Die ersten Prognosen und Hochrechnungen zur jüngsten NRW-Landtagswahl waren kaum über die Bildschirme geflimmert, und schon stand für so ziemlich alle „Experten“ fest: Sieger Nummer 1 sind die Grünen, Sieger Nummer 2 ist die CDU. Verlierer Nummer 1 ist die FDP, Verlierer Nr. 2 ist die SPD. Völlig ignoriert wird dabei bis hinein in die Kommentare am Folgemorgen: Im Sinne des Volkssouveräns, also im Sinne demokratischer Mitbestimmung, gibt es überhaupt keinen Gewinner. Denn der größte Verlierer ist die Demokratie insgesamt. Nur 55,5 Prozent der fast 13 Millionen Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben. Konkret: Von 12,964 Millionen Wahlberechtigten wählten 5,763 Millionen gar nicht. Zum Vergleich: Im Jahr 2017 hatte es in NRW 13,164 Millionen Wahlberechtigte gegeben, davon haben 4,587 Millionen auf ihr Stimmrecht verzichtet. Das hatte damals eine Wahlbeteiligung von 65,2 Prozent ergeben.
Spätestens jetzt aber, nach der sogenannten kleinen Bundestagswahl im bevölkerungsreichsten deutschen Land, sollten alle Parteien in Sack und Asche gehen. Denn umgerechnet auf die Wahlberechtigten haben die Parteien in NRW am 15. Mai 2022 folgende Prozente errungen:
Zur Erinnerung: Bei Landtagswahlen wählen immer weniger Stimmberechtigte als bei Bundestagswahlen (zuletzt 2021: 76,6 Prozent). Aber auch bei Landtagswahlen sind immer mal wieder Wahlbeteiligungen von 70 Prozent und mehr möglich. Den entsprechenden bundesweiten Tiefpunkt hat NRW 2022 allerdings noch nicht ganz erreicht. Denn im Jahr 2014 wählten in Thüringen nur 52,7 Prozent, in Brandenburg 47,9 Prozent und in Sachsen 49,1 Prozent.
Der wahlmüde deutsche Michel lässt mit sich von 28 oder maximal 34 Prozent der Wahlberechtigten regieren
Was bedeutet diese aktuell äußerst niedrige Wahlbeteiligung in NRW für theoretisch mögliche Regierungskonstellationen? Folgende Prozentanteile der Wahlberechtigten würden die möglichen Bündnisse auf sich vereinen:
Das kann es nicht sein. Gewiss, es ist der deutsche Michel selbst schuld, wenn womöglich weniger als ein Drittel des Wahlvolkes darüber entscheiden, wer beziehungsweise wer wie für vier oder fünf Jahre regiert. Aber ist es allein die Schuld des deutschen Michels? Nein, die Politikverdrossenheit und die Wahlmüdigkeit des deutschen Michels haben gravierende, ja offensichtliche Gründe, für die die Parteien die Verantwortung tragen. Kurz: Deren Profil hat sich bis zu Unkenntlichkeit abgeschliffen. Lassen wir die Partei ganz rechts (AfD) und ganz links („Linkspartei) mal außen vor: Es bleiben vier Parteien (CDU, SPD, Grüne, FDP), die programmatisch zu einer Art Blockparteien mutiert sind. Programmatisch nahezu austauschbar: Alle sind sie für Transformation, Zuwanderung, Integration, Inklusion, Gender, Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit usw. Unterschiede im Bereich Bildung, dem Herzstück des Föderalismus, gibt es praktisch nicht. Und jetzt sind auch alle gemeinsam für Waffenlieferungen an die Ukraine, Sanktionen gegen Putin usw.
Merkelianer ante portas?
Das heißt: Alle haben sie die Merkel-Methode der „asymmetrischen Demobilisierung“ verinnerlicht. Bloß keine Kante zeigen, Kontroversen meiden! Alle setzen auf allgemeinen, vor allem öffentlich-rechtlich- und presse-mainstreamigen Konsens. Der Wähler ist paralysiert – vor allem auch der Wähler vormals gegnerischer Parteien.
Ergrünte Merkelianer beherrschen das besonders gut, Daniel Günther (CDU) etwa. Bloß nirgends anecken! Alle ins Boot holen, auch Grüne und FDP, selbst wenn nach den Wahlen vom 8. Mai in Schleswig-Holstein Zweierkoalitionen möglich wären. „Genosse Günther“ ist sein Spitzname geworden. Immerhin hatte er für ostdeutsche Länder schon auch mal Koalitionen mit der mehrmals namentlich gehäuteten Ex-SED empfohlen. Im Land zwischen Deichen bekam er ob seiner Wendigkeit übrigens auch nur eine Wahlbeteiligung von 60,4 Prozent.
Und nun Hendrik Wüst (CDU) in NRW. Auch er ist für alles offen. Symptomatisch ist, wie er binnen einer Woche mal gegen einen öffentlichen Muezzin-Ruf war, dann dafür. Den Grünen in seinem Lande wird es gefallen und sie werden wohl mit ihm ins Koalitionsbett steigen. Also könnte gelten – Merz hin oder her: Merkelianer ante Portas?
Dass die SPD in ihrem vormaligen Stammland im freien Fall ist und mit 26,7 Prozent das seit Bestehen des Landes NRW schlechteste Ergebnis einfuhr, muss man nicht erwähnen. Wie ein SPD-Co-Vorsitzender Klingbeil daraus einen Regierungsauftrag ableiten mag, bleibt sein Geheimnis. Derselbe Klingbeil hatte es im September 2021 ja auch kategorisch ausgeschlossen, dass der Zweitplatzierte Laschet für die CDU eine Jamaika-Koalition bilden könnte.
Die selbst gewählten Traumata der FDP
Und FDP? Es läutet wieder einmal das Sterbeglöckchen für sie. Diesmal ziemlich laut. Im Bund ist sie reichlich unsichtbar. Abgesehen von Lindner, der wieder einmal als Steuersenker gesprungen und dann als Schuldenmacher zum Bettvorleger für SPD-Kanzler Scholz wurde. Die FDP scheint vergessen zu haben, wie sie 2013 mit 4,8 Prozent aus dem Bundestag flog, nachdem sie sich trotz ihrer im Jahr 2009 erzielten 14,6 Prozent restlos der Merkel-CDU unterworfen hatte. Und sie scheint vergessen zu haben, dass der fast schon legendäre Lindner-Spruch vom November 2017 gar nicht mal so falsch war: „Lieber nicht regieren als falsch regieren.“ Wenn die FDP nicht von allen guten Geistern verlassen ist, wird sie sich in NRW also einer NRW-„Ampel“ verweigern. Was dann allerdings auf „Kiwi“ (eine CDU-Grün-Koalition) hinauslaufen wird. Mit etwas umgekehrten Vorzeichen zum drittgrößten Bundesland Baden-Württemberg, wo die CDU der Juniorpartner der Grünen ist. Was der Bayer bzw. Franke Söder dann 2023 vorhat? Da seine Umfrage- und Beliebtheitswerte auch nahe am Kellerzugang sind, könnte es im bevölkerungsmäßig zweitgrößten Bundesland dann auch „Kiwi“ werden. Könnten diese Trends im Sinne US-amerikanischer Swing-States Vorboten für eine zukünftige Bundesregierung sein?