mit seinen Studierenden gemeinsam ein „Rechtsseminar für Geflüchtete“ konzipiert.
Giovanni Deriu, Dipl. Sozialpädagoge, Freier Journalist, ist seit 20 Jahren in der (interkulturellen) Erwachsenenbildung tätig.